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Musiker Roko aus Kroatien im Halbfinale des ESC 2019.
© REUTERS/Ronen Zvulun

ESC 2019 in Tel Aviv: Der Terror ist chancenlos gegen die Jahrhundertparty

Der ESC 2019 gibt den Menschen in Tel Aviv das Gefühl, wenigstens im Geiste Teil Europas zu sein. Das ändern auch die Hamas-Raketen nicht.

Einiges hat er sich anders vorgestellt. Zum Beispiel die Sicherheitskontrollen am Parkeingang. Die seien geradezu lax gewesen, sagt Erwin Greven. „Wir wurden nicht einmal richtig abgetastet.“ Jetzt steht der Niederländer mit seinen beiden Begleitern auf der ausgetrockneten Wiese zwischen Großbildleinwänden und Fressbuden, direkt nebenan das Meer, die Sonne ist eben untergegangen. Zigtausende verfolgen von hier aus die Übertragung des Halbfinales vom Eurovision Song Contest, das sieben Kilometer entfernt, nördlich der Innenstadt Tel Avivs, in einer graufassadigen Kongresshalle stattfindet. Hier am Strand, im sogenannten „Eurovision Village“, ist die Stimmung jetzt gelöst. Andauernd kommen Israelis und bitten Greven um ein gemeinsames Foto – als sei er einer der Stars der Show und nicht nur ein ESC-Tourist. Dabei hat er sich doch bloß eine orangefarbene Mütze aufgesetzt und die Wangen rot-weiß-blau angemalt. Nicht sehr spektakulär, eigentlich.

Man spürt, wie willkommen das Ereignis den Bewohnern dieser Stadt ist. Eine Spaßveranstaltung, klar, aber eine mit Botschaft und Bedeutung. Der Eurovision Song Contest in dem kleinen Land, das diesen Wettbewerb schon viermal gewann, doppelt so oft wie Deutschland. Und von dem sich mancher, der den Wettbewerb nur am Rande verfolgt, fragt: Warum darf Israel überhaupt mitmachen – seit wann gehört dieses Land bitte zu Europa?

Vergangene Woche ist es angegriffen worden, wieder einmal. 700 Raketen feuerten Terroristen von Hamas und Islamischem Dschihad aus dem Gazastreifen ab. Sie wollten die anstehende Party stören, am liebsten verhindern, Gäste von der Anreise abhalten. Und den Druck erhöhen, um politische Forderungen durchzusetzen. Berichten zufolge war die Hamas unzufrieden, weil aus Katar versprochenes Geld noch nicht angekommen war. Dazu die Ankündigung Irans, das Atomabkommen teilweise nicht mehr einzuhalten – und die Angst vor einer Eskalation in der gesamten Region.

Erwin Greven, der Niederländer mit der orangefarbenen Mütze, sagt, er spüre keine Angst. Nicht vor Raketen, nicht vor Bomben. „Ich vertraue Israel.“ Der Staat ist schließlich geübt darin, seinen Bewohnern trotz Bedrohung von außen einen Alltag zu ermöglichen. Einen, zu dem eben auch Feiern gehört. Das Gefährlichste an dieser Reise, sagt Greven, sei bislang der Sonnenbrand seines Kumpels Vitor gewesen. Die ganze Schulter ist rot. Vitor sagt, er habe vor dem Song Contest extra einen Hebräischkurs belegt. War natürlich unnötig. In Tel Aviv spricht sowieso jeder Englisch.

Israels erster ESC-Sieg war 1978

Als Israel 1973 zum ersten Mal beim Song Contest antrat, als erstes außereuropäisches Land, musste Sängerin Ilanit eine schusssichere Weste tragen, das Publikum wurde gebeten, sich während ihres Auftritts nicht von den Stühlen zu erheben, sonst könnte man im Getümmel mögliche Terroristen nicht erkennen. Das Olympia-Attentat von München, bei dem elf Angehörige der israelischen Delegation ums Leben kamen, war erst ein paar Monate her. Als Israel fünf Jahre später beim Song Contest in der Gesamtwertung in Führung lag und sich abzeichnete, dass es den Wettbewerb erstmals gewinnen würde, brach das jordanische Staatsfernsehen – Jordanien nahm selbst nicht teil – die Übertragung ab und zeigte stattdessen einen Strauß Narzissen. Später, so steht es in der offiziellen ESC-Chronik, habe der Moderator verkündet, Belgien habe gewonnen.

Auf dem Festgelände am Strand Tel Avivs steht eine Figur. Meterhoch hat ein Künstler ein Abbild von Netta Barzilai gebaut, der Sängerin, die vergangenes Jahr mit großem Punktevorsprung den Wettbewerb gewann und Israel so zum Austragungsland 2019 machte. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wollte die Show nach Jerusalem holen, was die Ultra-Orthodoxen, die dort zahlreich leben, empörte. Schlagerfest am Sabbat? Der Wettbewerb selbst findet zwar nach Sonnenuntergang statt, doch die Vorbereitungen und Proben dafür laufen auch am jüdischen Ruhetag.

Die Macher des ESC fürchteten wiederum eine politische Instrumentalisierung. Normalerweise steht es jeder Gastgebernation frei, selbst zu entscheiden, wo gesungen wird. Doch in Nahost wird sogar die Standortfrage eines Schlagerfests zum Politikum. Gerade jetzt, da die USA Jerusalem seit einem Jahr offiziell als Israels Hauptstadt anerkennen, Europa dies aber noch lange nicht tut.

Mit fliegenden Brandsätzen hat die Hamas am Mittwoch neun israelische Felder angezündet.
Mit fliegenden Brandsätzen hat die Hamas am Mittwoch neun israelische Felder angezündet.
© Mahmud Hams/AFP

Zweifel daran, dass der Contest überhaupt stattfinden würde, gab es auf israelischer Seite nie. Im Gegenteil: Während aus Gaza im Minutentakt noch Raketen abgefeuert wurden, begannen in Tel Aviv bereits die ersten Proben. Bewohner aus Dörfern und Städten, die vom jüngsten Beschuss besonders betroffen waren, erhielten Freikarten für die Shows in dieser Woche.

Auf dem Hinterkopf der ESC-Stern

Dienstagmittag auf dem Rothschild-Boulevard im Zentrum der Stadt. Christoph Magis, 24, neongelbes Netzhemd, ESC-Stern auf den Hinterkopf rasiert, hat nur wenige Stunden geschlafen. Aber dafür sei er ja nicht hier, sagt der Franzose. Gestern Abend habe er sich die Proben angehört, jetzt will er etwas vom Land sehen. Er folgt deshalb dem Mann mit lilafarbenem Shirt und der Aufschrift „Let me show you Tel Aviv“. Seit 14 Jahren ist Christoph Magis Fan des ESC, verfolgt inzwischen sogar die Vorauswahlen der einzelnen Länder, kennt deshalb auch die jeweiligen TV-Sender. „Das da sind Isländer“, sagt er, als die Gruppe an einem Kameramann und einem Journalisten vorbeiläuft, die ein Interview aufnehmen. Überall in der Stadt sind Blogger, Journalisten und Fotografen unterwegs.

Tourguide Amy führt seine Touristengruppe durch das Quartier Neve Tsedek. Auf einer Brücke mit Blick in Richtung der alten Hafenstadt Jaffa erklärt Amy die historischen Anfänge Tel Avivs: wie früher die Bahnlinie Richtung Jerusalem direkt vom Hafen in Jaffa aus losfuhr. Und wie Palästinenser einst im Stadtteil Menashiya lebten, den es längst nicht mehr gibt. Heute befindet sich dort genau der Park, auf dem jetzt das „Eurovision Village“ steht. Christoph Magis, der Franzose, hört nur halbherzig zu. Er sagt, er sei mit seinem Kopf woanders. Er denke immer noch an die Proben vom Vorabend.

Die Gruppe „BDS“, deren Wortführer den jüdischen Staat ablehnen, setzt Künstler, Wissenschaftler und Unternehmer unter Druck, Israel zu meiden. Keines der 40 Gastländer sagte jedoch seine Teilnahme ab. Das Team aus Island kündigte lediglich an, auf der Bühne für „die Befreiung Palästinas“ einzutreten. Beim Halbfinale am Dienstag haben sie es erst mal sein lassen.

Beim Vorentscheid in Frankreich hatten BDS-Aktivisten die Bühne gestürmt, als Netta Barzilai, die israelische Titelverteidigerin, gerade ihren Gastauftritt hatte. Christoph Magis saß damals im Publikum und ärgerte sich über das Störmanöver. Hier in Tel Aviv, sagt er, seien die Menschen so herzlich, er verstehe nicht, wie ihnen jemand den ESC missgönnen könne. Er gibt aber auch zu, kaum politisch interessiert zu sein. Mit dem Nahostkonflikt befasst er sich nicht.

In den Ruinen eines zerstörten Gebäudes in Gaza, das die israelische Luftwaffe als Reaktion auf die Raketenangriffe getroffen hatte, wurde am Dienstag ein Gegenkonzert lokaler Künstler veranstaltet. Die Fotos vom Auftritt signalisieren: Wir müssen hier zwischen Trümmern spielen, während 100 Kilometer nördlich glamourös gefeiert wird. Am Mittwoch befahl die Hamas, dass an den Schulen im Gazastreifen der Unterricht ausfällt. So sollten mehr Minderjährige für Proteste am Grenzzaun gewonnen werden. Dabei mischen sich seit Monaten bewaffnete Kämpfer unter die Zivilisten, attackieren israelische Soldaten. Zusätzlich lässt die Hamas Luftballons und Drachen mit Brandsätzen über die Grenze fliegen. Allein am Mittwoch brannten neun Felder israelischer Farmer. Der Hamas-Offizielle Fathi Hammad rief alle Israelis zur sofortigen Auswanderung auf: Der Tag, an dem sie ansonsten „geschlachtet“ würden, sei nah.

Vorjahressiegerin Netta Barzilai wird Samstag ebenfalls auftreten.
Vorjahressiegerin Netta Barzilai wird Samstag ebenfalls auftreten.
© Ilia Yefimovich/dpa

Der Eurovision Song Contest steht auch einigen arabischen Ländern offen, theoretisch könnten zum Beispiel Tunesien, Algerien und Ägypten teilnehmen – die aber lehnen das ab, solange Israel mitmacht. Der Wettbewerb wird von der Europäischen Rundfunkunion ausgerichtet, einem Zusammenschluss aus 72 Rundfunkanstalten, darunter auch etliche in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel. Nur einmal, 1980, als der jüdische Staat von sich aus verzichtete, trat Marokko an. Als Israel im Folgejahr zurückkehrte, stieg Marokko wieder aus.

Es ist wie beim Fußball. Dort spielte Israel zunächst im asiatischen Kontinentalverband. Weil alle arabischen Länder sich weigerten, gegen Israel anzutreten, nahm der europäische Verband Uefa den jüdischen Staat auf. In anderen Sportarten verweigern Starter aus muslimischen Staaten, etwa im Judo, israelischen Kontrahenten regelmäßig das Händeschütteln oder treten erst gar nicht an – manchmal aus Überzeugung, oft aus der Angst heraus, im eigenen Land sonst als Verräter zu gelten. Erst im Januar dieses Jahres wurde Malaysia die paralympische Schwimm-WM entzogen, weil sich der muslimisch geprägte Staat weigerte, israelische Teilnehmer ins Land zu lassen. Premierminister Mahathir Mohamad nannte Israel daraufhin einen „kriminellen Staat“.

Genau deshalb ist die Teilnahme an dem oft klamaukigen Wettsingen, das in Deutschland selbst von Fans vor allem ironisch geschaut wird, für die Bewohner von Tel Aviv eine ernste Angelegenheit. Sie verbinden damit das Gefühl, wenigstens im Geiste ein Teil Europas zu sein, nicht nur von Feinden umgeben, die das eigene Land auslöschen wollen. Der israelische Schriftsteller Yishai Sarid hat es gerade so ausgedrückt: „Wir Israelis wollen unbedingt geliebt, respektiert und von der Welt anerkannt werden. Wir wurden aus Europa vertrieben und von Europäern ermordet. Der ESC ist daher unser Weg zurück nach Europa.“ Deshalb werden europäische Touristen laufend um Fotos gebeten. Deshalb zählen die Abende im „Eurovision Village“ am Strand zu den größten Events, die Tel Aviv seit langem gesehen hat.

Auf seiner Gruppentour durch die Innenstadt erklärt Amy, der Guide, dass Neve Tsedek eines der teuersten Viertel sei: Vor allem viele Franzosen wohnten mittlerweile hier, etliche sind in den vergangenen Jahren ausgewandert, auch weil der Antisemitismus in Frankreich stark zunimmt. „Aliyah machen“ heißt das. Weil unter den Neuankömmlingen viele Traditionelle seien, sei inzwischen auch die Mikwe, das jüdische Ritualbad, wieder gut besucht.

Christoph Magis, der Franzose in der Gruppe, hört jetzt zu. Er ist zum ersten Mal in Israel und etwas beunruhigt wegen der Sicherheitslage. „Generell habe ich Angst, dass ich …“, er zögert, „hier nicht wieder lebend rauskomme“. Dann lacht er. „Ich halte eben Augen und Ohren offen und bin vorsichtig.“ Ans Tote Meer und nach Jerusalem will er nach dem Contest trotzdem noch fahren. „Dann aber in einem anderen Outfit", sagt er. „Simpler. Dort spielt ja die Religion eine große Rolle und das will ich respektieren.“

Am Samstag, bei der großen Entscheidungsshow, werden zwischen den Auftritten der Teilnehmer kleine Clips mit Szenen aus allen Landesteilen Israels eingespielt. Aus der Negevwüste, vom See Genezareth, aus den Kibbuzim, aus Nazareth. Auch deswegen ist der Song Contest von so großer Bedeutung für Israel: Es gibt die Hoffnung, dass viele Grand-Prix-Fans wiederkommen werden – und das gesamte Land noch näher an Europa heranrücken lassen.

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