Wahl in Mecklenburg-Vorpommern: Der Machtverlust der Kanzlerin
Jetzt wissen sie in der Union endgültig, dass Angela Merkel kein Garant mehr für den Erfolg ist. Und spüren, dass diese Wahl die politische Landschaft verändern könnte.
Es liegt in der Natur von Erdbeben, dass sie sich nicht ankündigen, bevor sie ihre zerstörerische Kraft entfalten. Mit politischen Erdbeben hingegen verhält es sich anders. Man spürt die tektonischen Verschiebungen lange, bevor die Gebäude einstürzen – und doch hoffen alle bis zum Schluss, dass die ganz große Katastrophe vielleicht doch noch abzuwenden sein wird.
Selten zuvor hat man dieses Phänomen anschaulicher beobachten können als jetzt, da sich vom Nordosten der Republik her ein dumpfes Grollen auf die Bundeshauptstadt zubewegt. Das Grollen hat einen Namen, Alternative für Deutschland, AfD. Jene Partei, die einen Landtag nach dem anderen erobert – und nun mit nationalkonservativen Parolen und durchaus freundlichen Gesichtern auch in Mecklenburg-Vorpommern die Wähler auf ihre Seite zog. Vor allem die, die schon immer mal dem Frust über die sogenannten „Etablierten“ Luft machen wollten, einer offen rechten NPD aber aus Prinzip ihre Stimme nicht geben würden.
Doch das Erdbeben, das politische, findet natürlich nicht in dem kleinen MeckPomm statt, wie das Land mit den schönen Ostseestränden, aber wenigen Menschen von allen ein bisschen geringschätzig genannt wird, die nicht dort wohnen. Die größten Erschütterungen gibt es vielmehr in den Zentralen der politischen Parteien in Berlin.
Zuvorderst natürlich im Konrad-Adenauer-Haus, wo die CDU-Granden seit nun knapp einem Jahr mitansehen müssen, wie ihre Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel an Vertrauen in der Bevölkerung verliert. Oder soll man sagen: Urvertrauen? Auf jeden Fall jene stille Überzeugung vieler, dass diese Kanzlerin alternativlos im Amt ist. Ein Zustand, den die Parteistrategen am Tiergarten natürlich lange mit Wohlwollen registrierten: Merkel, Garantin der Macht.
Seit die Chefin allerdings die Grenzen für Flüchtende aus Syrien, Afghanistan und dem Irak offen hielt, Abertausende unkontrolliert ins Land kamen und sie den hoffnungsvollen Satz „Wir schaffen das“ zur Regierungspolitik erhob, ahnen sie in der Union, dass die guten alten Zeiten sicher geglaubter Mehrheiten vorbei sein könnten. Denn seither gibt es immer häufiger dieses Gefühl in der Bevölkerung, die Kanzlerin könnte vielleicht doch nicht den Wohlstand und die Sicherheit im Land garantieren. Mehr als 30 Prozent der Wähler, sagen die Demoskopen zwar, würden auch heute noch CDU wählen, wenn morgen Bundestagswahl wäre. Vor drei Jahren allerdings waren das noch gut zehn Prozent mehr. „Der Verlust ist erdrutschartig“, analysiert einer aus der CDU-Zentrale. Resigniert fügt er hinzu, dass keiner ein wirklich überzeugendes Konzept gegen den Machtverfall besitze. Und das nur zwölf Monate vor der nächsten Bundestagswahl.
Montag spürte man das Beben in Berlin
Wie es bebt im Adenauer-Haus, merkte man am vergangenen Montag schon. Tags zuvor hatte Sigmar Gabriel zu Protokoll gegeben, seine SPD habe von Anfang an gewusst, dass man „nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen kann“ und nun sogar über eine „Obergrenze“ gesprochen. In der CDU wurde diese Botschaft des Koalitionspartners natürlich sofort verstanden: Die SPD hat bisher Merkels Flüchtlingskurs im Prinzip mitgetragen. Jetzt macht sie sich vom Acker. „Bodenlose Unverschämtheit“ nannte das CDU-Generalsekretär Peter Tauber. Und selbst aus München gab es lauten Protest. Obwohl der SPD-Vorsitzende doch eigentlich nichts anderes ausgesprochen hatte, als das, was die CSU in Bayern seit Monaten denkt. Wenn schon Horst Seehofer die Gelegenheit zur Kritik an Merkels Flüchtlingskurs auslässt, kommentiert ein CDU-Mann das Schweigen des CSU-Vorsitzenden später leise und dennoch dankbar, dann zeige das, wie groß die Anspannung sei.
Sie hoffen, dass sich die AfD selbst zerlegt. Aber keiner will drauf wetten
Erst Mecklenburg-Vorpommern, Merkels politische Heimat. Und zwei Wochen später droht der Partei in Berlin womöglich die nächste Niederlage, wenn Frank Henkel die Regierungsbeteiligung verlieren sollte. Schweigen herrschte am Sonntagabend in der CDU-Zentrale, als die ersten Hochrechnungen das Debakel aus dem Norden offenbarten. Und ein kleinlauter Peter Tauber musste gestehen: „Es geht deutlich tiefer. Man merkt: Es gibt Menschen, die haben Angst und das Gefühl, abgehängt zu sein“.
Was das mit der CDU macht, hat die Wahl in Mecklenburg Vorpommern gezeigt. 1994 gewann man hier noch knapp 38 Prozent der Stimmen, 2011 waren es noch 23, das bisher schlechteste Resultat. Und nun: Nicht einmal 20 Prozent der Wähler haben der Partei von CDU-Landeschef Lorenz Caffier, 61 Jahre, amtierender Innenminister, ihre Stimme gegeben. Niedergeschlagen steht der am Sonntagabend vor seinen Parteifreunden. Und es bleibt ihm nur darauf hinzuweisen, dass die Verunsicherung der Menschen über das Thema Flüchtlinge wie ein Mühlstein an ihm gehangen hat. Auch, wenn kaum jemand einen der Flüchtlinge zu Gesicht bekommen hat und es den meisten seiner Landsleute doch heute besser geht als vor zehn Jahren. Noch am Sonnabend, in Bad Doberan, stand Merkel neben ihm. Doch zuhören wollte der CDU-Vorsitzenden kaum noch jemand. 100, höchstens 150 Leute, hatten sich vor einer winzigen Bühne auf dem Marktplatz versammelt. Und hinter den Mikrofonen, da konnte man Angela Merkels düsterem Gesicht ansehen, dass sie längst ahnte, was da am Sonntagabend kommen wird. „Wer keine Bleibeperspektive hat“, rief sie dem Publikum noch zu, der müsse das Land wieder verlassen. Doch geholfen hat es, man weiß das nun, wenig.
Eine finstere Ahnung frisst sich in die Köpfe
In Merkels CDU frisst sich eine finstere Ahnung in die Köpfe. Sie wird durch die Berichte der Basis, der Wahlkämpfer auch aus Schwerin und den Berliner Bezirken, gespeist. Es geht um die AfD und die Frage, ob diese Sammlungsbewegung für alle Unzufriedenen ein Strohfeuer ist, das Anfang 2015 schon beinahe ausgebrannt war und nur durch die Flüchtlingskrise noch einmal angefacht werden konnte. Oder ob es sich am Ende um eine tief konservative und national orientierte politische Kraft handeln könnte, die kommendes Frühjahr in drei weitere westdeutsche Landtage und einige Monate später auch in den Bundestag einzieht. Eine Partei, entstanden am Rand von CDU und FDP, dauerhaftes Sammelbecken des bürgerlichen Protestes. Eine konservative Variante der Abspaltungsgeschichte von Linkspartei und SPD. Im Konrad-Adenauer-Haus halten sie das durchaus nicht für ausgeschlossen. „Noch hoffen wir auf Selbstzerlegung“ sagt einer, rechtsradikale Einflüsse also, die die AfD spalten und ihr Zuspruch nehmen. Aber darauf wetten will kaum einer.
Schon der Blick auf die Wahlliste im Nordosten zerstreut solche Hoffnungen: Die Kandidaten der AfD präsentierten sich als rechtschaffene Bürger. Noch dominiert zwar die Kritik am politischen Establishment. Rasch kann sich daraus aber ein Programm mit Inhalten entwickeln. Auf Dauer wird man einer solchen Kraft mit Verunglimpfung und Ausgrenzungsbeschlüssen wohl nicht beikommen können.
Der erfahrene CDU-Wahlkämpfer Peter Radunski hat darauf dieser Tage hingewiesen. Viele haben das als einen Bärendienst des Altstrategen an seiner Partei bewertet. Aber verstanden wurde die Botschaft schon. „Abwegig“ sei es, sagte Thomas de Maizière der „Welt am Sonntag“, das Erstarken der AfD allein mit Merkels Flüchtlingskurs zu begründen. Vielmehr bündele sich dort das Unbehagen angesichts von Modernisierung und Globalisierung, wie es in anderen Ländern Europas auch zu beobachten sei.
Nun soll keiner auf die Idee kommen, es handele sich um die Vorboten eines reinen CDU-Bebens – eines einzigartigen Phänomens in der bundesdeutschen Parteienlandschaft. Denn Angst vor Überfremdung schlägt natürlich auch Sozialdemokraten und der Linkspartei entgegen. Im Karl-Liebknecht-Haus wird die Linken-Spitze spätestens nach diesem Sonntag über das Ende ihres alleinigen Proteststatus im Osten nachdenken müssen. Und natürlich darüber, warum so viele ihrer linken Wähler ganz offenbar gar nichts dabei finden, die Stimme einer rechtspopulistischen Partei zu geben.
Gabriel hat ein Problem
Sigmar Gabriels Problem, seine SPD zu einer Partei zu formen, mit der man in einem Jahr bundesweit überzeugen und der CDU das Kanzleramt streitig machen kann, wird durch den Erfolg seines Parteifreundes Erwin Sellering erst einmal übertüncht. Der Parteichef deutet den Wahlerfolg von Schwerin als Bestätigung jenes Kurses, den er schon vor einem Jahr angelegt hatte: Mit viel Geld die Voraussetzung für gelingende Integration schaffen und den Alteingessenen versprechen, dass ihre sozialen Sorgen der SPD nicht weniger wichtig sind.
Ob das aber aufgehen wird und vor allem, ob er selbst Kurs auf die Kanzlerkandidatur nehmen kann, hängt zunächst davon ab, ob die SPD in zwei Wochen auch in Berlin stärkste Kraft bleiben kann. Und ob einen Tag später der Parteikonvent für das Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada (Ceta) stimmt, wie Gabriel das empfiehlt. Sonst beginnt bald auch im Willy-Brandt-Haus die Erde zu beben.
Doch wie das eben so ist mit den Vorboten von Erdbeben: Wenn man sie wahr- und dann auch ernstnimmt, ist es meist schon zu spät. Mitarbeit hmt, raw, ale