zum Hauptinhalt
2003 traf der Boxchampion auf Nelson Mandela. Beide wollten der Welt das Versöhnen lehren – und liebten es, Späße zu machen.
© dpa

Erinnerungen an Muhammad Ali: Der seine Gipfel selbst malte

Muhammad Ali hat die Welt erschüttert. Im Boxring mit seiner Begabung, die Schläge des Gegners zu erahnen. Und im Leben mit seinem Mut zum Widerstand.

Berge. Hohe Berge mit zackigen Gipfeln und tiefen Tälern. Muhammad Ali hat sie erklommen und durchschritten wie kein anderer. Der frühere Box-Champion war einer der letzten Großen des 20. Jahrhunderts, geachtet und geliebt weit über das Boxen hinaus. Einer, der die Welt das Versöhnen lehrte.

Es wird in den kommenden Tagen und Wochen noch unzählige Hymnen und Nachrufe geben auf den größten Boxer aller Zeiten, der am Freitag im Alter von 74 Jahren gestorben ist. Erinnerungen an die frühen Kämpfe gegen Sonny Liston, den Rumble in the Jungle gegen George Foreman, den Thrilla in Manila gegen Joe Frazier. An Alis Weigerung, in den Krieg nach Vietnam zu ziehen, „I ain’t got no quarrel with them Vietcong!“. An die großartigen Comebacks, erst im Ring und später, 1996, als er bei den Olympischen Spielen in Atlanta die Flamme entzündete, mit zitternden Händen, vor Milliarden Fernsehzuschauern auf der ganzen Welt. Im tiefen Süden der USA, wo der Boxer, der einmal Cassius Clay hieß, noch in den 60er Jahren kein Hotelzimmer bekommen hätte.

In Berlin hat er Berge gemalt.

Es war im Dezember 2005. In der Schmeling-Halle boxte Alis Tochter Laila, eines von neun Kindern aus vier Ehen und zwei außerehelichen Beziehungen. Um den Größten in die Stadt zu bekommen, trug ihm eine Gesellschaft irgendeine Ehrung an. Niemand rechnete ernsthaft mit seinem Erscheinen, denn seitdem sich sein Leiden am Parkinson-Syndrom dramatisch verschlechtert hatte, mied Ali die Öffentlichkeit. Und dann kam er doch. Immer noch beeindruckend groß und breit, aber mit schwerem Schritt und gebeugtem Kopf, anscheinend versunken in seine eigene Welt, oder doch nur scheinbar?

Wowereit las vom Blatt ab, Ali malte

Klaus Wowereit las eine Rede vom Blatt ab, als Ali einen Kugelschreiber aus der Tasche zog. Behutsam die Karte mit dem Menü des Abends vor sich ausbreitete. Und malte. Große Berge mit zackigen Gipfeln. Auf der Bühne sangen sie Lieder und hielten Reden. Ali malte. Bis einer da vorn von den alten Kämpfen sprach, von den Schlachten gegen Sonny Liston, Joe Frazier und George Foreman. Auf einmal legte der Champion den Stift zur Seite, er fasste sich ans Herz und hob die Fäuste. Zehn, zwanzig Sekunden lang. Eine bewegende Ewigkeit lang waren die großen alten Zeiten wieder da.

Die 60er und 70er Jahre. Damals, als das Boxen noch eine gesellschaftliche Bedeutung hatte, weit über Haken und Jabs und Knockouts hinaus.

Boxen ist heute, zumal in den USA, eine Domäne der Schwarzen. Das war nicht immer so. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts weigerten sich die weißen Preisboxer, gegen die schwarze Konkurrenz in den Ring zu steigen. Jack Johnson musste 1908 nach Sydney ausweichen, um als erster Schwarzer den Weltmeistertitel im Schwergewicht zu erkämpfen.

Jack Johnson war der Muhammad Ali des frühen 20. Jahrhunderts. Später landete er im Gefängnis – sein Verbrechen bestand darin, dass er sich mit weißen Frauen eingelassen hatte. Floyd Patterson, auch er ein schwarzer Weltmeister, diente sich in den 50ern an als angepasster, als guter Neger, wie man einen Afroamerikaner damals noch wie selbstverständlich nannte. Ihm folgte Sonny Liston, ein krimineller Schläger im Dienst der Mafia.

Das weiße Establishment reagierte irritiert

Guter Neger, böser Neger. Mit Patterson und Liston konnten sie leben im weißen Establishment. Aber was sollten sie anfangen mit einem wie Muhammad Ali?

Im Frühjahr 2013 hat der Fußballspieler Kevin-Prince Boateng vor den Vereinten Nationen einen Vortrag zum Thema Rassismus gehalten. Boateng ist ein Held der Neuzeit. Einer, der mit seiner Mannschaft vom Platz marschierte, weil er auf der Tribüne mit Affenlauten verhöhnt worden war. „Ich glaube, die Tatsache, dass Barack Obama und ich dieselbe Hautfarbe haben und dass wir das tun, was wir tun, liegt vor allem an Muhammad Ali“, sprach Boateng, und die Welt applaudierte.

Guter Neger, böser Neger. Damals, in einer anderen Zeit, sie liegt noch gar nicht so lange zurück. Die Box-Weltmeister Patterson und Liston spielten die ihnen zugedachten Rollen. Ali wollte keine Rolle spielen. „Er benahm sich nicht so wie man das erwartete von einem Sportler, schon gar nicht von einem schwarzen Sportler“, sagt Jan Philipp Reemtsma. Der intellektuelle Mäzen hat ein Buch über Ali geschrieben, es heißt „Mehr als ein Champion“ und zählt zum Besten, was jemals über Muhammad Ali zu Papier gebracht worden ist.

Wie Cassius Clay zu Muhammad Ali wurde

King of the World. Seinen ersten WM-Kampf gewann Ali am 25. Februar 1964.
King of the World. Seinen ersten WM-Kampf gewann Ali am 25. Februar 1964.
© imago sportfotodienst

Die Geschichte des Größten aller Zeiten beginnt in Louisville, Kentucky. Tiefer Süden. Er ist ein Kind der schwarzen Mittelschicht, was nach mehr klingt, als der Alltag hergibt. Der Vater ist Gelegenheitsarbeiter, die Mutter Putzfrau. Sie nennen ihren ältesten Sohn Cassius Marcellus Clay nach einem weißen Gegner der Sklaverei. Die Familie verfügt über ein eigenes Haus und Cassius sogar über ein Fahrrad.

Er ist zwölf Jahre alt, als ihm dieses Fahrrad gestohlen wird. Rasend vor Wut rennt Clay zur Polizei, er fordert eine großangelegte Suche und verspricht dem Dieb die Prügel seines Lebens. Der Polizist arbeitet nebenbei als Boxtrainer, er schaut dem zornigen Bürschlein in die Augen und fragt: „Kannst du überhaupt kämpfen?“ Cassius Clay sieht sein Fahrrad nie wieder, aber am nächsten Tag meldet er sich zum Boxtraining an.

Schon in diesen Kindertagen treibt er seinen Trainer zur Weißglut mit seinem Stil. Provozierend lässt er die Fäuste nach unten sinken, im steten Gottvertrauen auf seine Begabung, die Schläge des Gegners auf den Millimeter genau vorauszuahnen. Oft zieht er Kopf und Körper gerade so weit zurück, dass ein Schlag ins Leere geht. Und er übt sich in der von ihm perfektionierten Kunst der Einschüchterung.

Clay kündigt jedem seiner Gegner an, er werde ihn durch die Ringseile jagen, auch wenn der andere zwei Köpfe größer und zwanzig Kilo schwerer ist. Dafür arbeitet er wie ein Besessener. Clay läuft schon früh am Morgen ein paar Meilen durch den Park, er achtet auf gesunde Ernährung und hat keine Zeit für Mädchen, weil die nur vom Training ablenken. Auch für die Schule bleibt nicht viel Zeit. Den Abschluss bekommt Clay von seinem wohlwollenden Direktor weitgehend geschenkt.

Cassius Clay fürchtet keinen Gegner und hat doch Angst. Unbezwingbare Angst. Vor den Olympischen Spielen 1960 besteht er lange darauf, mit dem Schiff und der Eisenbahn nach Rom reisen zu wollen. Bevor Clay dann doch ins Flugzeug steigt, kauft er sich einen Fallschirm, den er während des gesamten Fluges auf dem Rücken trägt. Nach der leicht erkämpften Goldmedaille fragt ihn ein Reporter aus der Sowjetunion, ob er denn wirklich stolz sei auf ein Land, in dem er nicht einmal in ein beliebiges Restaurant zum Essen gehen dürfe. Clay entgegnet: „Sagen Sie Ihren Lesern, dass ich im besten Land der Welt lebe!“

"Du wirst hier nicht bedient"

Nach der Rückkehr aus Rom zieht der Olympiasieger eine Nacht lang durch die Bars von New York, fährt mit dem Bus nach Louisville und als er dort in einem Restaurant einen Fruchtsaft bestellt, bekommt er zu hören: „Du wirst hier nicht bedient!“

Clay wähnt sich immer noch im besten Land der Welt, aber er will dessen Abgründe nicht länger als gottgegeben hinnehmen. Mit jeder Demütigung wird er empfänglicher für Stimmen, die Auswege verheißen. Die lautesten Stimmen kommen aus einer politisch-religiösen Ecke. Von den Black Muslims, einer Sekte, bekannt auch als Nation of Islam, repräsentiert von Elijah Muhammad und Malcolm X. Die Black Muslims halten nichts von Integration. In ihrem Weltbild stehen die Weißen für das Böse.

Cassius Clay beginnt sich zu interessieren für das, was die Muslims predigen. Erst einmal aber will er Geld verdienen mit dem, was er am besten kann. Boxen. Clay hat doppeltes Glück. Als vermeintlichen Maulhelden nimmt ihn niemand so recht ernst, auch nicht die Mafia, die in diesen Jahren das Profiboxen kontrolliert. Keiner der Paten zeigt Interesse, so dass er sich seinen Einstieg von einer Gruppe vermögender Geschäftsleute aus Louisville finanzieren lässt. Und er findet den Trainer seines Lebens. Angelo Dundee, einen Italo-Amerikaner, dem Clay eines der größten Komplimente seiner Karriere widmet: „Ich mag ihn, weil er ’ne Menge Niggerblut hat.“

Dundee denkt gar nicht daran, Clay den provozierend-tänzerischen Stil abzugewöhnen. Und er lässt ihn weiter den Clown spielen. Mit schöner Regelmäßigkeit fährt Clay zu den Kämpfen von Weltmeister Liston, den in den frühen 60ern die ganze Welt für unbesiegbar hält. Clay lacht ihn aus. Einmal, bei einem Besuch im Casino von Las Vegas, brüllt er durch den Saal: „Guckt euch den hässlichen Bären an, nicht mal würfeln kann er!“ Ein anderes Mal fährt er mitten in der Nacht vor Listons Haus und fordert ihn so lange zum spontanen Kampf mit bloßen Fäusten, bis endlich die Polizei vorfährt und ihn abführt.

Clay tut wirklich alles dafür, dass ihn Reporter, Fans und vor allem Liston für einen armen Irren halten. Als der Weltmeister endlich in einen WM-Kampf einwilligt, beten die Sponsoren des Herausforderers, ihr Mann möge lebend aus dem Ring herauskommen. Mit 22 Jahren hat Clay sein erstes großes Ziel erreicht. Und er weiß, dass der gut zehn Jahre ältere Weltmeister mehr Zeit in Bars als in der Trainingshalle verbringt. Wie später noch so oft widmet er dem Kampf ein eigenes Gedicht, es geht so:

„Die Zuschauer hätten nicht erträumt,

vor dem Kampf, ganz gewiss,

dass sie Zeuge werden würden

einer Sonnenfinsternis.

Ich bin der Größte!“

Im allgemeinen Bewusstsein sind der Rumble in the Jungle gegen Foreman und der Thrilla in Manila gegen Frazier seine größten Kämpfe. Doch vieles, wenn nicht alles, was für das Phänomen Muhammad Ali steht, lässt sich aus diesem ersten WM-Kampf gegen Sonny Liston ableiten. Eine Jahrhundertkarriere steht an diesem 25. Februar 1964 in Miami auf dem Spiel. Es gibt zwei Momente, in denen beinahe alles gescheitert wäre. Und niemand hätte wahrscheinlich je wieder etwas von einem Boxer namens Cassius Clay gehört oder sich für einen Muhammad Ali interessiert.

Es heißt, Clay sympathisiere mit den Black Muslims

Der erste Moment gehört den Black Muslims. Schon seit Langem schwirrt durch die Boxhallen das Gerücht, dass Clay mit den Muslims sympathisiert. Als drei Tage vor dem Kampf bekannt wird, dass Malcolm X als Ehrengast in Clays Camp logiert, ist das für den Herausforderer eine mittlere Image-Katastrophe. Der Promoter droht damit, die Veranstaltung abzusagen. Clay sagt: „Meine Religion ist mir wichtiger als der Kampf“, er geht zurück ins Hotel und packt seine Koffer. Erst in letzter Sekunde kommt es zu einem Kompromiss. Malcolm X reist ab und verspricht, erst am Kampfabend zurück nach Miami zu kommen.

Beim offiziellen Wiegen rast Clay wie ein Wahnsinniger herum, er nennt Liston einen Holzkopf und Trottel und verspricht einen K.o. in Runde acht. Sein Puls liegt bei 120, normal sind 55. Der Ringarzt diagnostiziert Todesangst. Alles nur gespielt? Im Ring fixiert der Weltmeister den Neuling und sagt: „Ich bringe dich um!“ Später gibt Clay zu, er habe nach dem Gong zum ersten und einzigen Mal um sein Leben gefürchtet. Die Angst verfliegt, als Listons erster Hieb sein Ziel um einen halben Meter verfehlt. Clay tanzt und traktiert den hilflosen Weltmeister mit seinen Jabs, abrupt geschlagenen Geraden, er schlägt sie ihm reihenweise ins Gesicht. So geht das drei Runden lang. Dann hat Liston genug.

David Remnick schildert in seinem großartigen Buch „King of the World“ , was sich in der Pause zwischen dritter und vierter Runde abspielt. Wie der gedemütigte Weltmeister seinem Trainer sagt, er solle ihm etwas auf die Handschuhe träufeln, irgendeine teuflische Lösung, von der man heute nur noch weiß, dass sie Verheerendes anrichtet, wenn sie sich mit dem Schweiß vermischt und in die Augen des Gegners rinnt. Kurz vor Ende der vierten Runde spürt Clay einen stechenden Schmerz. Beim Gong ist er nahezu blind, er stürzt in seine Ecke, streckt die Hände und brüllt: „Macht die Handschuhe ab, ich kann nichts mehr sehen!“ Cassius Clay will aufgeben.

Das ist der zweite Moment, in dem alles auf dem Spiel steht.

Angelo Dundee weiß, worum es geht. Nie würde Liston diesem Großmaul eine Revanche gewähren. Clays Karriere wäre zu Ende. Also brüllt Dundee seinem blinden Boxer entgegen: „Du gehst jetzt raus und läufst!“

Clay zwingt sich zurück in den Ring, die Linke als schützenden Schirm weit nach vorn gestreckt. Und er läuft. Um sein Leben. Ein blinder Boxer gegen den härtesten Puncher der Welt, das kann nicht gut gehen. Unten ruft der Fernsehreporter aufgeregt: „Irgendetwas scheint mit Clays Augen zu sein!“ Liston schlägt mit all seiner Kraft, aber er schlägt ungenau und unkontrolliert. Clay hört das Schnaufen seines Gegners, er spürt dessen Verzweiflung, dass er nicht mal einen blinden Gegner stellen kann. Zweieinhalb ewige Minuten tastet sich Clay durch den Ring, dann lichtet sich der Schleier. In der sechsten Runde ist sein Blick wieder klar, und jetzt bearbeitet er Liston ganz humorlos mit wenig eleganten, aber umso schmerzhafteren Körpertreffern. Noch ein Gong, es ist der letzte. Liston schlurft zurück in seine Ecke und sagt: „Es reicht!“ Der Weltmeister gibt auf.

Clay springt auf die Ringseile und brüllt hinunter zu den Reportern. „Eat your words! Eat your words!“ Sie sollen herunterschlucken, was sie vorher geschrieben haben, all die Geschichten über den angeblich chancenlosen Herausforderer, der keine einzige Runde überstehen werde. Noch im Ring trompetet er in die Mikrofone: „I shook up the world!“

"I ain't got no quarrel with them Vietcong"

Clown und Held. Ali war auch ein Kämpfer für die Menschenrechte und Vorbild für Millionen Afro-Amerikaner.
Clown und Held. Ali war auch ein Kämpfer für die Menschenrechte und Vorbild für Millionen Afro-Amerikaner.
© imago sportfotodienst

Ja, Cassius Clay erschüttert die Welt. Abends im Boxring und am nächsten Vormittag, als er sich öffentlich zu den Black Muslims bekennt. Zwei Wochen später verleiht ihm der Sektenführer Elijah Muhammad den Ehrennamen Muhammad Ali. Es gibt keinen Cassius Clay mehr, auch wenn ihn die weißen Reporter noch ein paar Jahre so nennen und auch im deutschen Fernsehen noch bis in die späten 70er vor jedem Kampf von Cassius Clay alias Muhammad Ali die Rede ist.

„Eine unglaubliche Respektlosigkeit“, sagt Alis Biograph Reemtsma. „Niemand hätte es gewagt, den Film ,Manche mögen's heiß’ anzukündigen mit: in der Hauptrolle Norma Jean Baker alias Marilyn Monroe.“

In den folgenden Jahren tänzelt Ali von Sieg zu Sieg. Sein Betreuer Drew Bundini erfindet für ihn den Slogan „float like a butterfly, sting like a bee“. Wie ein Schmetterling flattert Ali durch den Ring und fährt seine Jabs aus wie die Biene ihren Stachel. Er trifft sich mit den Beatles und mit Elvis Presley und interessiert sich nicht für das, was da ein paar tausend Kilometer weiter südöstlich in Vietnam passiert.

Schon 1960 ist Ali für die Armee gemustert und für untauglich befunden worden, wegen des unfassbar niedrigen Intelligenzquotienten von 78. Doch Amerika gehen die Soldaten aus, die Zulassungskriterien werden geändert. Als ein Reporter nachfragt, ob er jetzt denn doch die Uniform anziehen werde, sagt Ali in Slang eben jenen Satz, der ihn unsterblich macht: „I ain’t got no quarrel with them Vietcong!“

10.000 Dollar Strafe, der WM-Titel ist weg

Ali mag kein Problem mit dem Vietcong haben, aber er bekommt eines mit Washington. Im April 1967 stellt er sich in Houston einer erneuten Musterung. Ein Offizier brüllt: „Cassius Clay!“ Keine Reaktion. Zweiter Versuch. Wieder keine Reaktion. Ali äußert sich nur schriftlich und legt Wert darauf, als Prediger der islamischen Religion vom Militärdienst freigestellt zu werden. Doch in den USA gibt es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Die Regierung zieht seinen Pass ein und lässt ihn vom FBI überwachen, ein Gericht verurteilt ihn zur Höchststrafe: fünf Jahre Haft und 10 000 Dollar Geldstrafe. Und der Box-Weltverband nimmt ihm den WM-Titel weg.

Ali hätte, wie Marlene Dietrich oder Joe Louis im Zweiten Weltkrieg, als Showact zur Truppenbetreuung herumtingeln können, aber so ein Kompromiss kommt für ihn nicht in Frage. Erst drei Jahre später hebt der Oberste Gerichtshof das Urteil auf und Ali darf zurück in den Ring. Es wären wohl die drei besten Jahre seines Boxerlebens gewesen. Muhammad Ali verbringt sie in Talkshows.

Es ist ein anderer Ali, der sich ans Comeback macht. Er wirkt schwerfälliger, tanzt nicht mehr und verliert seinen ersten wichtigen Kampf gegen Joe Frazier, einen zweiten gegen Ken Norton. Seine Zeit scheint vorbei zu sein. Ali macht weiter, immer weiter, bis er 1974, mit 32 Jahren, noch einmal die Chance erhält, um die Weltmeisterschaft zu boxen. Niemand glaubt an ihn. Sein Gegner George Foreman ist sieben Jahre jünger, er hat den härtesten Punch der Welt und gerade erst Alis alten Widersacher Joe Frazier durch den Ring geprügelt.

Don King, der damals schon überaus schmierige Promoter, hat den Kampf an Mobutu Sese Seko verkauft, den Diktator von Zaire, wie die Demokratische Republik Kongo in diesen Tagen heißt. Beide Boxer bekommen je fünf Millionen Dollar Börse, die bis dahin höchste der Geschichte. Ali läuft noch einmal zu großer Form auf. Er verpasst dem Kampf in Kinshasa den Namen „Rumble in the Jungle“ und verfasst wie zu seinen Glanzzeiten ein Gedicht:

„Ich habe mit einem Alligator gerungen,

mit einem Wal gerauft,

dem Blitz Handschellen angelegt

und den Donner eingekerkert.

Ich bin böse.

Letzte Woche hab’ ich einen Felsen

ermordet,

einen Stein verletzt

und einen Ziegel krankenhausreif

geprügelt.

Ich bin so gemein,

dass ich selbst Medizin krank mache.“

Sein Glanzstück aber zeigt er im Ring. Ali lässt sich in die Seile drängen, er schützt Kopf und Oberkörper mit seinen Armen und provoziert Foreman dazu, sich müde zu prügeln. In der achten Runde ist Foreman total entkräftet, und Ali geht zum Angriff über, er streckt seinen Gegner mit elf gnadenlos aneinandergereihten Hieben nieder. Foreman versucht aufzustehen, aber es reicht nur zu einem Torkeln, der Ringrichter zählt ihn aus. Siebeneinhalb Jahre nach der Aberkennung des Titels ist Muhammad Ali wieder Weltmeister aller Klassen.

Der Rumble in the Jungle ist nicht Alis bester Kampf, aber einer von zwei legendären, die eine ganze Generation geprägt haben. Auch und besonders in Europa saßen ganze Familien mitten in der Nacht vor dem Fernseher, um Muhammad Ali boxen zu sehen. Der zweite dieser legendären Kämpfe ist der ein Jahr später, 1975, gegen Joe Frazier, Ali nennt ihn den Thrilla in Manila, und wahrscheinlich ist es der berühmte eine Kampf zu viel gewesen. Für beide.

Er macht Show, trifft aber den Ton nicht mehr

Wieder zieht Ali seine Show ab, aber trifft den Ton nicht mehr, er nennt Frazier „Onkel Tom“, einen, der sich bei den Weißen anbiedert. Frazier hat ihm das nie verziehen. In der Schwüle der philippinischen Hauptstadt prügeln die beiden Veteranen mit nie gesehener Härte aufeinander ein. Nach einem Haken Alis fliegt Fraziers Mundschutz durch den Ring. Sein Gesicht schwillt an, das linke Auge ist längst geschlossen. Vor der letzten Runde zwingt ihn sein Trainer zur Aufgabe. Ali hebt kurz den Arm zum Jubel, dann bricht er zusammen. Später sagt er: „Wir kamen als junge Champions nach Manila und gingen als alte Männer.“

Doch auch ein müder Ali ist ein Kassenmagnet, also boxt er noch sechs Jahre weiter und gewinnt 1978 gegen Leon Spinks ein drittes Mal die Weltmeisterschaft, das ist bis heute unerreicht. Als er es 1980 ein viertes Mal versucht, gegen seinen früheren Sparringspartner Larry Holmes, schleppt sich da nur ein müder Schatten durch den Ring. Nach zehn Runden muss Ali aufgeben und will doch immer noch nicht wissen, dass seine Zeit vorbei ist. Die Black Muslims drängen ihn ein Jahr später zu einem letzten Comeback, und weil er in den USA wegen seiner Parkinson-Erkrankung keine Lizenz mehr erhält, weicht Ali auf die Bahamas aus. Ein mittelmäßiger Rummelboxer namens Trevor Berbick beendet mit einem Punktsieg die Karriere des größten Boxers der Welt. Als Frazier 2011 an Krebs stirbt, erweist ihm Ali bei der Trauerfeier die letzte Ehre, schwer gezeichnet von Parkinson, eine Folge allzu vieler Kopftreffer.

Als Legende aber lebt er weiter. Über das Drama von den Bahamas hinaus, über die Olympischen Spiele in Atlanta, als er mit zitternder Hand das Olympische Feuer entzündete. Über die seltener werdenden Auftritte in der Öffentlichkeit, den Besuch in Berlin, als er hohe Berge malte, mit zackigen Gipfeln und tiefen Tälern. „Muhammad Ali hat die Welt ein bisschen besser gemacht“, sagt sein Biograph Jan-Philipp Reemtsma. „Und wenn man das von einem Menschen sagen kann, ist doch wohl alles in Ordnung.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

Zur Startseite