Neuer Chef der Deutschen Bank: Das Ende der Lehrjahre für Christian Sewing
Vom Azubi zum Vorstandschef: Seit 27 Jahren arbeitet Christian Sewing bei der Deutschen Bank. Jetzt soll er das Unternehmen neu erfinden – eine Aufgabe, die kaum jemand haben wollte. Ein Porträt.
Sein Vater ist schuld. Der hatte darauf beharrt, das Christian Sewing nach dem Abitur erstmal eine Ausbildung macht. Danach könne er studieren, was er wolle, soll der Vater gesagt haben. So landete Sewing, der eigentlich Sportjournalist werden wollte, in einer Filiale der Deutschen Bank in Bielefeld. Heute hat Sewing vier Kinder, nimmt zur Arbeit oft die S-Bahn und unterhält sich gerne über Fußball, am liebsten über den FC Bayern München, der Vfl Osnabrück tut es aber auch. Er ist grundsolide, könnte man sagen. So bezeichnet man gern angepasste Schwiegersöhne. Und nun eben auch den Chef der Deutschen Bank. Denn zu dem ist Sewing gerade aufgestiegen.
Der einstige Azubi aus Bielefeld soll nun Deutschlands größtes Geldinstitut retten. Sewing ist schon der dritte Vorstandschef in nur sechs Jahren, der die Dauerkrise bei der Deutschen Bank beenden soll. Selten in der knapp 150-jährigen Geschichte des Unternehmens stand die Deutsche Bank vor so großen Problemen. In den vergangenen drei Jahren machte die Bank Verluste, der Aktienkurs büßte extrem an Wert ein. Es fehlte an einer Strategie, um der Konkurrenz britischer und US-amerikanischer Banken etwas entgegenzusetzen.
Sewing ist der jüngste Chef, den die Deutsche Bank je hatte
Nun soll Sewing die Erneuerung bringen. Ein Mann, der mehr als die Hälfte seines Lebens bei der Deutschen Bank verbracht hat. 27 von 29 Berufsjahren. An den Standorten Frankfurt am Main, Hamburg, London, Singapur, Tokio und London – mehr Deutsch-Banker kann man kaum sein. Zwar ist er jetzt der jüngste Vorstandschef, den das Institut je hatte, aber auch derjenige, der das Haus am Besten kennt. Das kann ein Vorteil sein, es setzt Sewing aber auch enorm unter Druck. Schließlich hat er als bisheriger Vize-Chef die aktuelle Strategie mitgetragen. Mehr noch, er hat einen nicht unerheblichen Teil davon selbst umgesetzt.
Die erste Wahl für den Chefposten war Christian Sewing nicht. Wochenlang soll Aufsichtsratschef Paul Achleitner durch Europa gereist sein, um einen Nachfolger für John Cryan zu finden. Der Brite, der die Deutsche Bank knapp drei Jahre geleitet hat, wollte zwar bleiben. Ihm habe der Job gerade erst angefangen Spaß zu machen, sagte er. Doch auch unter ihm ist die Deutsche Bank nicht aus der Krise herausgekommen: zu viele Rechtsstreitigkeiten, zu geringe Erträge, der Aktienkurs nahe dem Rekordtief. Das wollten die Investoren zuletzt nicht mehr hinnehmen. Sie drängten auf einen Neuanfang. Mal wieder.
Andere, die für den Posten angefragt wurden, haben abgelehnt
Nur mit wem? Führende Banker von Goldman Sachs, von der UBS und Unicredit soll der Aufsichtsratschef angefragt haben. Doch keiner traute sich den Posten des Deutsche-Bank-Chefs zu. Zu groß schien die Wahrscheinlichkeit, wie Cryan an der Aufgabe zu scheitern, das Institut wieder zu dem zu machen, was es einst war: eine deutsche Großbank, die es mit der Konkurrenz aus Großbritannien und den USA aufnehmen kann.
Freundliche Kommentatoren vergleichen die Deutsche Bank heute mit einem Fußball-Bundesligisten, der früher in der Champions League spielte und nun im Abstiegskampf panisch Trainer um Trainer feuert. Unfreundliche Kommentatoren vergleichen das Unternehmen mit der hoffnungslosen Flughafendauerbaustelle BER. Die IT-Chefin der Deutschen Bank soll kürzlich das Geldinstitut bei einer Führungskräftetagung das „dysfunktionalste Unternehmen“ genannt haben, bei dem sie je gearbeitet habe. Später dementierte sie die Aussage nicht, sagte aber, es sei immerhin gelungen, die Zahl der Betriebssysteme von 45 auf 32 zu reduzieren. Irgendwann, so der Plan, sollen es nur noch vier Betriebssysteme sein.
Die interne Lösung ist nicht unumstritten
Angesichts der Vielzahl der Probleme hatten Großinvestoren vor Sewings Beförderung Zweifel daran geäußert, ob eine interne Lösung wirklich die richtige ist. Auch bei der vierstündigen Telefonschalte des Aufsichtsrats am Sonntag soll es deshalb lauter geworden sein. Manche Mitglieder des Kontrollgremiums fühlten sich übergangen. Sie wären gerne früher über Achleitners Plan informiert worden, Sewing zum Chef zu machen.
Für den 47-jährigen Westfalen ist das daher kein leichter Start, er steht unter Zugzwang – und ist sich dessen durchaus bewusst. Er ist noch keine acht Stunden im neuen Amt, da formuliert er bereits eine Kampfansage. Nach außen. Aber auch nach innen: Die knapp 100 000 Mitarbeiter finden am Montagmorgen eine Mail in ihrem Postfach, die ahnen lässt, dass Sewing einen neuen Ton anschlagen wird. Darin fordert er, sie müssten ihre „Jägermentalität zurückgewinnen“. Niemand werde ihnen etwas schenken, „wir werden kämpfen müssen“, schreibt er. Dass einzelne Bereiche ihre Ziele nicht erreichen, will er nicht mehr hinnehmen: „Das wird das Führungsteam nicht mehr akzeptieren.“ Mit anderen Worten: Wer nicht liefert, muss gehen. Sewing will so auch „harte Entscheidungen treffen und umsetzen“.
Solide Geschäfte reichen ihm nicht
Den Druck, der auf ihm selber lastet, gibt er damit knallhart weiter. Von wegen Schwiegersohn. Das Adjektiv „solide“, dass wohl nur scheinbar so gut zu ihm passt, will er jedenfalls nicht mehr hören. „Unser Start in das Jahr war solide“, sagt der neue Chef der Deutschen Bank, „aber solide darf nicht unser Anspruch sein“.
Dass er – wenn nötig – hart durchgreifen kann, hat Sewing bereits gezeigt. Als Vizechef war er zuletzt fürs Privatkundengeschäft zuständig und damit für den Bereich, in dem es zuletzt den größten Umbau gab. Fast 200 Filialen hat Sewing bundesweit geschlossen, rund 2500 Stellen abgebaut. Dieses Projekt nannte man intern „horizon“, der Schrumpfkur fiel auch die Traditionsmarke „Berliner Bank“ zum Opfer. Dass das vergleichsweise geräuschlos, ohne große Proteste von Seiten der Kunden oder Mitarbeiter abgelaufen ist, halten sie im Konzern Sewing zugute. Einige bekamen zwischenzeitlich gar den Eindruck, ein solch harter Umbau mache ihm Spaß – auch wenn er öffentlich beteuerte, die Jobs zu streichen bereite ihm Schmerzen: „Wenn mir Stellenabbau nicht mehr wehtut, dann bin ich kein guter Mensch.“
Anfang des Jahres begrüßten John Cryan und der mehr als einen Kopf größere Christian Sewing die Besucher des Hauptstadtempfang der Deutschen Bank noch Seite an Seite. Dann ging Cryan für seine Rede auf die Bühne, Sewing mischte sich unter die Gäste, hielt sich im Hintergrund, um seinem Chef zu lauschen. Künftig wird er es sein, der Antworten geben muss.
Die Integration der Postbank ist seine Reifeprüfung
Denn bei seinem größten Projekt steht die Reifeprüfung noch aus. Als Vize war er bislang auch für die Integration der Postbank zuständig, also jenes Instituts, das die Deutsche Bank erst loswerden wollte, für das sie dann aber keinen Käufer fand. Bis Mitte des Jahres sollen Deutsche Bank und Postbank rechtlich wieder eins sein. Weitere 1000 Stellen will der Konzern so einsparen. Manche meinen deshalb, man habe Sewing womöglich viel zu früh befördert. Aufsichtsratschef Achleitner spricht dagegen von „einer neuen Ära“, die nun bei der Deutschen Bank beginne.
Eine solche „neue Ära“ hätte man zwar ebenso gut auch schon bei Sewings Vorgänger Cryan und den beiden Vorvorgängern Anshu Jain und Jürgen Fitschen ausrufen können, die nichts weniger als einen Kulturwandel des Instituts versprachen. Doch Sewing könnte dieses Versprechen nun tatsächlich einlösen. Er ist der erste Bankchef seit Jahren, der nicht aus dem Investmentbanking sondern aus dem Privatkundengeschäft kommt. Das zeigt, wo es hingehen könnte.
Was wird aus dem Investmentbanking?
Das Investmentbanking war lange der Bereich der Bank, der das meiste Geld abgeworfen hat. Investmentbanker handeln für ihre Kunden im großen Stil mit Aktien, Anleihen und Rohstoffen. Sie fädeln Fusionen und Übernahmen ein und helfen Konzernen beim Börsengang. Dabei geht es stets um hohe Summen, entsprechend viel ließ sich verdienen – entsprechend groß fielen die Boni für Investmentbanker aus. Letztere verdienen zwar noch immer extrem gut, allein im vergangenen Jahr haben 50 von ihnen sogar mehr kassiert als Bankchef Cryan. Doch die Erträge sind stark zurückgegangen. Hinzu kommt, dass das Investmentbanking der Bereich ist, der bei der Deutschen Bank für den meisten Ärger gesorgt hat. Banker hatten Zinsen manipuliert, waren an dubiosen Hypothekengeschäften beteiligt, auch Geldwäsche wirft die Bankenaufsicht ihnen vor. Sewing kennt sich damit aus. Nach der Finanzkrise war er als Chef der Revision und später als Rechtsvorstand dafür zuständig, die Altlasten der Investmentbanker aufzuräumen.
Auch deshalb dürfte er künftig einen stärkeren Schwerpunkt auf das Privatkundengeschäft mit Kleinsparern und Girokonten legen. In einem Interview im vergangenen Jahr sagte er, es sei an der Zeit, sich wieder intensiv um die Firmen und Privatkunden zu kümmern, die Deutsche Bank habe „den Blick auf unsere Wurzeln ein Stück weit verloren“.
Vielleicht zwingt die Krise der Deutschen Bank das Geldinstitut, sich auf ihre Anfänge zurückzubesinnen. Auf einer Investorenkonferenz im vergangenen Herbst sagte Christian Sewing jedenfalls, im Sturm bekämen Bäume tiefe Wurzeln.