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Schweigsam. Als Silvio S. in den Saal geführt wird, verdeckt er sein Gesicht vor den Kameras der Fotografen. Ganz links: sein Verteidiger Mathias Noll.
© AFP

Silvio S. vor Gericht: Der Mann, der Elias und Mohamed umbrachte

Er hat die Biografie eines Verlierers. Schüchtern, gehänselt. Doch das reicht nicht, um zu erklären, warum Silvio S. zwei kleine Jungen ermordete, Elias und Mohamed. Am ersten Prozesstag sagt er nur drei Wörter.

Es fällt schwer, sich Silvio S. als Monster vorzustellen. Als jemanden, der tut oder auch nur theoretisch tun könnte, was der Staatsanwalt da eben minutenlang vorgetragen hat. Der Mann, der in Saal 8 auf der Anklagebank sitzt, zittert an beiden Händen. Er wirkt zerbrechlich, blinzelt viel, atmet schwer. Reibt sich die Augen. Seine Schultern hängen.

Andererseits: Wie sollte einer auch aussehen, damit man sagt, dem traut man derart Grauenvolles zu?

Silvio S. blickt an diesem Dienstag nicht oft in Richtung der Prozessbeobachter, aber wenn er es tut, dann schaut man direkt in das Gesicht, das ganz Deutschland von den unscharfen Fahndungsfotos kennt. Es ist nur viel schmaler geworden. Eingefallener. Erledigter.

Seine Haare sind in den sieben Monaten seit der Festnahme grau geworden. Der zu weite Kapuzenpulli kann seine Schlaksigkeit nicht verdecken. Mindestens zehn Kilo hat der abgenommen, flüstert einer hinten auf der Zuhörerbank. Ach was, glaubt ein anderer, 15!

Es gab viele Morddrohungen gegen den Angeklagten. Weil das Potsdamer Landgericht keine Säle mit schusssicheren Panzerglasscheiben hat, weil Silvio S. nur wenige Meter und ein hüfthohes Holzgeländer von den Zuhörern trennen, hat die Polizei am Morgen jeden Einzelnen gründlich abgetastet, der ins Gebäude wollte. Gleich zu Beginn, noch bevor Silvio S. in den Saal geführt wurde, hat der Richter alle Anwesenden gewarnt, er werde keine Beleidigungen dulden. Und dass Zwischenrufe geahndet werden müssten, „trotz der Emotionen, die hier womöglich aufkommen“.

Tatsächlich bleibt es still, als der Staatsanwalt vorträgt, was Silvio S. zur Last gelegt wird. Die Beschreibungen sind so detailreich und explizit, dass Referendare schockiert das Gesicht verziehen. Es ist schlimmer als das, was bisher in der Presse zu lesen war.

Am 8. Juli 2015 soll Silvio S. den sechsjährigen Elias in Potsdam-Schlaatz auf die Rückbank seines Autos gelockt haben. Dort soll er seinem Opfer eine Gesichtsmaske aufgesetzt und einen Knebel angelegt haben. Ein Metallring des Knebels habe dafür gesorgt, dass Elias seinen Mund nicht mehr verschließen konnte. Versuchter sexueller Missbrauch, sagt die Staatsanwaltschaft. Weil der Junge sich wehrte und schrie, habe Silvio S. ihn erwürgt.

Drei Monate später die nächste Tat: Auch den vierjährigen Mohamed, den er vom Lageso-Gelände in Moabit entführt hatte, setzte Silvio S. auf die Rückbank seines Autos. Diesmal fuhren sie nach Niedergörsdorf im Landkreis Teltow-Fläming, dort wohnte er in zwei Zimmern im oberen Stockwerk seiner Eltern. Sie haben dort übernachtet, am nächsten Morgen schauten sie fern, dabei soll Silvio S. begonnen haben, den Vierjährigen zu missbrauchen. Der habe sich, obwohl er bereits durch ein Schlafmittel betäubt war, gewehrt. Schließlich habe Silvio S. den Kopf des Kindes mit Gewalt in seinen Schoß gedrückt. Als der nach seiner Mutter schrie, habe Silvio S. ihn erdrosselt.

Silvio S. benimmt sich seltsam vor Gericht

Mohameds Mutter ist als Nebenklägerin im Gerichtssaal. Sie wirkt abwesend. Auch Silvio S. benimmt sich seltsam. Wann immer der Staatsanwalt drastische Worte benutzt, Silvios mutmaßliche Handlungen und Forderungen konkret benennt, anal, oral, Penis, anfassen, senkt Silvio S. den Blick oder schließt gleich ganz die Augen. So als könnte er die schlimmsten Stellen schwärzen.

Der Angeklagte wird an diesem Tag nur drei Wörter sprechen. Er bejaht die Fragen, ob er Silvio S. heiße und ob er ledig sei. Sein drittes Wort sagt er, als der Richter wissen möchte, ob der Angeklagte zu den Vorwürfen Stellung nehmen wolle: „Nein“. Er sagt es ganz bestimmt, aber freundlich im Ton. Der Richter hakt nach: Ob er sich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt äußern möchte? Silvio S. blickt nach rechts zu seinem Anwalt, und der sagt: „Gegebenenfalls.“

Mathias Noll heißt der Mann, er hat seine Kanzlei hier ganz in der Nähe, 700 Meter Richtung Park Sanssouci, Schweiß glänzt auf seiner Stirn. Silvio S. und Mathias Noll kannten sich nicht, als sich Silvio S. Ende Oktober meldete und fragte, ob Noll ihn vertrete. Der war selbst überrascht. Er ist kein Spezialist für die Verteidigung von Sexualverbrechern. Silvio S. hatte nach seiner Festnahme, kurz bevor die Polizei ihn fortbrachte, schlicht nach einem Anwalt gegoogelt.

Beim Treffen am ersten Abend riet Mathias Noll ihm dringend zu schweigen. Aber auch Anwälte müssen schlafen gehen, und als Noll am nächsten Morgen zurückkam, hatte Silvio S. schon gestanden. Das sei ihm ein Anliegen gewesen, sagen Ermittler.

Es würde so vieles erleichtern, könnte man Silvio S. als Monster betrachten. Es gäbe keinen Druck mehr, sich erklären zu müssen, wie ein Mensch zu so etwas fähig ist.

Dies gilt auch für andere scheinbar unfassbare Verbrechen der jüngeren Vergangenheit. Da waren die zwei Berliner, die 2015 eine hochschwangere 19-Jährige im Wald mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leib verbrannten. Oder das erst kürzlich verhaftete Paar aus Höxter, das jahrelang Menschen gequält und zwei auch getötet haben soll. Die Fritzls. Die Priklopils. Der Kannibale von Rothenburg. Muss man versuchen, solche Menschen zu verstehen?

Der erste Prozesstag gegen Silvio S. wird mehrfach unterbrochen. Die Verteidigung beantragt, die Öffentlichkeit von der Verhandlung auszuschließen, weil ihr Mandant in den Medien bereits vorverurteilt werde, man ihn nicht zusätzlich an den Pranger stellen solle.

Während das Gericht den Antrag berät, stehen die Prozessbeobachter draußen und warten. Ein Mann sagt, er sei gekommen, weil er für seinen Roman recherchiere. Eigentlich wollte er über einen Narzissten schreiben, aber ein Mörder sei auch okay. Ein Fernsehteam filmt eine weinende Frau, die Reporterin fragt, wie schlimm es war, die furchtbaren Details der Anklage zu hören. „Sehr schlimm“, sagt die Frau, und nun weint sie noch mehr. Eine andere sagt, sie hoffe, der Richter werde nicht zu nett sein zu dem Angeklagten. Er sehe leider danach aus. Sie selbst sei in solchen Fällen grundsätzlich für die härtestmögliche Strafe, obwohl, wenn sie das Häufchen Elend auf der Anklagebank betrachte ...

Das ist das Problem. Im Internet stand schon kurz nach der Tat: „Einfach an die Wand stellen.“ Eine Meinung, wie sie auch von einem sächsischen Landtagsabgeordneten der CDU vertreten wurde. Doch sie lässt sich nur durchhalten, wenn der Täter fremd bleibt, unmenschlich.

Silvio S. hat die Biografie eines Verlierers. In der Schule viel gehänselt, kaum Freunde, schüchtern und unscheinbar, keiner, der andere interessiert. Er will Kfz-Mechaniker werden, doch die Noten sind zu schlecht. Er beginnt zweimal eine Kochlehre, zweimal wird er entlassen. Auch als Fliesenleger mag ihn keiner dauerhaft anstellen. Mit Anfang 30 hat er keine Freundin, er hatte noch nie eine. Silvio S. wird Wachschützer, ist nun immer nachts unterwegs, da hat er keine Menschen um sich. Auch keine, die ihn seltsam finden können. Er arbeitet bei einem Teltower Sicherheitsunternehmen, patrouilliert vor Beton- und Kieswerken in der Gegend.

Darf man Mitleid mit dem Täter haben?

Je mehr man sich in die Biografie dieses Menschen vertieft, desto stärker kommt ein Gefühl auf, das sich unerhört anfühlt: Mitleid. Darf man es haben? Darf man sich fragen, ob dieser Mensch früher Hilfe gebraucht hätte und ob zwei unschuldige Jungen dann jetzt noch am Leben sein könnten?

Als erste Zeugin ist Anita S., 26, geladen, die Mutter von Elias. Sie spricht mit leiser Stimme. Erzählt, wie sie mit ihrem Sohn 2014 nach Schlaatz zog. Dass Elias recht klein für sein Alter war und noch sehr kindlich wirkte. Dass er in der Schule manchmal geärgert wurde. Dass er anderen Menschen gegenüber sehr offen war, aber nur denen, die er kannte: „Er war ein vorsichtiger Junge.“

Anita S. sagt, sie habe ihrem Sohn eingebläut, niemals einem Fremden die Tür aufzumachen. Und dass es, neben den vielen guten, auch böse Menschen gebe, die anderen weh tun wollen. Da schließt Silvio S. wieder die Augen.

Eine der wichtigen Fragen wird sein, ob er schuldfähig war. Der Richter lässt bereits am ersten Tag durchblicken, dass dies nach dem vorläufigen Gutachten des Sachverständigen wohl der Fall ist. Ob die Verteidigung die Schuldfähigkeit anzweifeln werde, könne er zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, hat Anwalt Noll am Tag vor Prozessbeginn erklärt.

In Saal 8 sitzt Silvio S. den Müttern von Elias und Mohamed frontal gegenüber. Doch zumindest heute gibt es keinen Blickkontakt. Seine Hände hat der Angeklagte meistens ineinander verschränkt vor sich auf der Tischplatte abgelegt. Der Daumen der einen tippt nervös auf die andere.

Seine eigene Mutter wird auch geladen, an einem der nächsten Verhandlungstage. Sie ist in den vergangenen Monaten als Heldin gefeiert worden, als Lichtblick in dieser dunklen Geschichte, und das war ihr unlieb. Es hieß, sie habe Silvio S. Ende Oktober auf einem der Fahndungsbilder erkannt und daraufhin die Polizei gerufen. Ihren eigenen Sohn verraten, weil es das Richtige war und lebenswichtig für Söhne und vielleicht Töchter von anderen Eltern. Weil Silvio S. sonst womöglich weitergemacht hätte. So war es aber nicht, hat die Mutter später erklärt. Sie hatte Silvio, nachdem sie ihn wiedererkannt hatte, zur Rede gestellt, er hat nicht geleugnet. Er habe auch gesagt, er wisse selbst, dass er sich der Polizei stellen müsse. Er sei dann aber noch mal losgefahren, angeblich, um Beweismittel zu holen. Als er nach einer Stunde nicht zurück war, hielt die Mutter es nicht mehr aus und rief die Polizei - sie fürchtete, ihr Sohn sei gegen einen Baum gefahren.

War er nicht, er hatte tatsächlich ein Beweismittel geholt. Die Leiche von Mohamed, gelagert in einer gelben Plastikbadewanne, überhäuft mit dem Inhalt von zwei Säcken Katzenstreu, gegen den Geruch. Er gab der Polizei den Tipp, die Wanne liege im Kofferraum.

In einem hat Silvio S. seiner Mutter allerdings wohl die Unwahrheit erzählt: Er behauptete, er habe seine Taten nicht geplant, weder das Töten noch die Entführungen. Zum Lageso etwa sei er Anfang Oktober nur gefahren, um zu sehen, ob er Flüchtlingen helfen könne. Das stimmt nicht, sagt die Staatsanwaltschaft. Sie haben viele Indizien in seiner Wohnung gefunden. Kinderpornos, Kinderkleidung. Er soll den Missbrauch an Puppen geübt, die Handlungen gefilmt haben. Auch einen handgeschriebenen Zettel fanden die Beamten in der Wohnung. Auf dem stand: „Richtige Kinder fesseln und knebeln.“

Ganz zum Schluss des ersten Verhandlungstages wendet sich der Richter noch einmal an den Angeklagten. Er bitte ihn inständig und werde dies auch zu Beginn des nächsten Verhandlungstages tun, sich zu den Vorwürfen zu äußern und für Aufklärung zu sorgen. Die Mütter von Elias und Mohamed hätten „einen Anspruch darauf zu erfahren, was passiert ist. Es gibt nur einen, der was weiß. Das sind Sie.“ Silvio S. schweigt und schaut seinen Anwalt an.

Mitarbeit: Alexander Fröhlich

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