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Die Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt
© Thilo Rückeis

Interview: „Das Flüchtlingsabkommen ist gescheitert“

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt über den EU-Türkei-Deal, die AfD und die Steuerdebatte in ihrer Partei. Ein Interview

Frau Göring-Eckardt, mit Ihnen als Spitzenkandidatin haben die Grünen bei den letzten Bundestagswahlen ein Debakel erlebt. Was wollen Sie im nächsten Jahr besser machen?
Das finde ich übertrieben. Aber es stimmt: Unser Anspruch war und ist ein anderer. Und zwar zu fragen, welche Probleme und Hoffnungen haben die Menschen wirklich und welche Lösungen bieten wir dazu an? Dafür braucht man keinen erhobenen Zeigefinger, sondern die Fähigkeit, hinzuhören und zu begeistern.

Den erhobenen Zeigefinger wird es also nicht mehr geben?
Ich bin in der DDR dafür auf die Straße gegangen, dass mir niemand mehr sagt, wie ich leben soll. Die Letzten, die das versucht haben, waren mein Vater und Erich Honecker. Beide sind krass gescheitert.

Der linke Flügel wirbt jetzt dafür, die Forderung nach der Vermögensteuer ins Wahlprogramm aufzunehmen. Was halten Sie davon?
Für mich ist entscheidend, dass wir ein Gesamtkonzept für mehr Gerechtigkeit vorlegen. Wir müssen uns mit den Menschen beschäftigen, die Abstiegsängste haben oder die Sorge, dass sie niemals aufsteigen werden. In Deutschland gibt es zunehmend Menschen, die alles richtig gemacht haben, Studium, Auslandsaufenthalte, und die trotzdem in prekären Jobs landen und die sich längst nicht mal mehr im Ansatz aussuchen können, wo sie wohnen, weil die Ballungsräume krass überteuerte Mieten haben.

Noch einmal: Sollte die Vermögensteuer im Wahlkampf eine zentrale Rolle spielen?
Zentral wird sein, wie und wann wir aus der Kohle aussteigen, wie wir erfolgreiche Integration organisieren, wie wir die Landwirtschaft umbauen und wie wir bezahlbaren Wohnraum schaffen. Es wird auch darum gehen, dass alle nach ihren Möglichkeiten etwas beitragen. Aber wir werden keinen Steuerwahlkampf führen.

Aber halten Sie die Vermögensteuer denn für ein sinnvolles Instrument, um für mehr Gerechtigkeit zu sorgen?
Ein mögliches. Es geht darum, dass sich auch sehr Reiche mehr an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen, von dem sie schließlich auch profitieren. Ein anderes Instrument wäre, sie über die Einkommensteuer heranzuziehen. Im Wahlkampf sollten wir aber andere Themen nach vorne stellen.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann würde die Grünen gerne ganz in die Mitte ziehen. Sie auch?
Das ist gar nicht nötig. Wir sind schon lange in der Mitte der Gesellschaft angekommen, der Mainstream ist längst grün. Wir müssen uns nur bewusst entscheiden, auch die Leute für uns zu begeistern, die uns bisher nicht gewählt haben. Bundesweit können wir deutlich mehr erreichen als jetzt.

Die Parteienlandschaft verändert sich radikal, seit die AfD Zulauf hat. Alle anderen Bundestagsparteien außer den Grünen verlieren massiv. Sind Sie Krisengewinnler?
Wir stehen wie keine andere Partei für Offenheit und Toleranz. Deswegen wanken unsere Wähler auch nicht. Wir quatschen der AfD nicht hinterher, wie es die anderen Parteien machen. Wir sind diejenigen, die keine Angst haben und die auch keine Angst machen. Und diese klare Orientierung finden auch andere Menschen gut.

Kretschmann und andere fordern, die Debatte um die AfD zu entdramatisieren, um ihr die Aufmerksamkeit zu entziehen.
Das stimmt, wir müssen uns politisch mit der AfD auseinandersetzen. In Talkshows streite ich mich mit AfD-Vertretern über die Wiedereinführung der Atomkraft, das Familienbild, die Religionsfreiheit – und das beinhart. Aber es gibt eben auch Rassisten in der AfD, auch das müssen wir offen ansprechen. Dazu gehört auch Björn Höcke aus meinem Heimatland Thüringen, der nun den Schulterschluss mit Pegida sucht. Er macht sich gemein mit Leuten, die jetzt sogar dagegen hetzen, dass auf Kinderschokolade-Verpackungen Kinderfotos von Spielern der Fußball-Nationalmannschaft mit Migrationshintergrund abgedruckt werden.

Ein paar Facebook-Nutzer am Bodensee haben das getan und prompt gibt es einen öffentlichen Aufschrei. Tun Sie den Provokateuren mit dieser Aufmerksamkeit nicht einen Gefallen?
Nein. Viele Menschen regen sich zu Recht darüber auf, weil sie sich sorgen, dass die Offenheit und der gute Zusammenhalt in Deutschland akut bedroht sind. Es geht nicht nur um ein paar Verrückte. Der Hass-Müll aus dem Netz hat einen realen Hintergrund. Heute sprechen manche unter ihrem Klarnamen hemmungslos menschenverachtende Drohungen aus. Dass Freiheitsrechte von einer Partei infrage gestellt werden, die in Umfragen deutlich über zehn Prozent liegt, ist ein Grund, sich Sorgen zu machen. Da hilft kein Wegducken, sondern offensives Gegenhalten.

Kommen wir zu einem anderen Thema. Der Bundestag will in der nächsten Woche eine Resolution zum Völkermord an den Armeniern verabschieden. Warum ist das notwendig?
Ohne Erinnerung gibt es keine Zukunft. Deshalb ist diese Resolution so wichtig. Sie ist außerdem das Signal eines selbstbewussten Parlaments, das sich über Fraktionsgrenzen hinweg gegen die Vorgaben der Regierung entscheidet. Es gibt auch eine deutsche Verantwortung für den Völkermord an den Armeniern, weil das Kaiserreich mit dem Osmanischen Reich verbündet war. Deutsche Offiziere waren Zeugen der Gräuel und haben darüber berichtet, aber die Regierung in Berlin unternahm nichts, um das Morden zu stoppen. Das alles wollen wir nun klar benennen.

Der türkische Präsident Erdogan droht, wenn die EU den Türken nicht Visumsfreiheit gewährt, lässt er das Flüchtlingsabkommen platzen. Was bedeutet das für die Bundesregierung?
Angela Merkel hat sich von Erdogan zu abhängig gemacht. Das Flüchtlingsabkommen ist gescheitert. Der Versuch, die Auffangzone für Flüchtlinge in die Türkei und damit von der EU nach außen zu verlagern, wird Stück für Stück scheitern.

Was wollen Sie denn?
Wir brauchen einen Neustart der Verhandlungen mit dem Ziel, ein besseres Flüchtlingsabkommen zu erreichen. Es geht darum, einen legalen und sicheren Zugangsweg für Flüchtlinge nach Europa zu schaffen. Gerade sind wieder Dutzende Menschen im Mittelmeer ertrunken, bisher in diesem Jahr fast 1400. Wir müssen weit mehr als die zuletzt versprochenen 72 000 Syrer aus der Türkei nach Europa holen. Dazu müssen wir der Türkei anbieten, über Dauerkontingente regelmäßig Flüchtlinge aufzunehmen.

Die Verteilung der Flüchtlinge in der EU aber klappt doch gar nicht. Wer soll dann mehrere hunderttausend Flüchtlinge aus Syrien pro Jahr in Europa aufnehmen?
2015 kamen bis zu 10 000 Flüchtlinge pro Tag, weil wir in den vier Jahren syrischen Bürgerkriegs zuvor fast niemanden aufgenommen haben. Der Fehler wird jetzt wiederholt. Natürlich müssen wir an dem Ziel einer gerechten Verteilung in der EU festhalten. Für jetzt gilt aber: Deutschland muss als wirtschaftlich stärkster Mitgliedstaat in Vorleistung gehen und mindestens die 28 000 Flüchtlinge aufnehmen, zu deren Übernahme es sich auf EU-Ebene bereits verpflichtet hatte. Das muss die Bundesregierung der Türkei anbieten. Nur so können wir ein neues, wirksames und humanitäres Flüchtlingsabkommen erreichen. Und klar ist: Freiwillige Kontingente dürfen kein Ersatz für einen Anspruch der Flüchtlinge auf Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention sein. Der Unterschied ist: Bei einem Kontingent können wir bei der Auswahl der Flüchtlinge mitentscheiden und die Flüchtlinge wissen, wo sie hinkommen. Bei Spontanflucht wird solidarisch verteilt. Die Infrastruktur für die Aufnahme und Integration von neuen Flüchtlingen in deutschen Gemeinden und Landkreisen haben wir inzwischen.

In der Bundesregierung und in der SPD wird darüber gestritten, ob Deutschland 48 Patrouillenboote an Saudi- Arabien liefern soll. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Ich hatte Respekt davor, dass Sigmar Gabriel am Anfang der Legislaturperiode ankündigte, er würde die Praxis der Rüstungsexporte endlich restriktiv gestalten. Nun stellt sich heraus: Die SPD meint es nicht ernst, sie findet ständig neue Begründungen, warum heikle Exporte doch möglich sein sollen. Saudi- Arabien ist kein Stabilitätsanker in der Region. Das Land verbreitet mit dem Wahabismus seine radikale Lesart des Islam und führt einen Krieg im Jemen. Deutschland darf nicht in Länder Waffen liefern, die dem Terrorismus die ideologische Grundlage liefern und aus denen er Geld bekommt. Die Saudis werden sich ins Fäustchen lachen, wenn wir da keine klare Grenze ziehen.

Außenminister Steinmeier sagt: Patrouillenboote werden von den Saudis weder in innerstaatlichen Konflikten noch in Kriegen zwischen Staaten eingesetzt. Das beeindruckt Sie nicht?
Nein. Es ist ganz einfach: Patrouillenboote sind Kriegsgerät, ihr Export an Saudi-Arabien muss gestoppt werden.

Das Gespräch führten Cordula Eubel und Hans Monath

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