Frankreichs Regierung: Das Problem heißt François Hollande
Seit 22 Monaten regieren die Sozialisten. Ihre Bilanz ist so miserabel wie die Wirtschaftslage. Nun soll Premier Manuel Valls Frankreich retten. Aber das Hauptproblem heißt François Hollande.
Der erste Satz der Regierungserklärung von Manuel Valls wirkte wie ein Paukenschlag. „Zu viel Leid, zu wenig Hoffnung. Das ist die Lage Frankreichs.“ Stand da tatsächlich der Mann, der den Franzosen endlich die Wahrheit zumuten würde?
Kurz zuvor war Frankreichs neuer Premierminister unter feierlichem Trommelwirbel dem Präsidenten der Nationalversammlung durch die Wandelhalle des Palais Bourbon gefolgt, hindurch durch das Spalier der Republikanischen Garde, durch ein Spalier von Soldaten in Paradeuniform mit weißen Handschuhen, blinkenden Stiefeln, mit roten Federbüschen auf den Helmen, die Degen gezückt und gen Himmel gestreckt. Noch nie schien der Kontrast so groß zwischen der monarchistischen Selbstinszenierung der Nation, dem altem Glanz Frankreichs und seiner düsteren Lage.
„Frankreich ist in einer kollektiven Depression“, sagt der Politikwissenschaftler Pascal Perrineau. Seit fünf Jahren betreut er ein politisches Barometer, dessen Ergebnisse von Jahr zu Jahr deprimierender sind: Verdrossenheit, Überdruss, Misstrauen, das sind die Begriffe, die an erster Stelle genannt werden, wenn Franzosen ihre Gemütslage beschreiben sollen. „Ich dachte, wir hätten bereits einen Tiefpunkt erreicht“, sagt Perrineau, „aber die Verschlechterung ist spektakulär: Das allgemeine Misstrauen hat dazu geführt, dass die Menschen das Vertrauen in die Demokratie verloren haben.“
Vor fünf Jahren fand knapp die Hälfte der Franzosen, dass die Demokratie schlecht funktioniere. Heute sind es bereits 69 Prozent. Einer von drei jungen Menschen, so hat eine weitere Meinungsumfrage ergeben, findet, „dass die Demokratie nicht mehr das beste politische System ist“. Aus Politikverdrossenheit ist in Frankreich Demokratieverdrossenheit geworden.
Niederschmetternde Bilanz
Sie geht einher mit den spektakulären Erfolgen des Front National. Die rechtsradikale Partei ist unter der Führung von Marine Le Pen in den letzten Jahren nicht nur salonfähig geworden; ihr ist es jetzt vor allem gelungen, sich lokal zu verankern. Seit der Kommunalwahl Anfang April stellt der FN zehn Bürgermeister in Frankreich. In Hénin-Beaumont ist der Kandidat des FN gleich in der ersten Runde gewählt worden. Stolz und strahlend zeigte sich Marine Le Pen bei Amtsantritt an seiner Seite und machte Fotos mit ihrem Mobiltelefon. Ein historischer Moment, ganz offensichtlich. Alles deutet darauf hin, dass der FN bei den Europawahlen im Mai mit einem Programm, das im Wesentlichen fremden- und europafeindlich ist und für den Ausstieg aus dem Euro einsteht, beachtliche Ergebnisse erzielen wird.
Nur widerwillig hat François Hollande den 51-jährigen Valls auf den Posten des Premierministers gesetzt, aber nach der dramatischen Niederlage bei den Kommunalwahlen blieb ihm keine andere Wahl mehr. 155 der 1081 Gemeinden mit mehr als 9000 Einwohnern haben die Sozialisten verloren. Es war eine Art Weckruf für den Präsidenten: Mit zwei Schlaftabletten an der Spitze – das war die Lehre aus dem Wahldesaster – lässt sich ein Land wie Frankreich, das in der tiefsten Wirtschafts- und Identitätskrise seiner jüngsten Geschichte steckt, nicht wachrütteln.
Die Bilanz der Sozialisten nach den ersten 22 Monaten ist in der Tat niederschmetternd: Die Arbeitslosenquote liegt über zehn Prozent. Der Abbau der Staatsverschuldung geht viel langsamer voran als geplant. Der Schuldenberg ist so hoch wie nie zuvor: Mit 93,5 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ist Frankreich, so die Worte des französischen Rechnungshofes, in der „Gefahrenzone“ angelangt.
Das Land zehrt nur noch vom alten Abglanz, und Valls ist der Mann, der es wieder aufrichten soll, die letzte Hoffnung der Sozialisten. „Einklang, Effizienz, Schnelligkeit“, das sei sein zukünftiger Führungsstil, versprach er und machte schnell klar, dass mit ihm ein neuer Wind durch die mit Gold dekorierten Säle von Matignon, dem Amtssitz des Premiers, wehen werde.
Er glaubt an die Republik
Der Sohn eines katalanischen Malers und einer Schweizerin ist erst mit 20 Jahren eingebürgert worden. Und vielleicht ist das sein eigentlicher Trumpf. Er glaubt an die Republik, an ihre Werte. Er ist zielstrebig und voller Energie, auf den ersten Blick das genaue Gegenteil seines Vorgängers Jean-Marc Ayrault, eine Art Sarkozy unter den Sozialisten, dessen Weg ebenfalls vom Innenministerium auf den Sessel des Premiers geführt hat. Gleich als erste Amtshandlung hat sich Valls den Schreibtisch von Léon Blum aus dem Möbellager der Republik kommen lassen. Unter dem schläft jetzt sein Hund Homer. Alles Zeichen? Blum jedenfalls, ein legendärer französischer Sozialist, der Gefangener im Konzentrationslager Buchenwald war, hatte nach dem Zweiten Weltkrieg wesentliche soziale und wirtschaftliche Reformen in Frankreich angestoßen.
Seinen Küchenchef ließ der Premierminister wissen, dass er kein Brot, auch keine Törtchen wolle, weil er an einer Glutenunverträglichkeit leide. Auch Fisch soll es nicht mehr geben: Valls ist ein politisches Raubtier, er bevorzugt rotes Fleisch. „Ich habe Energie“, kündigte er an, „es muss jetzt sehr schnell gehen. Ich will dem Land sein Vertrauen zurückgeben. Die Organisation muss tadellos sein. Mein Erkennungszeichen soll die Effizienz sein.“
Statt 38 sind nur noch 16 Minister in der Regierung. Von einem „Kampf-Kabinett“ war die Rede, die Truppen seien aufgestellt. Das Vokabular ist eindeutig kriegerisch. Aber wo genau steht eigentlich der Feind? Für den Premierminister ist es fraglos die schwere Wirtschaftskrise, durch die Frankreich geht. Nur durch radikale Reformen, das weiß Valls, wird Frankreich wieder Anschluss kriegen. Im Gegensatz zu anderen Parteigenossen ist das Wort sozialliberal für ihn auch kein Schimpfwort. Er hat den französischen Sozialismus in seiner historischen Form schon viel früher beerdigt, denn von ihm stammt der Satz: „Das Wort Sozialist hat heute ohnehin keine Bedeutung mehr.“ Wer den Kapitalismus nicht grundsätzlich infrage stelle, der könne sich nicht allen Ernstes länger als Sozialist bezeichnen.
"Eine wahre Revolution" hat Manuel Valls angekündigt
Der linke Flügel der PS und auch die zahlreichen Gegenspieler von Valls im eigenen Kabinett haben ein anderes Feindbild. Für Finanzminister Arnaud de Montebourg ist es die Globalisierung, wenn nicht sogar Europa mit seinem „Austeritätswahn“, gegen den man sich nur erfolgreicher wehren müsse, um wieder auf die Beine zu kommen. Als wäre die Globalisierung eine Option und nicht etwas Unabänderliches wie das Wetter, auf das man sich einstellen müsse. Bei einer derart radikal auseinanderklaffenden Weltsicht darf man gespannt sein, wie Valls den verkündeten „Einklang“ gewährleisten will.
„Eine wahre Revolution“, hat er in seiner Regierungserklärung angekündigt. Aber das Rettungsszenario bleibt recht schwammig. Erstmals gab er Details zum Pakt der Verantwortung preis, den Hollande bei seiner Neujahrsansprache angekündigt hatte, aber von einer radikalen Gesellschaftsreform kann dennoch keine Rede sein. 50 Milliarden Euro sollen bis zum Jahr 2017 eingespart werden, 19 Milliarden im Staatswesen, zehn bei der Sozialversicherung und weitere zehn bei den Gebietskörperschaften. Offen bleibt, woher die letzten elf Milliarden kommen könnten. Firmen sollen über niedrigere Lohnkosten um 30 Milliarden entlastet werden. Und da niemand das Gefühl haben soll, leer auszugehen, werden auch Arbeitnehmer, die nur den Mindestlohn verdienen, jährlich 500 Euro mehr auf ihrem Konto haben.
Die einzige wirklich radikale Reform betrifft nicht die Wirtschaft oder das Sozialsystem, sondern die Staatsstruktur: Die Regionen Frankreichs sollen von derzeit 22 auf die Hälfte reduziert werden. Und auch den Départements steht eine Neuorganisation bevor.
Frankreich müsste, das ist sicher, ähnlich schmerzliche Reformen wagen, wie sie Deutschland mit der „Agenda 2010“ bereits geleistet hat. Doch als Peter Hartz vor einiger Zeit zu einem Kolloquium in Paris weilte, sich mit Ministern traf und die Regierung Hollande in Verdacht geriet, sich vom Macher der deutschen Hartz-Reform inspirieren zu lassen, war die Empörung groß. „Das ist derjenige, der die deutschen Arbeiter ruiniert hat“, pöbelte Jean-Luc Mélenchon von der linksexremistischen Partei Front de Gauche. Seither hütet man sich in Regierungskreisen, den Namen Hartz auch nur zu erwähnen. Ein Nachrichtenmagazin interviewte Hartz und titelte: „Das deutsche Wunder, das ist er!“
Das französische Wunder
Und das französische Wunder, wird es den Namen Manuel Valls tragen? Seine Regierungserklärung markiert jedenfalls eine Wende. Er glaube an das „große und großzügige Frankreich“, sagte Valls und bat – „mit klopfenden Herzen“ – um das Vertrauen der Abgeordneten. „Machen wir Frankreich nicht kleiner, als es ist, machen wir seine Träume nicht klein.“ Für den Wahlfranzosen Valls steht ganz offensichtlich das eigene Ideal auf dem Spiel.
In seinem lichtdurchfluteten Großraumbüro im zehnten Arrondissement von Paris hat Unternehmer Jean-François Marti die Rede von Valls im Fernsehen verfolgt. Er ist sichtlich erleichtert. Schon vor Monaten hatte Marti gehofft, dass Hollande den Premierminister auswechselt. Denn er hat beobachtet, wie sich die Wirtschaftslage mehr und mehr auf die Arbeitsmoral niedergeschlagen hat: „Die Franzosen haben sich psychologisch auf Rezession eingestellt. In Frankreich wird schon zu normalen Zeiten in den Monaten Mai und August nicht gearbeitet. Inzwischen haben sie zwischen Mai und September die Arbeit ganz niedergelegt.“
Zum Beginn seiner Amtszeit war Hollande noch davon ausgegangen, dass die Wirtschaftskrise vorbei sei. Er wollte den Franzosen schmerzhafte Einschnitte in die öffentlichen Haushalte ersparen und den Staat allein durch Steuererhöhungen sanieren. Doch das waren fatale Fehleinschätzungen der Lage. Die Außenhandelsbilanz ist seit zehn Jahren defizitär, die der öffentlichen Haushalte noch viel länger.
Der Bericht des ehemaligen EADS-Chefs und Beauftragten für Investitionsfragen, Louis Gallois, den Hollande gleich bei Amtsantritt in Auftrag gegeben hat, hätte ihm eigentlich schon im Herbst 2012 die Augen öffnen müssen. „Es ist ein erschütternder Bericht“, findet Unternehmer Marti, vor allem weil er zeige, dass die französische Wirtschaft auf einigen wenigen, riesigen Unternehmen basiert. Als wäre der Mittelstand erfolgreich abgeschafft worden. Marti mag das Gerede von der Depression nicht und beteuert, dass sich die Lage in seiner Branche deutlich entspannt habe. Dennoch beobachtet er, dass viele Unternehmer abwandern. Auch er plant, einen Ableger seiner Firma in den USA zu gründen.
Die Macht zerkrümelt von oben
Welche Chancen hat Valls? In einer Gesellschaft, die den Wandel fürchtet? In einer Partei, die einen ausgeprägten linken Flügel hat? Die Vertrauten von Martine Aubry, Bürgermeisterin von Lille, die bei der Regierungsumbildung leer ausgegangen ist, bringen, so heißt es in der Presse, „ihre Truppe bereits in Stellung“. Viele sozialistische Abgeordnete werden den Pakt der Verantwortung nur akzeptieren, wenn die untersten Schichten der Bevölkerung berücksichtigt werden. „Was springt dabei für die Kassiererin im Supermarkt raus? In diesem Punkt werden wir als Parlamentarier unnachgiebig sein“, ließ Philippe Doucet, Abgeordneter der PS, wissen.
Viel wird davon abhängen, ob Valls genügend Geschick besitzt, um solche Stimmen zu hören, ohne ihnen einfach zu folgen. Dann wird sich, je mehr der neue Premier mit derlei Widerständen kämpfen muss, das Land desto schneller wieder daran erinnern, dass es einen Präsidenten im Elysée-Palast sitzen hat, bei dem noch immer die eigentliche Macht liegt. Und gegen die bestürzende Schwäche von François Hollande kann auch der stärkste Manuel Valls nicht viel ausrichten.
In Frankreichs Präsidialmonarchie zerkrümelt die Macht von oben – und dieser Prozess ist bereits weit fortgeschritten. Seit den Kommunalwahlen steht nur noch knapp ein Viertel der Wähler zu Hollande, seine Umfragewerte sind historisch schlecht geblieben. „Kein Präsident vor ihm“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Jean-Claude Casanova, „war je in einer so fragilen Lage.“ Schon gibt es Stimmen, die darin einen Vorteil sehen wollen: Hollande könne nun frei agieren, weil er nichts mehr zu verlieren habe. Die Gegenfrage lautet aber, warum ein Präsident die Macht, die er seit 22 Monaten nicht genutzt hat, nun plötzlich entschlossen an sich reißen sollte. Der Zweifel wird François Hollandes Begleiter bleiben.
Martina Meister