zum Hauptinhalt
Annegret Kramp-Karrenbauer.
© Christof STACHE / AFP

Koalition der Erschütterten: "Da kann man nichts beschönigen"

Das Unions-Ergebnis der Europawahl ist historisch schlecht, da widerspricht keiner in der CDU. Und kann sich die SPD noch Volkspartei nennen, mit 15,6 Prozent?

Es gibt Sätze an solch einem Abend, deren ganze Wucht sich erst nach und nach entfaltet. „Erstmals ist die SPD dritte Kraft in einer bundesweiten Wahl geworden“, sagt Andrea Nahles. Die Parteichefin klingt so geschäftsmäßig dabei, dass man das versehentlich für eine gute Nachricht halten könnte: „Dritte Kraft“, alle Achtung! Dabei ist es eine Katastrophe.

Kann man sich noch Volkspartei nennen mit 15,6 Prozent? In Bremen ist die letzte sozialdemokratische Hochburg auch noch gefallen. „Extrem enttäuschend“ sei das alles. Und jetzt? „Ich sage ’Kopf hoch’ in Richtung SPD“, ruft die Vorsitzende der dritten Kraft. An einem der Stehtische im Foyer des Willy-Brandt-Hauses starrt ein älterer Genosse leicht entgeistert nach vorn. Kopf hoch? „Wie denn?“ murmelt er.

Den Kopf in den nächsten Tagen oben zu behalten wird in der Tat nicht einfach, und nicht nur für Sozialdemokraten. Die Wähler haben den Parteien der großen Koalition eine ziemliche Abreibung verpasst. „Die GroKo ist jetzt nur noch MiKro“, spottet Linken-Chefin Katja Kipping. Im Konrad-Adenauer-Haus tröstet sich zwar der CSU-Vorsitzende Markus Söder damit, dass seine Partei in Bayern „eines der stärksten Ergebnisse Europas“ erzielt habe. Doch worin die „Trendwende“ bestehen soll bei einem Ergebnis auf dem Niveau der letzten Landtagswahl, bleibt ein bisschen sein Geheimnis.

"Da kann man nichts beschönigen"

Annegret Kramp-Karrenbauer tröstet sich damit, dass ihre CDU bei der Europa- wie bei der Bremen-Wahl stärkste Kraft geworden ist. Aber dass die nicht einmal 28 Europa-Prozente „nicht dem Anspruch der Union“ entsprechen, muss auch die CDU-Vorsitzende einräumen. Andere werden deutlicher: Eine schwere Niederlage bescheinigt Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther der eigenen Partei: „Da kann man nichts beschönigen.“

Dabei würde es ja vielleicht fürs Erste schon reichen, wenn man das Desaster erklären könnte. Im Fall der Union ist das sogar relativ einfach: Die Strategen in Berlin und München haben den falschen Wahlkampf geführt und gegen den falschen Gegner. Kramp-Karrenbauer, Söder, auch der gemeinsame Spitzenkandidat Manfred Weber hatten die AfD im Visier und die Flüchtlingsdebatten der letzten Jahre, als sie „Sicherheit“ zum Schwerpunkt der Kampagne machten. „Wir haben in diesem Wahlkampf Fehler gemacht“, räumt die CDU-Chefin ein.

Genützt hat der falsche Schwerpunkt aber nicht mal da, wo er wirken sollte – die ersten Zwischenstände der Kommunalwahlen aus Sachsen wie aus Brandenburg zeigen die AfD klar vor den Christdemokraten. Der Rest der Republik applaudierte in den letzten Tagen dem Youtuber Rezo, als er die Klimapolitik der CDU komplett verriss, zur „Zerstörung“ der Partei aufrief und der Erledigung der SPD bei der Gelegenheit gleich mit. CDU-General Paul Ziemiak wartet immer noch auf eine Antwort auf sein Gesprächsangebot an den jungen Mann. Der SPD-Kollege Lars Klingbeil hat auf seine Bitte ebenfalls noch nichts gehört.

Jeder dritte Jungwähler wählte Grün

Dafür übersprang am Sonntag Rezos Video die Elf-Millionen-Zuschauer-Marke, und jeder dritte Jungwähler gab den Grünen seine Stimme. Bei der Grünen-Wahlparty in der Heinrich-Böll-Stiftung war der Jubel so laut, dass die Fernsehsender Untertexte einblenden mussten, weil man ihre Interviewpartner nicht verstand. Der Aufstieg zur zweiten Kraft kam nicht unerwartet. Aber er kam unerwartet deutlich. In Bremen können sie sich wohl aussuchen, ob sie der SPD das Weiterregieren trotz Niederlage ermöglichen oder der siegreichen CDU ins Rathaus verhelfen. Bundeschef Robert Habeck bleibt vorerst sybillinisch: „Es gibt einen klaren Wunsch nach einer veränderten Politik.“

Tja, Bremen. Das Europaergebnis tut der SPD weh, das Ergebnis in Bremen schmerzt richtig. 73 Jahre lang hat niemand die Sozialdemokraten aus ihrer Hochburg vertreiben können. Jetzt versucht es die CDU mit einem kompletten Politneuling – und der siegt. Der IT-Unternehmer Carsten Meyer-Heder wirkt am Abend noch immer von sich selber überrascht, aber er beweist Humor: „Das ist ja mein erster Wahlkampf“, sagt er. „Es ist aber ein historischer.“ Der andere Carsten, Bürgermeister Sieling von der SPD, schaut derweil ein paar Kameras weiter ziemlich verkniffen in die Linse. Früh am Abend gibt er die Parole aus, dass es ja noch früh sei. Aber später am Abend liegt die CDU immer noch gut zwei Prozentpunkte vorn. Rot-Rot-Grün oder Jamaika – bis das feststeht, kann es noch dauern an der Weser.

Die ganz Konservativen rufen schon wieder nach Friedrich Merz

Bis feststeht, wie es in Berlin weitergeht mit dieser Koalition – schwer zu sagen. Nervös waren sie schon vor dem Wahltag. Kramp-Karrenbauer hat in ihrem ersten Halbjahr als Parteivorsitzende die offene Spaltung vermieden; etwas verdeckter besteht sie aber fort. Ihre alten Unterstützer finden, dass es die Saarländerin mit konservativen Positionierungen übertreibt; die Konservativen können gar nicht genug kriegen. Die ganz Konservativen rufen schon wieder nach Friedrich Merz. Die CDU-Chefin verspricht allen Nachbesserung: „Ich bin überzeugt, dass mehr in uns steckt.“

Bei der dritten Kraft klingt die Beschwörung noch ein paar Stufen dringlicher. Nahles bittet im Foyer der Parteizentrale um Selbstbewusstsein. Das Schlimmste nämlich, was passieren könne: Wenn die inhaltliche und organisatorische Reform der SPD „auf halbem Wege“ stecken bleiben würde. „Wir glauben an unsere Politik“, ruft die Parteichefin.

Dumm nur, dass das „Wir“ über den engeren Kreis ihrer Vertrauten nicht mehr weit hinausreicht. Drei Parteilinke haben für Montag ein Papier vorbereitet, das man nur als Forderungskatalog nach einem Wechsel in eben dieser Politik lesen kann.

Die letzte SPD-Hochburg Bremen ist gefallen, die Trümmer könnten auch Andrea Nahles unter sich begraben.
Die letzte SPD-Hochburg Bremen ist gefallen, die Trümmer könnten auch Andrea Nahles unter sich begraben.
© imago images / Stefan Zeitz

Und dann sind da ja noch die Altvorderen, die partout nicht zum alten Eisen zählen wollen. Martin Schulz etwa, der Ex-Vorsitzende und Ex-Europakandidat, will Nahles spätestens bei der anstehenden Neuwahl im Herbst vom Fraktionsvorsitz verdrängen. Dass ihm in der Partei kaum jemand irgendeine Chance einräumt, ist für Nahles kein Trost – anderen denkbaren Gegenkandidaten wie etwa dem Linken-Sprecher Matthias Miersch werden solche Chancen sehr wohl zugesprochen.

Für Scholz käme ein Sturz von Nahles zu früh

Der zweite Ex-Vorsitzende gibt auch keine Ruhe. „In Berlin müssen jetzt diejenigen Verantwortung übernehmen, die den heutigen personellen und politischen Zustand in der SPD bewusst herbeigeführt haben“, verkündet Sigmar Gabriel. „Sie müssen jetzt auch Verantwortung für die SPD als Ganzes übernehmen.“ Vizekanzler Olaf Scholz versucht, Sperrfeuer zu schießen: Debatten um Personen führten nicht weiter. Aber weil jeder in der SPD weiß, dass Scholz selbst darauf schielt, nächster Kanzlerkandidat zu werden, gilt der Einwurf als doch ziemlich interessengeleitet.

Für Scholz käme ein Sturz von Nahles zu früh. Für beide zusammen käme das Ende der Koalition zu früh. Aber wie es weitergehen soll, ist völlig schleierhaft. Vor dem Wahlsonntag waren alle nervös und unzufrieden, nach dem Wahlsonntag sind sie noch nervöser und noch unzufriedener. Kramp-Karrenbauer beschwört einen neuen Aufbruch, etwas mit „Ärmel aufkrempeln“ und so. Der Münchner Söder fordert das Ende der „endlosen Selbstbeschäftigung“ in Berlin. Viel Hoffnung dürfte er selber nicht haben. Zur Selbstbeschäftigung gibt dieser Sonntag schließlich jede Menge neuen Anlass.

Zur Startseite