Lilly Blaudszun: Die 18-Jährige, der die SPD-Oberen vertrauen
Sie twittert, als sei die SPD schon erneuert, Funktionäre wollen Selfies mit ihr. Kann Lilly Blaudszun die SPD wieder fit machen? Oder gar ... cool?
Zwei Tage nachdem die SPD-Basis Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken zu ihren neuen Parteivorsitzenden gewählt hat, zwei Tage nachdem sie damit begonnen hat, so lautet der Tenor der Hauptstadtpresse, „sich selbst abzuschaffen“, postet eine Frau ein Selfie mit einem Mann.
Die Frau ist 18 Jahre alt, sie ist in der SPD seit drei Jahren, sie hat bei dieser Wahl, wie fast alle Jusos, für Walter-Borjans und Esken gestimmt und für sie geworben. Ihr Name ist Lilly Blaudszun.
Der Mann ist 61 Jahre alt, er ist Vizekanzler und wäre gerne selber Parteivorsitzender geworden. Sein Name ist Olaf Scholz.
Sie schreibt: „Ich präsentiere: das süßeste Bild, das von Olaf Scholz existiert.“ Tatsächlich sieht Olaf Scholz darauf nicht aus, wie er sonst aussieht, schmallippig, ernst, spröde. Olaf Scholz lächelt wie ein gütiger Onkel, mit gemütlichen Lachfalten um die Augen.
Das Bild transportiert eine Botschaft: Wir halten zusammen, gerade jetzt. Und es passt gut, dass diese Botschaft von Blaudszun stammt.
Wer will heute noch in der SPD Karriere machen? Wie könnte diese Partei ihr Image aufpolieren? Lilly Blaudszun ist die Antwort.
Ihr schärfstes Schwert: das Selfie
An einem Mittwoch, ein paar Tage vor der Wahl, sitzt sie im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestags in einer Sitzgruppe auf einem Flur. Grünes Polo-Shirt, Blazer, in der Hand einen BigMac. Blonde Haare bis zu den Schultern, Nasenpiercing, drei Tattoos. Sie soll gerade die Frage beantworten, wie man das eigentlich macht, eine Nachwuchshoffnung der SPD zu werden, aber sie beißt jetzt erst mal hinein in dieses Ungetüm von einem Burger. Soße kleckert, sie wischt sich den Mund ab mit einer Serviette. „Big Mac ist Beste“, sagt sie. Sie nimmt ein paar Pommes und taucht sie in den Ketchup. Ihr Handy blinkt auf, sie guckt beiläufig auf Twitter-Nachrichten, checkt Instagram.
Sie sagt: „Das mit der Nachwuchshoffnung schreiben gerade viele. Ich gehe halt sehr locker an Politik ran, habe eine freche Art. Das schafft eine hohe Aufmerksamkeit über die sozialen Medien.“
Als der Spiegel nach der Wahl eine minutiöse Aufarbeitung des Abends bringt, steht darin auch dieser Absatz: „Eine Jungsozialistin bringt eine Runde Pfefferminzlikör, zack, runter damit. Muss ja. Heute wird gefeiert, morgen wartet Arbeit.“ Lilly Blaudszun twittert den Artikel mit dem Kommentar: „Mama, ich bin im Spiegel.“
10.000 Leute folgen ihr bei Twitter, 7.000 bei Instagram. Ihr schärfstes Schwert: das Selfie. Sie knipst und knüpft dabei Kontakte. Mit Manuela Schwesig, der Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns, schreibt sie fast täglich. Gegen Generalsekretär Lars Klingbeil stichelt sie im Netz ironisch. So prominent ist sie mittlerweile, dass sich etwas gewandelt hat: Musste früher sie um Selfies bitten, wollen Parteigrößen inzwischen eins mit ihr, zuletzt Ralf Stegner. Oder Katarina Barley fragt per Tweet, da fährt sie gerade durch Blaudszun Heimatstadt Ludwigslust, ob sie aussteigen solle. Die antwortet: „Wir machen mal 'ne Tour!“
Einen BigMac zu essen steht für Klimaignoranz
Von Sascha Lobo, Internet- und Welterklärer, stammt der Satz: „Jede soziale Technologie erzeugt als Nebeneffekt genau die Heranwachsenden, die den Herausforderungen der Zukunft am besten gewachsen sein werden.“ Lilly Blaudszun nutzt diese Plattformen, wie das vielleicht nur 18-Jährige können: schnell, selbstironisch, natürlich.
Mussten sich Politiker früher lange aufwärts buckeln, Klinken putzen auf Parteitagen, mühsam Kontakte sammeln, kennt Lilly Blaudszun jetzt schon jeden und jede, der oder die in der Partei etwas zu sagen hat. Gerade wählte die „Zeit“ sie unter die „100 wichtigsten, jungen Ostdeutschen“. Neben Toni Kroos und Annalena Baerbock.
Manche sagen, Blaudszun sei eine karrieristische Politstreberin, Ziel: Bundestag plus X. Andere finden, sie produziere bislang vor allem heiße Luft. Unter den Zeit-Artikel kommentiert ein User: „Gab's da bisher außer Twitter, Selbstvermarktung und eigener Meinung zu ... schon irgendetwas Geleistetes, worüber es sich lohnt zu berichten?“ Lilly Blaudszun sagt: „Meckern kann jeder. Ich will mithelfen, dass die SPD wieder cool wird.“
Vielleicht ist der BigMac in ihrer Hand ein gutes Beispiel. Ein Medienberater würde ihr wohl davon abraten, vor einem Journalisten einen BigMac zu essen. Weil ein BigMac ein Symbol ist und Reporter nach Symbolen lechzen. Einen BigMac zu essen, das steht in Zeiten von Fridays for Future auch für Klimaignoranz. Andererseits ist es die normalste Sache der Welt und gerade deswegen womöglich das Ungefiltertste, was eine Politikerin im Paul-Löbe-Haus seit langer Zeit getan hat.
„Mit der Kirche ist es wie mit der SPD“
Geboren wird sie 2001 in Ludwigslust, Mecklenburg, da ist der Osten längst nicht mehr der Osten, aber irgendwie auch schon, findet Blaudszun. Sie erinnert sich an eine „wunderschöne Kindheit“, oft sei sie bei ihrer Oma auf Rügen gewesen, wo sie Unmengen von Muscheln aus dem Meer gefischt habe. Sie macht damals Sport, „ungefähr jede Sportart, die es gibt“. Mit zwölf tritt sie dem Jugendrat bei, einem Mitbestimmungsgremium in Schwerin. Mit 15 macht sie ein Praktikum bei einem Landtagsabgeordneten, dort trifft sie den heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, damals noch Außenminister. Blaudszun erinnert sich, wie Steinmeier lange mit ihr spricht, ihr später sogar einen Brief schickt. Sie tritt seinetwegen in die SPD ein, er steht als Werber in ihrem Ausweis.
Das erste Tattoo ließ sie sich im Juni stechen, direkt nach ihrem 18. Geburtstag. Es ist ein Nirvana-Zitat, „come as you are“. Das Zitat drücke ihre Grundeinstellung zum Leben aus, sagt Blaudszun. „Das jeder so leben kann, wie er will. Ich halte es aber auch für ein Motto, das der SPD gut steht. Wir sollten dafür sorgen, dass jedes Kind, egal woher es kommt oder wie reich die Eltern sind, das werden kann, was es will.“
Das zweite Tattoo zeigt eine Welle auf ihrem Arm, darüber der Schriftzug „MV“. Blaudszun sagt, sie liebe Mecklenburg-Vorpommern.
Das dritte schließlich prangt auf ihrem Knöchel, es ist das unauffälligste. Es zeigt ein kleines Kreuz. „Mit der Kirche ist es ein bisschen wie mit der SPD“, sagt Blaudszun. „Die Grundidee, dass dir jemand zur Seite steht, egal wie schlecht es dir geht, finde ich super. Nur sollte man diese Grundidee vielleicht so langsam mal ins 21. Jahrhundert schubsen.“
In der Pause Kippen holen in Polen
SPD, Kirche, Heimat. Blaudszuns Werte sind alte. Es ist nur die Art, wie sie diese Werte ausdrückt, die neu ist.
Im Frühjahr 2019, zur Europawahl, erfindet sie den Hashtag #HockenistdieAntwort, unter dem Politiker und Bürger Selfies posten können, auf denen sie die sogenannte Russenhocke machen, ein Social Media Trend. Dazu sollen sie schreiben, warum ihnen Europa wichtig ist. „Ging ziemlich ab“, sagt Blaudszun.
Im Sommer tourt sie im Wahlkampfteam von Dietmar Woidke durch Brandenburg, schießt für den Ministerpräsidenten Fotos und postet sie. Woidke gewinnt die Wahl.
So kommt sie auch an den Job im Bundestagsbüro des Sprechers der Ost-SPD, Frank Junge, den sie seit Oktober immer mittwochs macht. Mittelfristig soll sie Junges Social-Media-Auftritt aufmöbeln.
Und langfristig?
An einem Morgen Ende November sitzt sie im Audimax der Viadrina, der Universität in Frankfurt an der Oder, sechste Reihe, und schaut nach vorne zu Professor Brömmelmeyer, der über die Rechte Minderjähriger im deutschen Zivilrecht spricht. Blaudszun studiert Jura. Sie trägt einen grauen Pulli, vor ihr auf dem Klapptisch liegt ihr Handy. Eine Nachricht von Manuela Schwesig blinkt auf, sie antwortet. Hinten in der Hülle ihres Handys steckt ein Sticker mit Schwesig drauf, darunter steht: „Ein Küsschen von Manuela.“ Ihr Kommilitone Luca Jung, auch bei den Jusos, klebt den Sticker auf den Klapptisch. „Manu spreadet wieder Love“, sagt Blaudszun. Und dann, zu Jung: „Lass mal in der Pause rüber nach Polen, Kippen holen.“
"Ich habe krassen Respekt vor Lilly"
In der Pause gehen Blaudszun und Jung dann tatsächlich rüber nach Polen, Kippen holen. Später twittert sie: „Frankfurt ist so unangenehm widersprüchlich. Gefühlt jeder Laden hat hier Europa im Namen und es ist selbstverständlich, dass wir unseren Alltag in Deutschland und Polen bestreiten. Trotzdem gewinnt die AfD die Wahlen und auf Weihnachtsmärkten wird lautstark Arm in Arm die Nationalhymne gesungen.“ Für ihre Verhältnisse ist das schon Politikersprech.
Blaudszun sagt, sie habe sich bewusst für Frankfurt Oder entschieden. „Ich kann nicht ständig den Osten promoten und dann gemütlich nach Westdeutschland ziehen zum Studieren.“
Nach der zweiten Vorlesung gehen Blaudszun und Jung in die Mensa. Sie bestellt Spätzle mit Gemüse, „ausnahmsweise vegetarisch“, sagt sie. Beim Essen redet Jung über die anstehende Wahl zum Parteivorsitz. Auch er hat für Walter-Borjans und Esken gestimmt, er sagt: „Nikolaus ist Groko-Aus. Daumen sind gedrückt.“ Blaudszun ist sich da nicht sicher. Sie sagt: „Ich hadere mit dieser Groko-Entscheidung. Wir haben doch abgestimmt und 66 Prozent haben sich für die Groko entschieden. So falsch ich das finde, aber damit muss man dann auch einfach arbeiten. Alles andere wäre doch super anti-basisdemokratisch. Die Delegierten haben jetzt jedenfalls eine krasse Verantwortung.“
Nach der Mensa will Blaudszun noch eine kleine Runde spazieren. Sie läuft hinunter zur Oder, die hinter der Mensa träge fließt. Blaudszun sagt, dass sie sich hier unten am Wasser ein bisschen fühle wie Zuhause in Mecklenburg.
Ein Mandat? Sie ist sich nicht sicher
Ihr Kumpel sagt, dass er sich nicht wirklich vorstellen könne, Berufspolitiker zu werden. „Ich will Anwalt werden, aber ich hab' krassen Respekt vor Lilly, wenn sie das durchzieht.“
Blaudszun sagt, dass sie noch nicht sicher wisse, ob sie mal ein Mandat wolle, egal ob im Land oder Bund. Kurz darauf redet sie aber davon, dass sie Digitalpolitik lässig fände, auch weil sich kaum jemand in der SPD für das Thema interessiere. Wäre das aus Karrieregründen nicht ziemlich vielversprechend, zumal als Ostdeutsche mit abgeschlossenem Jura-Studium? Sie zuckt mit den Schultern. Strategie?
Was bei ihrem jungen CDU-Kollegen Philipp Amthor immer etwas verkrampft wirkt, verkörpert Blaudszun natürlicher: Sie will Karriere machen. Während Amthor spricht, wie jemand, der nur vom Hörensagen weiß, dass Jugend auch Exzess bedeuten kann oder zumindest Arglosigkeit, erzählt Blaudszun, wie sie neulich mit Glühwein in der Hand aus dem Fenster ihres Wohnheims pöbelte. Wo Amthor kontrolliert, lässt Blaudszun los. Wo Amthor überlegt, entscheidet Blaudszun mit dem Bauch. Die Zitate für diese Geschichte will sie nicht, wie sonst üblich, zur Kontrolle gegenlesen. Philipp Amthor ist 27 und wirkt oft wie 44. Lilly Blaudszun ist 18 und wirkt wie 18.
„Was ich an ihr bewundere, ist ihre Furchtlosigkeit und ihre Down-to-earthigkeit“, sagt Carline Mohr, von der SPD im Frühjahr zur Verstärkung des Social-Media-Auftritts als neue Newsroom-Leiterin geholt. „Man merkt sofort, wenn etwas weichgespült ist.“ Lilly traue sie alles zu. „Wenn die erstmal so alt ist wie ich, 35, dann hoffe ich, dass sie eine Staranwältin ist oder Parteichefin.“
Die SPD wirkt seit Jahren nicht wirklich wie ein Verein, bei dem man gerne Mitglied wäre. Altkanzler Gerhard Schröder und Altparteivorsitzender Sigmar Gabriel kommentieren das Geschehen von der Seitenlinie wie angetrunkene Fußballfans, Andrea Nahles fiel einem frauenfeindlichen Komplott zum Opfer und der Streit um Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken könnte die Partei spalten.
Ihre Tweets wirken schmerzlindernd
In diesen Zeiten wirken die Selfies Lilly Blaudszuns, die Aufmunterungen an ihre Partei, überhaupt die Tatsache, dass eine 18-Jährige sich für diesen Club begeistern kann, schmerzlindernd. Wo sich eine 18-jährige Burgerliebhaberin mit Faible für Fanta-Korn wohlfühlt, kann es nicht ganz schlecht sein.
Vielleicht macht Lilly Blaudszun die SPD gar nicht cooler. Sondern wärmer.
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