Die Türkei wählt am Sonntag: Der Anfang vom Ende des Systems Recep Tayyip Erdogan
Das Ergebnis der Parlamentswahl am 7. Juni wird für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zur Nagelprobe. Seine Partei führt nicht mehr unangefochten, seine Pläne für eine „Neue Türkei“ drohen zu scheitern. Werden die Türken ihm einen Denkzettel verpassen?
Eine Kneipe in Istanbul. Aus den Lautsprechern tönt Rockmusik, eine Gruppe von Freunden unterhält sich über die Parlamentswahl am 7. Juni. Niemand unter den versammelten Managern und Künstlern, die sich in Jeans und T-Shirt beim Bier entspannen, ist ein Fan von Präsident Recep Tayyip Erdogan und von dessen Regierungspartei AKP, deshalb geht es vor allem um die Frage, wie ein weiterer Machtzuwachs für Erdogan verhindert werden kann. Im Gespräch wird ein Trend deutlich, der auch in den Meinungsumfragen ablesbar ist: Einer in der Istanbuler Kneipe, ein erfolgreicher Manager in einem Istanbuler Großunternehmen, schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Ich wähle die Kurden“, ruft er aus. „Dann könnte es klappen.“
Eine Woche vor der Wahl in der Türkei steht Erdogan im Mittelpunkt des Interesses – obwohl der 61-Jährige als Staatsoberhaupt offiziell überhaupt nichts mit der Parlamentswahl zu tun hat. In Wahrheit geht es aber sehr wohl um ihn. Am 7. Juni stimmen die Türken über das System Erdogan und dessen Zukunft ab. Das führt zu noch nie dagewesenen Wählerbewegungen: Die Kurdenpartei HDP, die noch vor Kurzem vom Establishment als politischer Arm der PKK-Kurdenrebellen verdammt wurde und eine politische Randexistenz führte, wird hoffähig und für Mitglieder der Mittel- und Oberschicht wählbar. Sie erscheint Erdogan-Gegnern wie der Gruppe in der Istanbuler Kneipe als bestes Mittel, den Präsidenten aufzuhalten und eine Ein-Mann-Herrschaft zu verhindern.
Viele spüren, dass Recep Tayyip Erdogan zu mächtig geworden ist
Vor dem Wahltag ist bei vielen Wählern das Gefühl spürbar, dass Erdogan inzwischen einfach zu mächtig geworden sei. Die „Erdogan-Muss-Gestoppt-Werden“- Partei sei inzwischen die größte des Landes, sagt der Publizist Ates Ilyas Bassoy. Ob hier der Wunsch der Vater des Gedankens ist, wird sich zeigen.
Erdogan hat die Wahl zu einer Volksabstimmung über seinen Plan zur Einführung eines Präsidialsystems erklärt. Kritiker werfen ihm vor, er wolle Regierung und Parlament kaltstellen und alle Macht an sich reißen, ohne gleichzeitig Kontrollmechanismen zu schaffen, die etwa in den USA die Befugnisse des Präsidenten begrenzen.
Die Vor- und Nachteile des Präsidialsystems bilden aber nur einen Aspekt. Es geht vor allem um die Frage, „ob die Leute von Erdogan genug haben“, wie es der Kolumnist Okay Gönensin formuliert. Erdogan dominiert die politische Szene seit mehr als einem Jahrzehnt wie kein anderer Politiker nach Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Nun haben die Türken zu entscheiden, ob sie Erdogan die Flügel stutzen oder ihn noch mächtiger machen wollen.
Bei der Entscheidung dürfte auch die Wirtschaftslage eine Rolle spielen. Das in den vergangenen Jahren zeitweise märchenhafte Wachstum der Türkei hat sich abgeschwächt, Arbeitslosigkeit und Lebensmittelpreise steigen. Nach einer Studie der Istanbuler Koc-Universität haben 48 Prozent der Türken den Eindruck, es gehe mit der Wirtschaft bergab; im vergangenen Jahr waren nur 30 Prozent dieser Meinung.
Damit gerät eine der Säulen der AKP-Erfolge der vergangenen Jahre und des Systems Erdogan ins Wanken. Erdogan, der 2003 als Ministerpräsident antrat und im August vergangenen Jahres zum Präsidenten gewählt wurde, ist nicht zuletzt wegen der Erfolge seiner Wirtschaftspolitik zum politischen Superstar geworden. Die Wirtschaftsleistung der Türkei hat sich in seiner Regierungszeit verdreifacht, ehrgeizige Infrastrukturprojekte wie Straßen, Flughäfen und Brücken haben das Gesicht des Landes grundlegend verändert.
In der politischen Arena brach Erdogan den undemokratischen Machtanspruch der putschfreudigen türkischen Militärs und ermöglichte den lange benachteiligten fromm-konservativen Anatoliern neue Aufstiegschancen. Zumindest in der ersten Phase seiner Ära brachten politische Reformen mehr Freiheitsrechte für alle. Heute verhandelt Ankara sogar mit dem kurdischen Rebellenchef Abdullah Öcalan über ein Ende des seit mehr als 30 Jahren andauernden Kurdenkonflikts.
Als Mann aus kleinen Verhältnissen präsentierte sich Erdogan lange als Vertreter der einfachen Leute, der es denen da oben mal so richtig zeigt. Seit er selber ganz oben ist, propagiert der Volkstribun seine „Neue Türkei“, die sich weder von der EU noch von den Amerikanern etwas sagen lässt und die in wenigen Jahren zu den zehn stärksten Volkswirtschaften der Welt aufsteigen will.
In der Türkei selbst geht Erdogan rücksichtslos gegen angebliche oder tatsächliche Gegner vor. Er ließ 2013 die Gezi-Proteste zusammenknüppeln und würgte Korruptionsermittlungen gegen seine Regierung ab. Mit einem Polizeigesetz ließ er einige der demokratischen Errungenschaften seiner ersten Amtsjahre als Ministerpräsident wieder einkassieren. Unliebsame Kritiker überzieht er mit Beleidigungsklagen; zwischenzeitlich saßen in der Türkei mehr Journalisten in Haft als in allen anderen Ländern der Erde, inklusive China und Iran. Laut einer Umfrage finden inzwischen 56 Prozent der Türken, die Meinungfreiheit sei in Gefahr.
Abhängigkeiten und Loyalitäten des Systems Recep Tayyip Erdogan
In Ankara fußt das System Erdogan auf einem Netzwerk aus Abhängigkeiten und Loyalitäten, in dessen Zentrum er selbst steht. Der Präsident sieht sich als obersten Repräsentanten des „nationalen Willens“, die Opposition rückt er regelmäßig in die Nähe von Landesverrätern. Säuberungsaktionen haben tausende Anhänger des vom Unterstützer zum Erzfeind gewordenen islamischen Predigers Fethullah Gülen aus der Polizei und der Justiz entfernt; die Geschassten wurden durch Erdogan-treue Beamte ersetzt. Auch als Präsident, der sich laut Verfassung aus der Tagespolitik heraushalten muss, hält er die Fäden in der Regierung und in der AKP fest in der Hand.
Nominell unabhängige Institutionen wie der Richterrat sind mit Erdogan-Anhängern besetzt, Unternehmer wurden mit öffentlichen Aufträgen auf Linie gebracht. Öffentliche Medien wie der Fernsehsender TRT oder die Nachrichtenagentur Anadolu verwandelten sich in Sprachrohre der Regierung. Das System Erdogan beruht auf der Tatsache, dass er viele wichtige Entscheidungen alleine trifft – und deshalb Gunst gewähren oder verweigern, Karrieren in den verschiedensten Bereichen beschleunigen oder beenden kann.
Der unbedingte Führungsanspruch äußert sich auch darin, dass sich der Präsident zu allen möglichen Themen zu Wort meldet. Mal fordert er von jeder Familie mindestens drei Kinder, mal bestellt er die Mannschaftskapitäne der türkischen Erstliga-Fußball-Klubs ein, um von ihnen Fair Play zu verlangen, mal doziert er öffentlich über die angebliche Entdeckung Amerikas durch Muslime.
Loyalität geht dem Präsidenten über alles. Er sei bereit, für Erdogan zu sterben, sagte Wirtschaftsberater Yigit Bulut einmal. Nichts ist für den Präsidenten schlimmer als mangelnde Treue. Selbst Allah verzeihe den Menschen – Erdogan aber nicht, heißt es angeblich in der AKP.
Kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident im vergangenen Jahr bezog Erdogan einen protzigen neuen Palast, dessen Bau umgerechnet rund eine halbe Milliarde Euro kostete. Im Palast lässt Erdogan einen Trupp Wachsoldaten bei offiziellen Anlässen in historischen Kostümen antreten, die glorreiche Zeiten türkischer Reiche der Vergangenheit repräsentieren sollen. Mitglieder der engeren Familie Erdogans, besonders sein Sohn Bilal, werden bei Besuchen in der Provinz empfangen wie hohe Würdenträger. Bei Wahlkampfveranstaltungen der AKP in der anatolischen Provinz seien ganz selbstverständlich öffentliche Ressourcen wie Busse im Einsatz, berichtet die Opposition, die solche Möglichkeiten selbst nicht hat.
Auch von den eigenen Leuten kommt Widerstand
Nicht nur die Opposition stört sich an Erdogans Anspruch, sich in alles einzumischen und alles entscheiden zu wollen. Die Regierung des neuen Ministerpräsidenten und nominellen AKP-Chefs Ahmet Davutoglu leistete sich kürzlich ihren ersten öffentlichen Streit mit dem Präsidenten und legte ihm nahe, er solle sich aus dem Friedensverhandlungen mit den Kurden heraushalten. Selbst in der AKP wird gemault, Erdogan umgebe sich in seinem Beraterstab mit Jasagern und Schmeichlern, die jede Kritik von ihm fernhielten. Regierungssprecher Bülent Arinc sagte, möglicherweise komme einst der Tag, an dem er ausrufen werde: „Aber der Kaiser ist ja nackt!“ Auch im Märchen geht es um einen Herrscher, dessen Diener keine unbequemen Wahrheiten aussprechen wollen.
Einige Kritiker meinen sogar, Erdogan sei nicht mehr ganz richtig im Kopf. Als der damalige Ministerpräsident mit scharfen Worten über die Gezi- Protestbewegung herzog und einen bei einem Polizeieinsatz getöteten Jungen als Terroristen bezeichnete, erklärte die türkische Ärztekammer, sie sorge sich um Erdogans Geisteszustand. Der Oppositionspolitiker Haluk Koc sagte, Erdogan sei jähzornig, „weshalb er sich nicht rational verhalten kann“. Koc empfahl Erdogan, sich von Spezialisten untersuchen zu lassen. Kürzlich sagte die nationalistische Erdogan-Gegnerin Meral Aksener, Premier Davutoglu erzähle hinter vorgehaltener Hand, Erdogan habe den Verstand verloren.
Im Wahlkampf werben Davutoglu und Erdogan für eine Fortsetzung der AKP-Alleinregierung und um eine möglichst große Mehrheit im neuen Parlament, damit Erdogan die Verfassungsänderungen für sein geplantes Präsidialsystem durchsetzen kann. Mindestens 330 der 550 Sitze sind dafür erforderlich, doch den Umfragen zufolge liegt die AKP weit unterhalb dieser Marke. Bei der letzten Wahl 2011 erhielt die Erdogan-Partei fast 50 Prozent der Stimmen und 326 Abgeordnete – diesmal pendelt sie bei 40 bis 45 Prozent. Mitentscheidend für den Wahlausgang ist das Abschneiden der Kurdenpartei HDP. Schafft sie den Sprung über die Zehnprozenthürde, kann Erdogan das Präsidialsystem erst einmal vergessen.
Der "Stopp-Erdogan-Wahlkampf" kommt an
Die HDP liegt in den meisten Befragungen entweder knapp unter oder knapp über zehn Prozent. Kurz vor dem Wahltag arbeitet Genosse Trend aber offenbar für die Partei. „Schon jetzt zeigt sich eine Aufbruchstimmung, die es seit Jahren nicht mehr gab“, sagt Ulrike Dufner, bis vor Kurzem Türkei-Vertreterin der Heinrich-Böll-Stiftung. Ein Parlamentseinzug der HDP wird für viele AKP-Gegner zur wichtigsten Frage. Unter ihrem Vorsitzenden Selahattin Demirtas präsentiert sich die HDP als moderne linksliberale Kraft und als Sammelbecken für alle Unzufriedenen. Damit profitiert die HDP von der Veränderung der AKP. Mit ihrer früheren Reformpolitik bot die Regierungspartei auch Liberalen eine Alternative, doch dieses Feld hat sie nun als reiner Erdogan-Wahlverein der Kurdenpartei überlassen.
Sahin Alpay, ein Politikwissenschaftler und Kolumnist der regierungskritischen Zeitung „Zaman“, ist einer der Erdogan-Gegner, die Demirtas‘ Partei für sich entdeckt haben. Die HDP sei die einzige Alternative für alle, die „dem Ehrgeiz Erdogans Zügel anlegen wollen“, schrieb Alpay kürzlich. Die säkulare Oppositionspartei CHP liegt bei rund 25 Prozent, gefolgt von der Nationalistenpartei MHP mit 15 bis 18 Prozent. Anders als die HDP haben sie aber Schwierigkeiten, über ihre Kernwählerschaft hinaus Anhänger zu gewinnen.
Demirtas weiß sehr genau, dass seine Partei die Chance hat, mit einem „Stopp Erdogan“-Wahlkampf zum Erfolg zu kommen. Er verspricht den Wählern, die HDP werde sich auf keinen Fall auf einen Deal mit Erdogan einlassen. In einer der kürzesten Reden der türkischen Parteiengeschichte wiederholte Demirtas nur einen Satz: „Wir machen dich nicht zum Präsidenten, wir machen dich nicht zum Präsidenten, wir machen dich nicht zum Präsidenten.“ Beobachter vermuten, dass sich die HDP nach der Wahl vielleicht nicht mehr an diese Worte erinnern wird. Doch selbst wenn es Verhandlungen zwischen HDP und Erdogan über eine Verfassung geben sollte, sei davon auszugehen, dass der Präsident nicht alles bekomme, was er haben wolle, ist der Politologe Alpay sicher. Das wäre neu. Der 7. Juni könnte den Anfang vom Ende des Systems Erdogan markieren.