SPD-Chef Sigmar Gabriel in Berlin: Der Zweifelsfall
Ist Sigmar Gabriel noch der richtige Parteichef? Im Willy-Brandt-Haus redet er am Montag gegen Bedenken an. Doch etliche in der SPD glauben längst nicht mehr an ihn.
Sieben lange Minuten braucht Sigmar Gabriel, bevor er zum ersten Mal von seinem Manuskript aufschaut, den Blick vom roten Stehpult löst und in den Lichthof des Willy-Brandt-Hauses schweifen lässt. Hinter all seinen Worten wirkt das Aufschauen wie ein Moment der Selbstvergewisserung nach dem Motto: Hört ihr mir noch zu, wollt ihr mich noch?
Es ist eine wichtige Rede, die der SPD-Vorsitzende an diesem Montagvormittag hält, ein Grundsatzreferat zur Bedeutung des Wertes Gerechtigkeit für die älteste deutsche Partei. Es soll den Auftakt bilden für die Diskussion über das Wahlprogramm 2017. Gabriel gilt als brillanter Rhetoriker, der Stimmungen intuitiv erspürt und ein Saalpublikum mitreißen kann. Doch diesmal dauert es lange, bis er sich von seinem vorbereiteten Text löst und ein paar Sätze improvisiert.
Man kann es auch so lesen: Sigmar Gabriel muss erst wieder ankommen in dem Haus, in dem er doch eigentlich der Chef ist. Eine ganze Woche lang fehlte er wegen einer schmerzhaften Gürtelrose. Sogar in seiner eigenen Partei deuteten viele die Krankheit als Ausdruck einer Krise, womöglich einer Lebenskrise. Der kräftige Mann, dessen dunkler Anzug und schwarze Krawatte Seriosität signalisieren sollen, weiß: Zu viele Fragen zu seiner eigenen Zukunft sind ungeklärt, zu viele Zweifel stehen noch im Raum. Dagegen redet er nun an, 37 Minuten lang.
In seinem abgekämpften Gesicht ist abzulesen, wie groß der Druck ist, der auf ihm lastet. Die Stuhlreihen sind voll besetzt, so viel Interesse gab es zuletzt am Abend der Bundestagswahl. Unter den Sozialdemokraten hat der Absturz in den Umfragen auf Werte um die 20 Prozent das alte Misstrauen neu befeuert: Ist der Vizekanzler noch der richtige Parteichef? Kann er den Abwärtstrend stoppen? Soll er die Partei wirklich als Kanzlerkandidat in den Wahlkampf führen?
Die Stellvertreter klatschen
In der ersten Reihe sitzen die meisten von Gabriels Stellvertretern und klatschen ihm zu. Hannelore Kraft, Olaf Scholz, Ralf Stegner, Manuela Schwesig, Thorsten Schäfer-Gümbel. Fast alle haben in den vergangenen Stunden ein Gerücht dementiert, das „Focus“-Herausgeber Helmut Markwort in die Welt gesetzt hatte: Gabriel werde sich als Parteichef zurückziehen, Scholz werde sein Nachfolger und EU-Parlamentschef Martin Schulz der nächste Kanzlerkandidat der Partei. Auch Gabriel selbst hat klargestellt, dass er keineswegs amtsmüde sei.
Das Problem hinter all den Solidaritätsbekundungen ist nur: Etliche von denen, die nun jede Personaldebatte für absurd erklären, glauben selbst nicht daran, dass Gabriel den Abwärtstrend seiner Partei aufhalten kann. Als Menetekel für die erschöpfte Motivationskraft des Vorsitzenden gilt dessen Auftritt vor vier Wochen bei einem Landesparteitag in Braunschweig. Nicht einmal mehr in seiner Heimat erreichte Gabriel damals noch die Delegierten, beschimpfte aber dafür sehr lange einen Genossen, der ihn persönlich für die miesen Werte verantwortlich gemacht hatte: „Wenn du glaubst, das liegt am Vorsitzenden, dann wähle doch einen anderen.“
Traut er sich das Amt selbst noch zu?
Die Personaldebatte ist der SPD – Markwort hin oder her – keineswegs von außen aufgedrückt worden. Mittlerweile gibt es im Odenwald sogar einen SPD-Unterbezirk, der Gabriels Abwahl fordert. Den Jusos, die den Antrag einbrachten, ging es dabei nicht nur um einen angeblichen „Rechtsruck“ unter Gabriels Führung, sondern vor allem auch um dessen Glaubwürdigkeit: Man nehme es ihm nicht mehr ab, wenn er die SPD wieder einmal neu aufstellen wolle, hieß die Begründung, die 80 Prozent der Delegierten davon überzeugte, dass Gabriel wegmüsse.
Der Parteichef hat die Personaldebatte selbst offensiv angesprochen: Vor der Bundestagsfraktion erklärte er Ende April, bei 19,5 Prozent müsse man über die Rolle des Vorsitzenden sprechen. Das sei „wie im Fußball bei abstiegsbedrohten Vereinen“, dort werde ebenfalls immer über die Trainer debattiert. Er fügte hinzu: Wenn er der Meinung wäre, dass es der SPD hilft, würde er gehen. Nachgedacht darüber hat er. Ob er sich das Amt noch zutraut oder womöglich einen gesichtswahrenden Ausweg sucht, weiß Sigmar Gabriel wohl nur selbst.
Staaten als Räuberbanden
In seiner Eröffnungsrede zum Gerechtigkeitskongress im Willy-Brandt-Haus geht der Vorsitzende mit keinem Wort auf die Debatte über ihn ein. Stattdessen startet er mit einem Augustinus-Zitat: „Was sind Staaten anderes als große Räuberbanden, wenn es in ihnen keine Gerechtigkeit gibt.“ Und entfaltet dann ein großes Panorama sozialdemokratischer Aufgaben, das sich nicht auf die eigene Nation beschränkt, sondern weltweite Gerechtigkeit zum Ziel hat.
Die Schwierigkeiten seiner Partei verschweigt er nicht: „Für Sozialdemokraten ist der Vertrauensverlust in Gerechtigkeitsfragen existenziell.“ Gabriel spricht auch von Fehlern der SPD, etwa von dem, Kapitalerträge mit der Abgeltungssteuer geringer zu belasten als Erträge aus Arbeit. „Rückblickend fragt man sich, wie konnte es eigentlich einer Partei der Arbeit wie der Sozialdemokratie passieren, dass wir Arbeit bestrafen und leistungsloses Einkommen durch Kapitalerträge belohnen?“ Dafür gibt es viel Beifall im Willy-Brandt-Haus – und auch für das Versprechen, die Milliardeneinnahmen in den Ausbau des Bildungssystems zu stecken.
Die Köpfe der Genossen erreicht der Parteichef an diesem Vormittag, doch mit dem Herzen sind viele nicht bei ihm. Das wird deutlich, als Gabriel im Anschluss an seine Rede auf dem Podium mit der Putzfrau Susanne Neumann debattiert, die erst kürzlich in die SPD eingetreten ist. Die Kongress-Regie hat ihr die Rolle zugedacht, die großen Versprechungen des Vorsitzenden daraufhin zu prüfen, was eine hart arbeitende Nicht-Akademikerin mit niedrigem Einkommen damit anfangen kann. Und die Gewerkschafterin füllt ihre Rolle aus.
Gabriel sagt, die Union sei schuld
„Ihr habt uns runtergefahren“, wirft sie Gabriel vor. Und zwar indem die SPD bei Arbeitsverträgen ein Zweiklassen-System mit unterschiedlichen Schutzstandards zugelassen habe. Auch bei der Befristung von Arbeitsverträgen habe die SPD ihre Interessen und die ihrer Kollegen verraten. Gabriel erklärt, die SPD wolle schon einen besseren Schutz, aber es gebe ja noch die Union: „Da machen die Schwatten nicht mit.“ Susanne Neumann stellt daraufhin gleich die große Koalition infrage: „Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten?“
Die Zuhörer im Willy-Brandt-Haus sind so begeistert, dass sie johlen und klatschen wie zu keinem anderen Zeitpunkt an diesem Vormittag. Gabriel widerspricht ihnen sofort. Ohne SPD in der Regierung stünden die Schutzbedürftigen viel schlechter da. Das mag stimmen, ist für die Zuhörer aber kein Grund zum Jubeln. Wenigstens Susanne Neumann stimmt Gabriel in diesem Punkt bei aller Unzufriedenheit doch zu: „Wenn die SPD weg ist, haben wir ja überhaupt nichts mehr ...“
Kraft spricht Gabriel das Vertrauen aus
Den Aufnahmeantrag für die Putzfrau hat Hannelore Kraft unterschrieben. Die NRW-Ministerpräsidentin versicherte am Wochenende, der gesamte Parteivorstand vertraue Gabriel. In Wirklichkeit sind die Zweifel an Gabriel in der SPD nicht kleiner geworden. Aber trotz des Abwärtstrends der eigenen Partei ist bislang keine der starken Figuren der SPD bereit, anstelle des Parteichefs die absehbare Niederlage gegen Angela Merkel mit der Kanzlerkandidatur auf sich zu nehmen – Olaf Scholz so wenig wie Arbeitsministerin Andrea Nahles. Ob es wirklich würdevoll ist, die eigene Karriere für wichtiger zu halten als die Weiterexistenz einer Partei mit einer mehr als 150-jährigen Geschichte, müssen die Beteiligten für sich selbst entscheiden. Dabei sind auch SPD-Spitzenpolitiker, die Gabriel nahestehen, längst zu dem Schluss gekommen, dass spätestens bis zum Sommer eine Frage zu Gabriel endgültig geklärt sein muss. Sie lautet: Stützen oder stürzen?
Vielleicht war es eine tiefere Wahrheit, als Generalsekretärin Katarina Barley erklärte: „Er ist ein sehr guter Vorsitzender, und im Moment besteht überhaupt kein Grund herumzuspekulieren.“ Momente gehen schnell vorbei, gerade in einer so alten Partei wie der SPD.