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Hanan Amri, Schwester von Anis Amri, mit einem Porträt ihres Bruders
© AFP/Faouzi Dridi

Anis Amris Leben in Berlin: Der Möchtegern-Gotteskrieger

Drogen, Glücksspiel, Prügeleien – Anis Amri wollte ein Gotteskrieger sein, doch er lebte wie ein gewöhnlicher Krimineller. Von Neukölln bis Spandau finden sich Spuren. Unser Blendle-Tipp.

An einem Julimontag sitzen am frühen Morgen ein paar Männer in einer winzigen Bar in Neukölln. Wobei es Bar nicht trifft. Zwei Spielautomaten, ein Tresen, im abgewetzten Regal dahinter 25 Flaschen Wodka, Rum, Whiskey. Die preiswerten Marken. Polizisten kennen diesen Laden in der Hertastraße. Hier sollen sich Dealer und Hehler treffen, gelegentlich werde Prostitution und Schwarzarbeit vermittelt.

In jene Bar tritt, da ist es 6.25 Uhr, Anis Amri ein, der Mann, der fünf Monate später im Namen der Terrormiliz IS einen Truck in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz steuern und kurz vor Heiligabend auf der Flucht nahe Mailand erschossen werden wird.

Spirituosen, Prostitution, Glücksspiel. Und mittendrin ein Gotteskrieger? Was unmöglich zusammenzupassen scheint, ist doch bezeichnend für Amris Leben. Aus den Spuren seiner Monate in Berlin, die Ermittler rekonstruieren, ergibt sich das Bild eines Mannes, der nur wenig über die Theologie des Islam zu wissen scheint. Der eher ein Gescheiterter ist, seiner tunesischen Heimat entwurzelt, in Deutschland nie angekommen. Ein gewöhnlicher, ungebildeter Krimineller. Aber einer, der sich zuletzt auf dem Weg ins Paradies wähnte. Und es spricht manches dafür, dass Anis Amri typisch ist für eine Generation von Terroristen.

Er vagabundierte durch die Stadt, soll bei Bekannten geschlafen haben

Was Amri in der Neuköllner Bar will, ist unklar. Eine Woche nach dem Anschlag am Breitscheidplatz ist der Laden zwar offen, hinterm Tresen aber steht niemand. Abends und am nächsten Morgen sitzen zwei rauchende Männer im Raum. Sie scheinen zu warten, schütteln bei Fragen aber nur den Kopf. Gesichert ist, dass Amris Begleiter, ein Libyer, in jener Julinacht auf einen Mann einsticht, der vor einem der Spielautomaten hockt. Die Angreifer flüchten, das Opfer, selbst Kleindealer, rettet eine Not-OP.

Anis Amri ist da für die Berliner Polizei kein Unbekannter mehr. Bereits seit drei Monaten lässt der Generalstaatsanwalt gegen ihn ermitteln. Der Tunesier wird der Vorbereitung einer „staatsgefährdenden Straftat“ verdächtigt, es gibt dafür Hinweise aus Nordrhein-Westfalen, wo Amri vorher lebte. Weil sein Telefon abgehört wird, erfahren die Ermittler vom Vorfall in der Neuköllner Bar. Da Amri nicht selbst zustach, reicht es nicht für einen Haftbefehl. Wieder einmal nicht.

Von den 850 Salafisten, ultrareaktionären Muslimen, die in der Stadt leben, gelten 150 als Gefährder, potenzielle Terroristen. Amri ist nur einer von ihnen. Die Polizei hat zu wenig Personal, sie alle zu überwachen. Und doch bekommen die Ermittler wohl diverse Straftaten Amris mit: Drogenhandel, Prügel, Drohungen.

Ab April 2016 beobachten Fahnder ihn im Görlitzer Park. Dort wird mit schlechtem Haschisch gedealt, seltener mit noch schlechterem Kokain. Amri, heißt es, vagabundierte durch die Stadt, soll bei Bekannten geschlafen haben, in Kreuzberg, Wedding und Moabit.

Ob er Komplizen hatte, wissen die Ermittler noch nicht. Erst in der Nacht zu diesem Mittwoch gibt es auf der Suche nach Helfern zwei Razzien. 70 Beamte fahren zum Gelände eines Asylbewerberheims in der Motardstraße in Spandau. Rund 500 Männer, Frauen und Kinder leben dort. Die Ermittler durchsuchen das Zimmer eines 26 Jahre alten Tunesiers. Mit ihm hatte Amri am Vorabend des Anschlags in einem Imbiss in Gesundbrunnen zu Abend gegessen. Für einen Haftbefehl wegen Terrorverdachts reicht es nicht, aber wegen des Verdachts auf Sozialbetrug sitzt der Asylbewerber in Untersuchungshaft: Amris Freund soll in Leipzig, Mettmann und Berlin insgesamt 2500 Euro „wissentlich zu Unrecht“ bezogen zu haben. Fast gleichzeitig durchsuchen Beamte in Gesundbrunnen eine Privatwohnung, dort soll Amri bei einem anderen Bekannten übernachtet haben. Die Ermittler interessieren sich auch für zwei Moscheen, in denen Amri betete. Beide sind Staatsschützern seit Jahren bekannt. Die Moschee „Fussilet 33“ in Moabit wird kurz nach der Tat am Breitscheidplatz von einem Spezialeinsatzkommando, dem SEK, durchsucht. Der Verein gilt als zentraler Treff gefährlicher Islamisten, die Kämpfer für den Krieg in Syrien angeworben haben sollen. Ein paar hundert Meter entfernt nahm Amri sein Bekennervideo auf, in der Nähe raubte er auch den Laster. Das Gotteshaus ist seit der Razzia verschlossen geblieben, der Berliner Senat prüft ein Verbot des Moscheevereins.

Das SEK stürmt die Moschee

Inzwischen ist bekannt, dass Amri auch die Seituna-Moschee in Charlottenburg besucht haben soll. In einem Siebziger-Jahre-Bau in der Sophie-Charlotten-Straße befindet sich ein Lidl, darüber sind die Gebetsräume. Die Moschee gilt nicht als Treff militanter Dschihadisten, aber als Ort für ideologische Hardliner. Viele Besucher sympathisieren mit den Muslimbrüdern. Die allerdings sind mit dem IS verfeindet. Vor einem Jahr stürmte das SEK auch diese Moschee. Ermittler vermuteten, dass dort Sprengstoff gelagert werden sollte, was unbewiesen blieb. Wollte Amri hier beten?

An einem Abend kurz nach Amris Tod. Ein Aufkleber der Moschee weist auf eine Überwachungskamera hin. Kurzes Klopfen, Klinke, die Tür ist offen, dann ein menschenleerer Raum, der wie ein Gemischtwarenladen mit Kantine aussieht. Tische an der Fensterfront, aufgeräumte Regale, Tresen. Es werden 0,5-Liter-Flaschen heilsamen Wassers für 3,50 Euro und Hamburger für 2,50 Euro angeboten. An der Wand neben dem Tresen, weit vor den Gebetsräumen, ein Schild: „Nur für Mitglieder“ steht da in Deutsch und Arabisch. Aus den Tiefen der Etage erscheint ein Mann in ...

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