Dirk Behrendt in der JVA Plötzensee: Der Justizsenator lernt den Vollzug
Richter, Vollzugsbeamte, sogar ein Häftling fordern mehr Personal für die Justiz. Berlins Justizsenator Dirk Behrendt begreift die Kritik an ihm. Ein Porträt.
Die Kameramänner drängen einander aus dem Weg. Fünf, sechs, sieben Fotografen rangeln um den besten Platz, während sich nun auch noch die Radioreporter mit ihren Mikrofonen dazwischenschieben. All das hat er nicht erwartet. Dirk Behrendt bleibt für zwei, drei Sekunden vor dem Zaun an der Haftanstalt in Berlin-Plötzensee stehen.
So viele Reporter? Warum kommen die jetzt? Fliehen Häftlinge nicht regelmäßig, in jeder Stadt, also auch in Berlin? Über den Auflauf ist Behrendt tatsächlich überrascht. Da weiß er noch nicht, dass sogar die BBC über ihn und die geflohenen Häftlinge berichten wird.
Behrendt, seit einem Jahr der Justizsenator der Hauptstadt, schweigt erst mal. Beim Rundgang durch die Anstalt am Mittwochvormittag spricht meist der Leiter des Gefängnisses, Uwe Meyer-Odewald. Es geht dabei um allerlei Fachliches, darum, dass fünf der neun Inhaftierten, die in der vergangenen Woche abgehauen sind, nur einige Tage hätten einsitzen müssen. Darum, dass diese Männer ungefährlich seien, bloß versäumt hatten, eine Geldstrafe zu bezahlen, weshalb sie in Ersatzhaft genommen wurden. Und darum, dass aus dem offenen Vollzug jährlich Dutzende entweichen.
Eine Staatsanwältin: Wo will der Justizsenator hin?
Stimmt alles. Nur wollen das inzwischen offenbar nur wenige hören. Vielmehr interessiert sie, ob der zuständige Senator – ein Grüner vom linken Flügel der Partei – die Lage im Griff hat. Nimmt er die Sorgen um die Sicherheit der Berliner Bürger ernst? Und weshalb war am Dienstag erst von sieben Entflohenen, abends von neun Männern die Rede?
Behrendt weiß, dass die zuletzt gemeldeten Entweichungen aus dem offenen Vollzug wie üblich kaum jemanden interessiert hätten – wenn nicht am vergangenen Donnerstag deutlich härtere Jungs ausgebrochen wären. Deshalb hat der Senator zu dieser Pressekonferenz am Ort des Geschehens geladen, deshalb ist er zunächst so schweigsam. Es ist das erste Mal, dass sich Dirk Behrendt vor einer bundesweiten Öffentlichkeit rechtfertigen muss. Seit einer Woche reden die Oppositionspolitiker im Abgeordnetenhaus, aber auch Vertreter der rot-rot-grünen Koalition – und die Beamten in der Justiz sowieso – darüber, ob dieser Senator das Jahr politisch überstehen wird.
Er sei zu wenig präsent, sagt ein Richter, nun, da Juristen fehlten, weshalb immer weniger Verdächtige angeklagt, geschweige denn verurteilt werden können. Er habe noch nicht deutlich gemacht, sagt eine Staatsanwältin, wohin er wolle – und das, obwohl politische Führung in Zeiten demografischer Umbrüche und islamistischer Gefährder besonders nötig sei. Er müsse klotzen, nicht kleckern, sagt ein Häftling aus Plötzensee, es bräuchte viel mehr Personal, wenn Behrendt versuchen wollte, eine der etlichen Sicherheitslücken hier zu schließen: zu verhindern, dass mit Drogen gefüllte Bällchen über die Gefängnismauern geworfen würden.
Ein Kilo Hasch fliegt über die Gefängnismauer
In der Haftanstalt Tegel, wo schwerere Fälle einsitzen, hat vor einigen Wochen um 8.30 Uhr ein Mann ein Paket mit einem Kilogramm Haschisch über die Gefängnismauer geworfen – ein Wachmann beobachtete den kaum versteckten Wurf. Intern wird davon ausgegangen, die Lieferung diente der Ablenkung: Unbekannte könnten den Tumult danach genutzt haben, um anderes in die Anstalt zu schmuggeln. Mobiltelefone sind in der Haft beliebt – und üblich.
„Wir stehen zum Senator“, sagt der Landeschef des Bundes der Strafvollzugsbediensteten, Thomas Goiny. „Aber das bleibt nur dann so, wenn er sich ernsthaft kümmert.“ Und so wird nun Dirk Behrendt, der auch im rot-rot-grünen Senat als Linker gilt, nicht am Umgang mit Datenschutz, Bürgerrechten, Unisex-Toiletten gemessen, sondern an der Sicherheit. An strengen – oder genauer: ihre Funktion erfüllenden – Gefängnissen.
Da ist ja ohnehin dieses Bild von Berlin, zu dem Behrendt beizutragen scheint. Die Gewalttaten an Bahnhöfen, die Angriffe auf Sanitäter, Feuerwehrleute, Polizisten zu Silvester – und nun geflohene Inhaftierte. Neun an der Zahl.
So richtig ergreift Behrendt, wie meist in weißem Hemd und dunkelblauem Anzug, erst nach dem Rundgang durch die Anstalt das Wort. Der Eindruck, „hier könne jeder rein- und rausgehen wie er lustig ist“, sei falsch. Eine externe Kommission unter Leitung des Amtsgerichtspräsidenten Hans-Michael Borgas prüfe alle Vorgänge. Und mehr Wachpersonal habe er auch durchgesetzt. Rücktritt? „Jetzt geht es um Aufklärung!“
30 Monitore, 60 Kameras
Die vier Männer, mit denen die Pannenwoche des Senators begann, brachen mit Trennschleifer und Hammer eine Außenwand durch – sie flohen aus dem geschlossenen Vollzug, waren also wegen diverser Taten zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden. Die Geräte hatten sie aus der Anstaltswerkstatt – und alle vier konnten trotz funktionstüchtiger Überwachungskameras fliehen. Die Wachleute mussten an jenem Tag wie so oft 30 Monitore im Blick behalten, auf denen abwechselnd Bilder von 60 Kameras gezeigt wurden.
Dabei gilt Plötzensee – zumal der geschlossene Teil – als moderne Anstalt. Die Wachtürme sehen aus wie der Tower des nahen Flughafens Tegel. Auf dem Hof der geschlossenen Abteilung herrscht Grün statt Grau, Wein rankt eine Mauer hoch, es gibt Haustiere: Das alles soll der Resozialisierung dienen, so wie die Arbeit in der Werkstatt, aus der sich die Häftlinge bedienten.
Beschäftigung, Jobvermittlung, Wiedereingliederung – auch Behrendt spricht in Plötzensee am liebsten davon, denn darum gehe es doch: die Häftlinge auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten. Die Fernsehreporter fragen deshalb zunehmend ungeduldiger, ob das nicht Beschwichtigung sei, ob es nicht darum gehe, wie er als politisch Verantwortlicher nun Recht und Ordnung durchzusetzen gedenke.
Waren Sie, Herr Behrendt, als Oppositioneller zu arrogant?
Eine Woche lang, so schien es zumindest, hat Behrendt das nicht verstehen wollen. Vor dem Zaun in Plötzensee holt er dann aus: Die „angespannte Personalsituation“ werde sich verbessern. Die Ausbildung von 200 Justizvollzugsbeamten starte – eine Lücke, die sein Amtsvorgänger Thomas Heilmann von der CDU hinterlassen habe. Und er, Behrendt, lege auch finanziell nach. In seiner Amtszeit soll es 300 Euro mehr im Monat für die Staatsanwälte geben, die in Berlin seit Jahren weniger als in anderen Bundesländern erhalten.
In den Strafhaftanstalten arbeiten knapp 1900 Bedienstete direkt mit den Gefangenen. Rund 200 Stellen sind nicht besetzt – es fehlt stadtweit an Leuten für die Arbeit mit Häftlingen, auch weil niemand außer dem Staat diese Menschen ausbilden könnte. Unter der Vorgängerregierung, sagt Behrendt, sei da jedenfalls wenig passiert.
Zum CDU-Mann Heilmann hatte sich der Grüne Behrendt zuletzt 2014 geäußert. Zwei Männer waren damals aus der Haftanstalt Moabit geflohen. Die Gefängnisse in Berlin stammten eben aus dem 19. Jahrhundert, sagte Behrendt als oppositioneller Rechtsexperte, folglich gebe es auch Ausbrüche wie im 19. Jahrhundert. Die politische Verantwortung dafür trage Heilmann.
Eine Stunde ist Behrendt nun in der Anstalt, hat Fragen beantwortet, nun muss er los. Der Reportertross hastet hinterher, der Senator steigt in seinen Dienstwagen, ab nach Schöneberg in die Justizverwaltung, es gibt viel zu tun. Am kommenden Dienstag muss er dem gesamten Senat, also auch Bürgermeister Michael Müller, SPD, die Lage erklären. Am Mittwoch verlangen CDU, FDP, AfD im Rechtsausschuss des Landesparlaments Antworten. Und am Donnerstag wird Behrendt im Plenarsaal vor allen Abgeordneten reden.
Hätten Sie, Herr Senator, schneller klären müssen, wie viele Häftlinge nun eigentlich geflohen sind? Und waren Sie damals als Oppositioneller vielleicht zu vorschnell? Rächt sich die Ihnen auch von Grünen nachgesagte Arroganz?
Senator Behrendt: „Ich war sehr scharfzüngig.“
„Also“, sagt Behrendt gelassen, „zunächst gilt: Kein Senator hat bislang sofort alle Entweichungen von Freigängern aus dem offenen Vollzug gemeldet.“ Er habe das am Dienstag getan. Nun werde sogar ein privates Sicherheitsbüro aus Dresden die Anstalt überprüfen, einige Insassen seien schon aus dem offenen in den geschlossenen Vollzug verlegt worden. Man arbeite allerdings weiter daran, diesen meist verarmten Männern und Frauen die Ersatzhaft zu ersparen – zumal es sich oft um wenige Hundert Euro Strafgeld handelt. Er treibe die Vermittlung in Arbeit voran, es gelte das alte Motto „Schwitzen statt sitzen“.
Und mitnichten sei er abgehoben, schon sein Vater habe – auch hier, in Plötzensee! – fast 30 Jahre als Sozialarbeiter mit Häftlingen gearbeitet.
Dirk Behrendt kommt aus einem sozialdemokratischen Elternhaus, machte an einer Gesamtschule in Reinickendorf sein Abitur, studierte dann Jura – und wurde ziemlich zügig Verwaltungsrichter. Ein Überflieger, sagen einige in seiner Partei, der eben auch ein Drübersteher sei. Behrendts Aufstieg bei den Grünen hat viel mit Wolfgang Wieland – dem ersten grünen Justizsenator Berlins – zu tun. Behrendt war 1991 dessen Referent, es war die Zeit des kurzlebigen rot-grünen Senats. In den Jahren der rot-roten Koalition setzte sich Behrendt gegen die Vertreter des sogenannten Realo-Flügels seiner eigenen Partei durch, im Abgeordnetenhaus provozierte er nicht nur die anderen Fraktionen.
„Ja, stimmt schon“, sagt Behrendt. „Ich war im Abgeordnetenhaus tatsächlich sehr scharfzüngig.“
Behrendt weiß, dass er aneckt, dass er als hochnäsig gilt, dass er aber auch als Denker, als Anreger geschätzt wird. Nur, ist das auch in der Justiz so? Wo es um Ordnung, Sicherheit, Routine geht, wo die 12 000 Vollzugsbeamten, Staatsanwälte, Verwaltungsfachleute und Richter eben vor allem eines wollen: verlässliche Abläufe, also einen Senator, der sie schützt, der die Mangelverwaltung bekämpft.
Am Mittwoch verteidigt Anstaltsleiter Meyer-Odewald den niedrigen Sicherheitsstandard zumindest im offenen Vollzug: Das knapp bemessene Wachpersonal werde bewusst auf den geschlossenen Strafvollzug konzentriert, um die Berliner vor den gefährlicheren Häftlingen zu schützen. Danach gefragt, wie viele der 42 im vergangenen Jahr aus dem offenen Vollzug entwichenen Häftlinge zurückgekehrt seien, sagt er: „Die meisten“.
Anruf bei Wolfgang Wieland, dem Elder Statesman, dem Amtsvorgänger, dem Parteifreund: Behrendt arbeite transparent und fair, sagt Wieland, auch in dieser Plötzenseer Ausbruchskrise. Vielleicht aber sollte er der Justiz, ihren Vollzugsbeamten, Richtern und Anklägern ein wenig deutlicher zeigen, dass er zuerst für sie da ist.