Auschwitz-Prozess in Lüneburg: "Ich bin gekommen, um mich zu erinnern"
Wenn vor dem Landgericht Lüneburg heute der Prozess gegen den „Buchhalter von Auschwitz“ beginnt, spielen die Nebenkläger eine besondere Rolle. Sie wollen ihren in den Gaskammern ermordeten Verwandten eine Stimme verleihen.
Ein halbes Jahrhundert hat Hedy Bohm gebraucht, um sich ihren Erinnerungen zu stellen. „Eine lange Zeit konnte ich mich nicht erinnern, ich habe nicht gewagt, mich zu erinnern“, sagt die 87-Jährige. Doch nun ist sie aus Toronto nach Lüneburg gereist, weil sie als Nebenklägerin im Prozess gegen den früheren „Buchhalter von Auschwitz“ auftritt. Ab diesem Dienstag muss sich der 93-jährige frühere SS-Unterscharführer Oskar Gröning vor dem Landgericht Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 300.000 Menschen verantworten.
Für die 67 Nebenkläger bedeutet der Prozess viel, schließlich wird er ihnen die Gelegenheit geben, über ihre ermordeten Verwandten zu sprechen. Hedy Bohm selbst hat Auschwitz überlebt, ihre Eltern wurden in dem Vernichtungslager ermordet. „Ich bin gekommen, um mich zu erinnern und alles noch einmal zu durchleben“, sagte Bohm am Montag in Lüneburg. In Auschwitz sei sie ein Niemand gewesen, eine Sklavenarbeiterin. Jetzt stehe endlich ein früherer SS-Mann vor Gericht. „Es ist für mich eine Gabe des Schicksals, dass ich ihm in die Augen sehen kann, dass ich ihn auf der Anklagebank sehe.“ Es gehe ihr nicht um Rache, betont die zierliche kleine Frau mit den kurzen grauen Haaren, die mit ihrer Tochter nach Lüneburg gekommen ist. Die Strafe sei zweitrangig. Dass der Prozess überhaupt stattfindet, ist aus ihrer Sicht das Entscheidende.
Den Opfern eine Stimme geben
„Der Gerichtssaal ist der Raum, in dem durch Achtung der Nebenkläger geraubte Menschenwürde zurückerstattet werden kann“, betonten fünf Nebenklageanwälte in einer gemeinsamen Erklärung vor Prozessbeginn. Gerechtigkeit gebe es für die Nebenkläger nur dann, „wenn nicht nur Zahlen ermordeter Opfer im Prozess genannt, sondern Eltern und Geschwistern eine Stimme gewährt und ihr Abbild lebendig wird“. In dem Prozess werden 14 Nebenkläger als Zeugen aussagen.
Das Verfahren in Lüneburg wirft aber auch ein Schlaglicht auf die Versäumnisse der deutschen Justiz. Wegen Beihilfe zum Mord in den Vernichtungslagern sei jahrzehntelang in Deutschland niemand angeklagt worden, sagt der Rechtsanwalt Thomas Walther, der die meisten Nebenkläger vertritt. Im Jahr 1985 stellte die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main Ermittlungen gegen Gröning und andere ein, weil ein „hinreichender Tatverdacht“ fehle. Auf eine schriftliche Begründung verzichtete der zuständige Staatsanwalt zunächst wegen „Arbeitsüberlastung“ und kündigte an, sie später nachzureichen. Doch diese Begründung fehlt offenbar bis heute.
Keine neue Rechtslage
Erst nach dem Münchner Urteil gegen John Demjanjuk 2011, das allerdings nicht rechtskräftig wurde, begannen neue Ermittlungen gegen noch lebende Auschwitz-Wachleute. Eine veränderte Rechtslage gebe es nach dem Demjanjuk-Urteil keineswegs, betonte der Nebenklageanwalt Cornelius Nestler am Montag in Lüneburg. „Die Rechtslage war immer schon dieselbe, aber die Praxis war ein andere“, sagte der Professor für Strafrecht. „Die Staatsanwaltschaften haben Verfahren gegen Menschen wie John Demjanjuk gegen die Rechtslage eingestellt.“
Mit dem Lüneburger Prozess, so betonen die Nebenklagevertreter, finde „ein fast 50 Jahre dauerndes Versagen der Justiz ein Ende“. Darauf hoffen auch Hedy Bohm und andere Angehörige von Menschen, die in Auschwitz ermordet wurden.
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