Andreas Kahl aus Berlin: Der Mann, der den Osten tätowierte
Mit 15 bekommt er in der DDR sein erstes Tattoo. „Weil die sich aufregten“, sagt Andreas Kahl. Später legten sich Rocker unter seine Nadel. Heute besuchen Minister Tattoostudios – und selbst Großmütter lassen sich stechen.
Die Rose mit dem Dolch. Damit fing für Andreas Kahl alles an. Seine erste Tätowierung, mitten auf dem Oberschenkel. Ein Mithäftling hat sie ihm gestochen, im DDR-Jugendheim, Vorstufe zum Knast. Fast 40 Jahre ist das her. Aber an das Gefühl erinnert sich Kahl genau: Rausch, Schmerz, Stolz auf dieses Stückchen Freiheit auf seiner Haut.
„Es ging um Protest. Ich wusste, darüber regen die sich auf“, sagt Andreas Kahl, in schönster Berliner Schnauze. In seinem Friedrichshainer Tätowierstudio bereitet der drahtige 52-Jährige seinen Arbeitsplatz für den nächsten Kunden vor. Desinfizieren, den Tisch mit Folie abkleben, Tätowiermaschine holen.
Dem System den Mittelfinger zeigen
Sein ganzer Körper zeugt heute von seinem Hunger nach Freiheit. Die Haut, eine Landkarte seiner Vergangenheit. Über seinem ausgeschnittenen T-Shirt ist selbst der Hals bis unters Kinn tätowiert. Andreas Kahl, von allen Kalle genannt, war der Erste, der nach der Wende ein Tattoo-Studio in Ost-Berlin aufmachte. Dienstältester also. Der Laden ist die Erfüllung eines Lebenstraums. Tätowieren und tätowiert sein – für ihn Rebellion. Sich abgrenzen vom Mainstream, dem System den Mittelfinger zeigen.
Wer sich heute noch mit einem Tattoo abgrenzen will, hat es schwer. Für die Deutschen im Jahr 2016, so scheint es, sind Tattoos normal. Mehr als zehn Millionen haben mittlerweile Farbe unter der Haut. Allein in Berlin gibt es rund 1000 Tätowierstudios, 7000 in Deutschland. Jahresumsatz 2012: rund 50 Millionen Euro. Die Branche floriert, zur „Tattoo Convention“ in Berlin-Treptow werden ab diesem Freitag wieder tausende Besucher erwartet.
Der Boom hat aber auch etliche unseriöse Geschäftemacher angezogen, zumal sich jeder Tätowierer nennen darf, der einen Gewerbeschein und das passende Equipment vorweisen kann.
Kürzlich besuchte Agrarminister Christian Schmidt von der CSU, zuständig für Verbraucherschutz, ein Studio in Mitte. Vor dem „Classic Tattoo“ warb Schmidt für sicheres Tätowieren. Der Minister fordert europaweite Regelungen zu den Stoffen in den Tätowiermitteln. Außerdem will er erreichen, dass Tätowierer nur dann einen Gewerbeschein bekommen, wenn sie Fachwissen über Hygiene vorweisen können. Die einstige Subkultur gerät in den Fokus der großen Politik.
"Da drin haben wir den Stein ins Rollen gebracht"
Kahl ist Zeuge dieser Entwicklung. Zu den Rockern und Punks, die anfangs seine Kunden waren, sind über die Jahre Banker gekommen, Polizisten und Rentner. Er hat Knackis tätowiert, aber auch Teenager. Hat Totenköpfe auf die Haut gebracht, aber auch Tattoos über dem Steiß – die sogenannten Arschgeweihe, die vor wenigen Jahren vor allem bei jungen Frauen beliebt waren. Und so erzählt die Geschichte des Andreas Kahl viel darüber, wie das Tattoo vom Symbol für Protest zum Mainstream geworden ist.
Erste Station der Zeitreise: Berlin-Lichtenberg. Nur noch selten zieht es Andreas Kahl dorthin, wo er nach der Wende sein erstes Tätowierstudio eröffnete. In Lederjacke und Sonnenbrille macht er sich nun noch einmal auf den Weg. Vorbei an den Neubauten, an ehemals besetzten Häusern. Dann steht er vor dem unscheinbaren, mintgrünen Haus in der Pfarrstraße, ein saniertes Stückchen Ost-Berlin. „Da drin“, sagt Kahl, „hat alles angefangen. Da haben wir den Stein ins Rollen gebracht. Da krieg’ ich ’ne Gänsehaut.“
In der DDR waren Tattoos ein Stigma
Als Kahl und sein Geschäftspartner 1991 anfingen, den Laden herzurichten, gab es in der Pfarrstraße etliche einst besetzte Häuser. Kahl zeigt auf die andere Straßenseite. „Da war immer Action.“ In seiner Stimme schwingt eine leichte Wehmut mit, die sofort auftaucht, wenn es um die wilden Jahre nach der Wende geht. Der Laden war ein Erfolg.
„Die Ost-Kinder waren nach der Wende alle hungrig nach Tattoos“, sagt Kahl. Denn in der DDR waren Tattoos ein Stigma. Eine Gewerbeerlaubnis bekam dafür niemand. Wer tätowiert war, galt als asozial oder Ex-Knacki. Im Tattoo-Studio von Kahl begann der Siegeszug des Tätowierens im Osten.
Als die Mauer fällt, sitzt Kahl in Einzelhaft
Bis zur Erfüllung seines Traums war sein Leben, so sieht es Kahl, von Eingesperrtsein geprägt – und von Wut. Kahl wird 1964 geboren, sein Hass auf die DDR beginnt früh. Mit zehn nimmt man ihn den Eltern weg, angeblich erziehen sie ihr Kind nicht richtig. Kahl kommt in ein Heim nach Mecklenburg-Vorpommern. Erst vier Jahre später darf er nach Berlin zurück. Er boykottiert die Schule, lebt in den Tag hinein, trinkt Alkohol und raucht. Es geht nicht lange gut.
Mit 15 wird Kahl wieder weggesperrt, diesmal Jugendwerkhof. Das Tattoo mit der Rose und dem Dolch – Symbole für Liebe und Krieg – stammt aus dieser Zeit. Kahl weiß jetzt, dass er es in der DDR nicht aushält. „Ich hab’ die gehasst, die Kommunisten.“ Wenn Kahl das heute sagt, klingt jedes Wort wie ausgespuckt. Für Kahl ist klar, dass er die DDR verlassen muss. 1982 reicht er an seinem 18. Geburtstag einen Ausreiseantrag ein. Er will ein Tattoo-Studio aufmachen. „Der Plan war, dass nie wieder ein Mensch über mein Leben bestimmt.“ Der Ausreiseantrag wird nie bewilligt.
Wer im Knast stechen will, muss erfinderisch sein
Bald nach seinem 18. Geburtstag landet er wegen „einer Boxerei“ – für die Justiz schlicht eine Körperverletzung – zum ersten Mal im Gefängnis. Es ist der Beginn seiner Knastkarriere – von nun an wird er nie lange auf freiem Fuß sein. 1984 kettet er sich mit einem Freund am Alexanderplatz an und fordert Freiheit für alle politischen Gefangenen. Er hofft, dass man in ausweist, wenn er nur genug Wirbel macht. Nach dieser Aktion kommt Kahl als politischer Gefangener nach Hohenschönhausen. Schlafentzug, 72 Stunden. Um nicht durchzudrehen, macht Kahl Sport, zig Liegestütze. Er denkt: Wenn die mich brechen wollen, müssen sie mich schon umbringen. Im selben Jahr lernt er im Knast seinen Mentor Freddie kennen.
Freddie weist ihn in die Kunst des Tätowierens ein. Denn wer im Knast stechen will, muss erfinderisch sein. Für die Farbe verbrennen sie Plastikteile auf einem Löffel, mischen den Ruß mit Marmelade. An einer Zahnbürste wird ein angeschliffener Bohrer oder eine Nadel befestigt, die die Farbe unter die Haut bringen soll. Beliebt bei den Gefangenen sind westliche Motive, die für Kapitalismus stehen, der Mercedes-Stern zum Beispiel. Kahl selbst lässt sich einen Bundesadler auf den Solarplexus tätowieren.
Von der Zeit im Gefängnis zeugt Kahls Körper
Immer wieder landet er in Einzelhaft. Denn für Tätowieren oder Tätowiertwerden gibt es 21 Tage im Bunker. Auch am 9. November 1989 ist Kahl in Einzelhaft. Der Wärter, der das Essen vorbeibringt, sagt: „Die Mauer ist offen.“ Am 13. November – so erinnert Kahl sich – wird er freigelassen.
Von der Zeit im Gefängnis zeugt Kahls Körper auch heute noch. Während viele Motive verblasst sind oder von neuen Tattoos überdeckt, ist eines noch ziemlich gut zu sehen: die Freiheitsstatue auf seinem Rücken. Kahl zieht in seinem Friedrichshainer Studio die schwarzen Gummihandschuhe über. Vor ihm sitzt, gelbes T-Shirt, gebräunte Haut, Marcel, ein Kunde. Dessen rechten Arm bedecken Stephen-King-Figuren. Mit den wackeligen Knast-Tätowierungen hat das wenig gemein, die feinen Schattierungen gleichen eher einem Gemälde. Kahl will es heute vollenden. Fast seriös sieht er aus mit seiner schwarz umrahmten Brille. Konzentriert zeichnet er mit dem Kuli die Fliege des kinderfressenden Clowns Pennywise auf Marcels Haut. Dann legt er das Tätowiergerät bereit, schaut Marcel an. „Ready?“ Marcel nickt. „Dann los.“ Ein Summen ertönt, die Nadel berührt die Haut, Farbe spritzt. Marcel verzieht keine Miene.
"Der ist so krass. Der zuckt nicht mal"
Warum lassen sich Leute heute tätowieren? „Das ist Körperkult, eine Art der Selbstdarstellung“, sagt Kahl, zuckt mit den Achseln. Für jeden bedeute sein Tattoo etwas anderes. Eine Liebe, ein Verstorbener, Musik. Ist es eine Sucht? „Tattoos sind wie Joints. Wenn man den einen Arm tätowieren lässt, kommt auch noch der andere dran.“ Kahl setzt das Tätowiergerät ab und wischt Marcel das Blut von der Haut. Die Fliege des bösen Clowns ist mittlerweile mit feinen Schattierungen gefüllt, Marcel schaut noch immer ausdruckslos. Kahl lacht: „Der ist so krass. Der zuckt nicht mal.“ Er selbst habe bis heute bei jedem Tattoo Schmerzen gehabt. „Ein ganz schöner Krampf immer wieder.“
Der Wandel erfasst auch Kahl selbst
Als Kahl nach dem Mauerfall zurück in Berlin ist, geht er als Erstes die alten Freunde suchen. Doch an den Treffpunkten von früher ist niemand. Einer gibt ihm dann den Tipp: Die sind jetzt alle drüben, hängen im Café Sunset am Zoo rum. Als Kahl da ankommt, wird aus dem Wiedersehen eine Riesenparty. „Das war das erste Mal in meinem Leben“, sagt er, „dass ich so etwas wie Freiheit gespürt habe.“ Dann 1991 die Eröffnung seines Ladens in der Pfarrstraße.
Anfangs kommen harte Kerle, Skinheads sind darunter, Hooligans, Rocker und Punks. Doch über die Jahre verändert sich die Kundschaft. Mütter ziehen ihre Töchter nicht mehr auf die andere Straßenseite, wenn sie an einem Tattoo-Geschäft vorbeikommen – sondern schreiben ihren Töchtern die Erlaubnis für ein Steißtattoo. Selbst Omas lassen sich von Kahl stechen.
Die Steißtattoos haben sich gelohnt
Kahl findet diese neue Akzeptanz gut, kann aber nicht jeden Tattoo-Wunsch verstehen. Sternchen hinterm Ohr? Tigerflecken auf der Haut? Kahl verzieht das Gesicht. Sagt aber: „Jeder Mensch darf sich tätowieren lassen, was er will.“ Was er an solchen Trends verdient, will Kahl nicht sagen. Nur so viel: Die vielen Steißtattoos haben sich für ihn gelohnt.
Der Wandel erfasst auch Kahl selbst, er wird sesshaft. Mit 41 bekommt er eine Tochter – sie und das Tattoo-Studio, sagt er, seien die besten Entscheidungen seines Lebens. Als sie vier Jahre alt wird, lässt er sich ihr Gesicht auf den Brustkorb tätowieren. Mit seinem Geschäftspartner eröffnet er 2009 ein neues Tattoo-Studio in Friedrichshain. Das Umherziehen hat ein Ende, Kahl kauft in der Nähe eine Wohnung.
Die Trends kommen und gehen
Viele seiner Tattoos aus dem Gefängnis lässt Kahl mit neuen, besser gestochenen Motiven überdecken. Die Freiheitsstatue auf dem Rücken hat ein befreundeter Tätowierer in eine Collage integriert, die die Gesichter der US-Band „Ramones“ zeigt. Sein jüngstes Tattoo am Hals ist ein Adler, der einen Baseballschläger trägt – wie im Logo der Band. Die Trends kommen und gehen.
Tattoos kosten inzwischen ab 100 Euro aufwärts. In diesen Tagen sind es alte Seefahrermotive, die sich die Leute wünschen. Segelschiffe, Kanonen, Schwalben mit Liebesbrief im Schnabel. Auch die Rose mit dem Dolch, Kahls erstes Tattoo, gehört dazu. Motive wie die Grusel-Collage auf Marcels Arm findet Kahl selbst toll.
Mittlerweile hat er sich den Ellenbogen seines Kunden vorgenommen. Dort soll ein Pentagramm entstehen. Schmerzhafte Stelle eigentlich, direkt auf dem Knochen. Kahl desinfiziert den Arm und überträgt eine Vorlage auf die Haut. Er arbeitet konzentriert, redet nicht viel dabei. Auf der anderen Seite des Raumes, an dessen Wänden Kunden unterschrieben haben, plappert eine junge Frau vor sich hin. Sie lässt sich von Kahls Kollegen ihr Bein verschönern – Blumen, Sprüche und Herzen prangen schon darauf. Es sieht aus wie ein Poesiealbum.
Ein bisschen Rebellion muss sein
Die Tätowiermaschinen summen, als das Gespräch auf die Regulierungspläne von CSU-Minister Schmidt kommt, schaltet Kahl sich ein. „Jeden Sommer das Gleiche, jeden Sommer wird auf unsere Branche eingehackt. Die Politiker haben überhaupt keine Ahnung von unserem Beruf“, schimpft er. Und die sogenannten Befähigungsnachweise, ein Schutz gegen schwarze Schafe? Das findet Kahl doch nicht so schlecht.
Die meisten Politiker hält er für erpressbar, die Wahlbenachrichtigung landet immer sofort im Papierkorb. Er beschäftigt sich zwar mit Politik, verachtet aber die, die sie machen. Für den Brexit zum Beispiel hat er Verständnis. „Die Leute wollen sich halt nicht von irgendwelchen Idioten in Brüssel bevormunden lassen“, sagt er zu Marcel, als sie eine Raucherpause machen. Von einem Minister aus Bayern will sich Kahl nicht erzählen lassen, wie er seinen Job zu machen hat. So viel Rebellion muss sein.