Zum Tag der Deutschen Einheit: Das letzte Gefecht der NVA-Veteranen
Es sind Weltstillstandsinseln. Bevölkert mit alt gewordenen Männern, die die DDR und ihre Armee in Ehren halten. So wie in Strausberg, wo ihnen der Kalte Krieg nach 26 Jahren plötzlich sehr vertraut vorkommt.
Die deutlichste Erinnerung an eine auch von anderen Menschen besiedelte Welt kommt aus dem Westen, von der Umgehungsstraße hinterm jenseitigen Seeufer. Autogedröhn steht in der Luft, pausenlos, obwohl 300 Meter zwischen der Straße dort drüben und dieser Veranda hier liegen. 300 Meter und zwei Uferwege, reihenweise Bäume, so groß und so dicht, dass hinterm Garten kaum der See zu sehen ist, die Autos sind es schon gar nicht. Manfred Grätz scheint das Geräusch nicht wahrzunehmen. Grätz, unter Weinlaub an einem Tisch vor seiner 13. Dienstwohnung sitzend, hört nach Osten. Richtung Russland.
Er vernimmt von dort die Ankunft einer neuen Zeit. Sie kommt ihm bekannt vor und bedrohlich. Generalleutnant a. D. Grätz hört den Kalten Krieg. „Das ist in jedem Falle ernst“, sagt er, „eine latente Gefahr.“ Er muss es wissen, der Kalte Krieg war einmal sein Element. Denn Grätz diente in der Nationalen Volksarmee, der Armee der DDR. So wie der Mann neben ihm, Kapitän zur See a. D. Gerhard Matthes.
Matthes und Grätz, zwei Männer, deren Welt im Oktober 1990, mit dem Ende der NVA und der DDR zu Ende gegangen ist. Aus den Sozialisten um sie herum sind in der Zwischenzeit Kapitalisten geworden. Einstige NVA-Kameraden bezogen ihren Sold nun von der Bundeswehr, der Armee des alten Klassenfeindes. Aus der Diktatur des Proletariats wurde eine parlamentarische Demokratie. Deutschland wurde wiedervereinigt und fing plötzlich wieder an, Kriege zu führen und gefallene Soldaten zu begraben, und die Sowjetunion zerfiel.
Aus Matthes’ und Grätz’ Militärlaufbahnen wurden Jobs als Dolmetscher, im Sicherheitsdienst und im Zeitungsvertrieb. Schließlich kam die Rente. Und aus der alten Waffenbrüderschaft mit den Russen gedieh langsam wieder eine Konfrontation. Die Nato rückte entgegen alter Zusicherungen an Russlands Grenze heran und hält dort Manöver ab. Russland seinerseits kämpft in der Ost-Ukraine und verleibte sich die Krim ein.
Jetzt also, nachdem sich die Welt fast 26 Jahre lang von dieser Veranda wegbewegt hatte, scheint sie wieder hier angekommen zu sein. Die Erde hat sich weitergedreht, Perspektiven verschoben sich, alles geriet durcheinander, doch nun ist die alte Ordnung wieder da. Die alte Blockkonfrontation. Die beiden Männer hätten einfach die ganze Zeit hier sitzen bleiben können und abwarten.
Grätz und Matthes hören den Krieg in der Ukraine und die ihn eskortierende Propagandaschlacht. Sie hören Putins Reden. Die Antworten der Nato auf all das, Poroschenkos anschließenden Beifall und die Ankündigungen Russlands, mehr Armee an seinen Grenzen auffahren zu lassen. Grätz kann sogar Gefühle hören.
Er sagt: „Wenn ich mir überlege, wie der sehr emotional reagierende russische Mensch auf einer Landkarte sieht, wie Russland in Europa im Halbkreis von Nato-Staaten umgeben ist.“ Und: „Wer unternimmt die Mühe, sich mal in die Gedankengänge des einfachen russischen Menschen hineinzudenken?“
Im Zweifel Grätz selbst. Er ist in der Sowjetunion ausgebildet worden. Mit Dienstreisen dazugerechnet habe ich runde sieben Jahre in diesem Land verbracht“, sagt er. „Was natürlich meine Haltung prägt.“ Es gibt Freundschaften mit Russen, die bis heute halten. Er ist der russischen Sprache mächtig und, so sagt er es, der Befindlichkeiten.
Grätz ist Jahrgang 1935, er hat bei der Nationalen Volksarmee der DDR eine Karriere gemacht, die ihn am Ende bis hierher ins brandenburgische Strausberg und auf den Stuhl des stellvertretenden Verteidigungsministers führte. An einem Dutzend Orten war er stationiert, in Leipzig, Riesa, Moskau, Potsdam, Schwerin. Er hat Mühe, sie alle aufzuzählen. Das Haus, auf dessen Veranda er nun sitzt, konnte er kurz vor der Währungsunion kaufen.
Zur Summe aus diesem Leben zählt der wohlwollende Blick nach Osten, und die Einsicht, dass es sich bei Putin nicht um einen Aggressor handeln könne. „Putin wird nie ein Nato-Land angreifen“, sagt Grätz. Für Grätz wird Putin mit dem Rücken an die Wand gedrängt.
Zur Summe dieses Lebens gehört auch, es zu verteidigen. Grätz ist heute Sprecher des Ältestenrates des Verbandes zur Pflege der Traditionen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR e. V. - einem tief in der Vergangenheit wurzelnden Verein, dessen Aufgabe Grätz so beschreibt: „auf Diffamierungen, auf Anfeindungen der Nationalen Volksarmee aktiv zu reagieren - und die Wahrheit über die Nationale Volksarmee verbreiten zu helfen“. Matthes, der einstige Kapitän zur See, ist Vorsitzender der Strausberger Vereins-Regionalgruppe.
Sie sagen noch "Genosse"
Der Traditionspflegeverband: Sie haben einen Vereinsvorstand und einen geschäftsführenden Vorstand. Es gibt eine Revisionskommission, es gibt den Ältestenrat, „korporative Organisationen“ und elf Regionalgruppen. Es gibt 300 Mitglieder. Sie konzentrieren sich an einstigen NVA-Standorten wie hier in Strausberg, einer 26.000-Einwohner-Stadt ein paar Kilometer östlich der Berliner Stadtgrenze, die der Sitz des DDR-Verteidigungsministeriums war. Es gibt NVA-Traditionalisten in der Hauptstadt selbst, um Potsdam und andere DDR-Bezirksstädte herum und an der Ostseeküste. Lauter kleine Weltstillstandsinseln, bevölkert mit alt gewordenen Männern, die manchmal auch noch die Sprache von früher pflegen. Grätz sagt meistens „Genosse Matthes“ zu Matthes.
Matthes und Grätz sind die Einzigen aus dem verzweigten Netz ihres Vereins, die auf Gesprächsanfragen geantwortet haben, die sich am Telefon nicht verleugnen ließen. Sie haben stattdessen den Hörer abgenommen und sich vorbereitet, vor ihnen auf dem Tisch liegen Mappen mit Einschätzungen zur Weltlage, mit Daten zu Rüstungsausgaben und Stichworten zu den vorab festgelegten Gesprächsthemen. Aus ihrer Sicht gehen sie damit ein Risiko ein.
Dabei sind die Traditionsbewahrer der NVA vielleicht zum ersten Mal nach einem Vierteljahrhundert sogar wieder auf Linie mit der Obrigkeit. Ihnen wird recht gegeben von der Bundesregierung. Denn hatte nicht der Außenminister und Repräsentant des Nato-Mitgliedslandes Deutschland ein paar Wochen zuvor gesagt: „Was wir jetzt nicht tun sollten, ist, durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen. Wer glaubt, mit symbolischen Panzerparaden an der Ostgrenze des Bündnisses mehr Sicherheit zu schaffen, der irrt. Wir sind gut beraten, keine Vorwände für eine neue, alte Konfrontation frei Haus zu liefern.“
Und klingen diese drei Sätze nicht so ähnlich wie jener „Aufruf Soldaten für den Frieden“, den die NVA-Veteranen im vergangenen Jahr veröffentlicht haben? Dort steht doch auch: „Wir brauchen keine Kriegsrhetorik, sondern Friedenspolemik.“ Matthes und Grätz sagen: Jein.
Sie sehen fern und hören zu, sobald irgendwo auf der Welt ein öffentliches Wort über das Nato-Russland-Verhältnis fällt. Sie lesen genau, was darüber geschrieben wird, auch wenn es das russische Staatsunternehmen Ria Novosti verbreitet. Sie wissen, wem Gerhard Schröder wann ein Interview gegeben hat und was davon zu halten sei.
Deshalb erinnern sie sich auch daran, dass der deutsche Außenminister - ein Großmanöver in Polen war gerade zu Ende gegangen, eines im Baltikum lief noch - vor dem „Säbelrasseln“-Satz gesagt hat: „Niemand kann den vorgesehenen Umfang der Nato-Maßnahmen als Bedrohung für Russland werten.“ Das war ziemlich das Gegenteil, mindestens aber eine Relativierung.
Grätz sagt: „Über all diesen Einzelgeschichten“ - den Manövern, den Truppenverlagerungen und der gleichzeitigen Gesprächsbereitschaft - „steht ja immer: Abschreckung und Dialog. Da ist Gut und Böse, die Rollen sind ja schon vergeben.“ Abgeschreckt werden muss immer das Böse.
Er bemerkt den Vorwurf nicht, der in diesen Sätzen steckt. Es ist einer an ihn selbst. Aus so einer Abschreckung, aus den Zuschreibungen von Gut und Böse, hat sein ganzes Leben bestanden.
"Für den Frieden gedient"
Einige Jahre nach der Wiedervereinigung saß die neue Welt zu Gericht über die alte und Grätz auf der Anklagebank. In einem der zahlreichen Mauerschützenprozesse wurde er wegen Beihilfe zum Totschlag verurteilt - und erhielt eine Bewährungsstrafe. Er hatte nicht selbst getötet, das Gericht befand sogar, es habe ein strafmildernder „Verbotsirrtum“ bei ihm vorgelegen, die Widerrechtlichkeit seines Handelns sei Grätz nicht klar gewesen. Er war Mitglied im „Kollegium“ des DDR-Verteidigungsministeriums - einem Gremium, das den Minister beriet - und damit für das DDR-Grenzregime mitverantwortlich.
Grätz verteidigte sich damals damit, die Grenzsoldaten seien „im Interesse von Ruhe und Sicherheit an der Staatsgrenze“ erzogen worden, er selbst habe sein „bewusstes Leben lang militärischen Dienst für den Frieden geleistet“.
Frieden ist eine große Sache. Unterschätzt in den Zeiten, in denen er herrscht. Frieden ist das Wort, das vieles schlägt. Es kommt auch in diesen Tagen oft aus den Mündern von Menschen, die Waffen haben oder Befehlsgewalt. Einmal ausgesprochen, beeindruckt es viele, die nichts davon besitzen.
Aus dem Protokoll einer Vorstandssitzung des NVA-Traditionsverbandes vom Juli 2016: Tagesordnungspunkt 4, „Wie verhalten wir uns zum 55. Jahrestag der Sicherung der Staatsgrenze - 13. August“? Die Antwort: „Man kann die Zusammenhänge, die zu diesem Schritt führten, nicht besser darlegen, als das im Buch Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben geschehen ist.“ Die Mauer „war eine richtige und notwendige Maßnahme“, „die Durchführung der Sicherungsmaßnahmen war eine politische und militärische Meisterleistung“.
Das Gericht hatte sich diese Friedenslogik damals zu eigen gemacht. Die Richterin befand, man habe es nicht mit gewöhnlichen Kriminellen zu tun, sondern mit Menschen, die Überzeugungen hatten. Die Angeklagten sollten „nicht kriminalisiert“ werden, sagte sie, „wir wollen aus Ihnen keine Verbrecher machen“.
Grätz sagt heute: „Der Prozess hat mich innerlich gefestigt, von der Haltung her gekräftigt, um weiter für eine bessere Welt einzutreten, und dort, wo es nötig ist, zu helfen.“
Er hilft, indem er mit anderen Vereinsmitgliedern die Tatenlosigkeit der Bundesregierung zum 75. Jahrestag des Angriffs auf die Sowjetunion kritisiert. Sie fahren jedes Jahr zu einer Grabstätte für gefallene Rotarmisten in die Märkische Schweiz.
Im Denken weiter Militärs
Grätz hält die Trauerrede auf Horst Stechbarth, seinen im Juni gestorbenen Vize-Verteidigungsministerkollegen. Zu dessen Beisetzung auf dem Stahnsdorfer Südwestkirchhof reisten so viele Weggefährten an, dass Dutzende von ihnen keinen Platz mehr in der Friedhofskapelle fanden. Deutschlands zweitgrößter Friedhof war einen Mittag lang voller Menschen, angereist von Rügen bis Suhl. Alt gewordene Leute, die sich trotz des Anlasses über ihr Wiedersehen freuten. Grätz Rede wurde von Lautsprechern nach draußen übertragen.
„Stechbarth war Jahrzehnte mein gestrenger, gerechter Vorgesetzter“, sagt Grätz nun. Er lege „Wert darauf, dass im Zusammenhang mit“ Stechbarth „immer wieder darauf zurückgekommen wird, auf seine Anerkennung in der ganzen Armee. Und: Dass er bekannt geworden ist weit über die NVA hinaus.“ So spricht Grätz gegenüber Außenstehenden, immer wieder resümierend, selten konkret.
Vielleicht sind das Übersetzungsschwierigkeiten. Begründet in der Sprache von Menschen, die gewohnt waren, Befehle zu erteilen und auszuführen. Befehle brauchen keine Begründung. „Erstens waren wir Militärs und bleiben im Denken Militärs“, sagt Grätz.
Möglicherweise ist das auch der Grund dafür, warum Grätz und Matthes Verein so wenig beachtet wird. Noch weniger als die Konkurrenz vom „Traditionsverband Nationale Volksarmee e.V.“. Die reden zwar gar nicht mit anderen, aber manchmal ziehen sie sich ihre alten Uniformen an und gehen raus auf die Straße damit.
Grätz trägt Jeans und T-Shirt, der ein Jahr jüngere Matthes eine helle Hose und ein helles Hemd. Matthes wirkt wie ein Pensionär mit Hang zur Gemütlichkeit, Grätz wie ein 50-Jähriger, der gerade von der Sonnenbank aufgestanden ist. Er setzt wieder zu einer seiner Feststellungen an, die das jugendliche Bild kaputtmachen. „Ich pflege immer zu sagen: Die Rederei über Russland und Europa ist schizophren. Russland gehört zu Europa. Daraus folgt: Dass ausgehend von der Geschichte dieses Riesenreiches und seiner - ich sage ganz bewusst - einstigen Weltmacht, undenkbar ist, die Frage Krieg oder Frieden ohne Russland oder gegen Russland zu beantworten.“
Und dann zitiert Grätz die Worte, die seine Mutter ihm einst mit auf den Weg gegeben haben soll, als er sich für eine Armeelaufbahn entschied: „Ich habe meinen Vater im Ersten Weltkrieg verloren. Du deinen im Zweiten Weltkrieg. Ich möchte dich nicht in einem dritten verlieren, hilf mit, dass es nicht dazu kommt.“
Sie stammen aus einer Welt, die noch viel weiter zurückliegt als das Ende der NVA und der DDR. Sie klingen, als seien sie einem der großen, sowjetischen Kriegsheldenromane entnommen. Ausgeschnitten, auswendig gelernt und gelegentlich zitiert, um Eindruck zu machen.
Sie erklären nichts. Nicht, wer denn nun angefangen hat mit dem neuen Kalten Krieg und wer ihn weitertreibt. Sie begründen auch Grätz Parteilichkeit nicht. Sie behaupten nur, dass der Krieg die Regel ist, und nicht der Frieden.
Die Worte hängen jetzt in der Verandaluft, länger als all die anderen, zuvor gesagten. Bis das Dröhnen der Autos sie wegweht.