Vor der Wahl in Österreich: Chancenlos? Wie Pamela Rendi-Wagner Sebastian Kurz herausfordert
Österreichs Ex-Regierung ist in einen großen Skandal verstrickt. Oppositionsführerin Pamela Rendi-Wagner will die Wahl am Sonntag gewinnen.
Pamela Rendi-Wagner tanzt sich warm. Unsichtbar für die 2.000 Menschen am Linzer Hauptplatz wippt sie in einem toten Winkel der Bühne von einem Fuß auf den anderen und schiebt die Arme vor und zurück, leicht ungelenk, aber gut gelaunt. Es ist ein warmer Freitagnachmittag, die Kaffeehäuser haben ihre Sonnenschirme aufgespannt, im Schatten lässt es sich besser aushalten als ganz vorn in der prallen Sonne, trotzdem sind die Bierbänke voll besetzt.
„Wir steh’n zusammen“, wummert es von der Bühne, Alf und DJ Mike spielen ihren SPÖ-Wahlkampfsong, und nur ein paar Meter entfernt singt Parteichefin Rendi-Wagner mit. „Wir sind gleich und verschieden, du und ich und wir.“ Eine Deutschpop-Hymne auf die gute alte sozialdemokratische Solidarität, mit der die Musiker bis an die Spitze der Österreichischen Schlagercharts geklettert sind.
Platz 1, den will auch Pamela Rendi-Wagner bei den Nationalsratswahlen am 29. September für Österreichs Sozialdemokratie holen, sie betont es immer wieder. Optimismus fällt den meisten Genossen sofort ein, wenn man mit ihnen über „die Pam“ redet. Ihre „Wahlkampfschuhe“, wie sie einer ihrer Mitarbeiter nennt, die weißen Turnschuhe, die sie auch heute in Linz trägt, ziert ein Schriftzug: „Yes we Pam“. Diesen Kampfgeist versucht sie auch den Zuschauern in Linz einzuimpfen, meist versammelt sich ja auf diesen Veranstaltungen die Basis der Partei, die für Rendi-Wagner an Türen klingelt, Flyer verteilt, Plakate klebt. „Wir werden aufholen, wir werden kämpfen, und dann wird Menschlichkeit siegen in Österreich“, ruft sie ihren Leuten zum Abschluss zu. „Freundschaft!“
Der Wahlsieger wird Sebastian Kurz heißen
Die Genossen jubeln, aber sie alle kennen die Umfragen, die nur einen Schluss zulassen: Der Wahlsieger wird Sebastian Kurz heißen, er wird nach einer kurzen Unterbrechung wieder einziehen ins Bundeskanzleramt am Wiener Ballhausplatz, wo er, wie er einmal im Interview verriet, ohnehin ein paar Möbel hat stehen lassen.
Pamela Rendi-Wagner, 48 Jahre alt, wird diese Wahl aller Voraussicht nach nicht gewinnen können. Doch sie kämpft um mehr als um das Bundeskanzleramt. Wird ihre Partei gut abschneiden, so kann sie fast sicher davon ausgehen, zumindest deren Vorsitzende zu bleiben.
In den aktuellen Umfragen liegt Sebastian Kurz zehn Prozentpunkte vor der SPÖ, die insgesamt nur mit etwas mehr als 20 Prozent der Wählerstimmen rechnen kann. Knapp dahinter kommen bereits die Freiheitlichen von der FPÖ, und das ist spätestens der Punkt, an dem ins Stutzen gerät, wer sich nur am Rande mit österreichischer Politik beschäftigt: War da nicht was auf Ibiza?
Da zerhaut es Sebastian Kurz’ Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ im Mai im größten Politskandal der österreichischen Nachkriegsgeschichte – und die größte Oppositionspartei muss sogar um Platz 2 kämpfen? Gegen die Partei, deren Übervater Heinz-Christian Strache im Suff die halbe Republik an eine angebliche russische Oligarchennichte verscherbeln wollte?
Erstaunlich wenig verändert
In der Zeit nach dem Auftauchen des Videos, das all dies festhielt, war oft von einem „Beben“ die Rede. Tatsächlich wurde die Republik durchgerüttelt: Zum ersten Mal in der Geschichte wurde ein Innenminister entlassen, Sebastian Kurz als erster Kanzler per Misstrauensvotum aus dem Amt befördert. Bis heute beschäftigt das Video die Staatsanwaltschaft, während die Medien im Eiltempo die nächsten Skandale ausgruben: Ein Mitarbeiter von Sebastian Kurz schredderte unter falschem Namen Festplatten – und zahlte nicht einmal die Rechnung. Die Milliardärin Heidi Horten stückelte ihre Spenden an Kurz genau so, dass der Rechnungshof nicht sofort informiert werden musste. Die Wochenzeitung „Falter“ veröffentlichte Dokumente, die Buchhaltungstricks der ÖVP belegen sollen, mittels derer die Partei vermeintlich die gesetzliche Wahlkampfkostengrenze umgehe. Die ÖVP behauptet, die Daten seien von Hackern geklaut und manipuliert worden, und erhob eine Unterlassungsklage.
Doch all die Unruhe, all die Erschütterungen haben in Österreichs politischer Landschaft erstaunlich wenig verändert. Innerhalb der Opposition gewinnen die Grünen hinzu, auf Kosten der SPÖ. Und im ehemaligen Regierungslager, in der „Ibiza-Koalition“, wie Rendi-Wagner sie nennt, hat Kurz’ rechtskonservative ÖVP aufgesaugt, was die FPÖ verloren hat.
Dem jüngsten Altkanzler der Geschichte wird derzeit auffallend oft ein Beiname verpasst, den Angela Merkel früher mit sich herumtrug: Teflon-Kanzler. Nichts bleibt an dem 33-Jährigen picken, wie man in Österreich sagt, nichts bleibt kleben, nicht die zahlreichen Skandale der FPÖ in der gemeinsamen Regierungszeit, nicht die Enthüllungen über die trickreiche Buchhaltung seiner Partei. Auch nicht eine peinliche Biografie der Journalistin Judith Grohmann, die er autorisiert hat. In der Kanzlerfrage schlägt Kurz sowohl FPÖ-Chef Norbert Hofer als auch Pamela Rendi-Wagner um Längen.
Im Fernsehduell am vergangenen Mittwoch wählte die SPÖ-Chefin dann den persönlichen Angriff: Kurz sei nicht vertrauenswürdig, weil er „zwei Gesichter“ habe. So habe Kurz etwa einige Tage zuvor seinen Pressesprecher angewiesen, die Nachricht von einem Fieberschub Norbert Hofers an den Boulevard durchzustechen. „Das toppt alles“, entgegnete Kurz, bis heute steht Aussage gegen Aussage. Einige Minuten später legte Rendi-Wagner, das Kinn wie so oft herausfordernd nach oben gereckt, nach: „Er ist ist ja noch jung, er kann noch viel lernen.“
Neuwahlen gegen den "Wunderwuzzi"
Rendi-Wagner, so scheint es, will endlich in die Offensive kommen. Eine Woche nach dem Ibiza-Skandal, bei der Europawahl, musste sie bei ihrer ersten bundesweiten Wahl als SPÖ-Chefin gleich das mit 23,9 Prozent historisch schlechteste Ergebnis ihrer Partei erklären. Sie tat es in einem denkwürdigen Interview in der wichtigsten Nachrichtensendung der Republik, in der „ZIB 2“ mit Armin Wolf, dem Star unter Österreichs Journalisten – ins Studio zugeschaltet vom Heldenplatz, schlecht ausgeleuchtet, das Mikrofon wie eine wärmende Tasse Tee umklammert, hinter ihr im Schummerlicht einige Genossen aus der Parteiführung mit Grabesmienen. Rendi-Wagner lachte an der falschen Stelle, Armin Wolf hakte ein. „Ich weiß jetzt ehrlich gesagt nicht, warum Sie lachen“, sagte er. „Möglicherweise hätten Sie auch heute einfach Ihren Rücktritt anbieten sollen.“
Rendi-Wagner führt die SPÖ erst seit Ende November 2018. Genossen, die es gut mit ihr meinen, erinnern daran, in welch schwieriger Lage ihr Vorgänger und Förderer Christian Kern die Partei hinterlassen hat. Er holte Rendi-Wagner während seiner kurzen Amtszeit als Bundeskanzler einer großen Koalition in sein Kabinett, ab März 2017 saß sie dort an einem Tisch mit Außenminister Sebastian Kurz, der das Bündnis zwei Monate später auflöste. Nach seiner Niederlage bei den Neuwahlen gegen den „Wunderwuzzi“ Kurz konnte sich Kern nie mit seiner Rolle als Oppositionschef anfreunden, im September 2018 warf er hin und präsentierte den Gremien Rendi-Wagner als Wunschnachfolgerin.
Eine Überraschung, schließlich entspricht Rendi-Wagner nicht dem Ideal des Sozialdemokraten. Der SPÖ trat sie erst kurz vor ihrem Amtsantritt als Gesundheitsministerin bei. Keine zwei Jahre später sollte sie die Partei anführen, als erste Frau in ihrer Geschichte.
Eine Bilderbuchkarriere
Joy Pamela Rendi-Wagner, wie sie mit vollem Namen heißt, wird im Mai 1971 in Wien geboren, die Eltern 68er, die Mutter mit 19 plötzlich alleinerziehend. Schon als Kind habe sie immer Ärztin werden wollen, erzählt Rendi-Wagner gern, und sie erfüllt sich ihren Traum: Sie konzentriert sich auf Tropenmedizin, studiert in London und Wien, habilitiert sich 2008. Auf Grundlage ihrer Arbeit wird die Impfpraxis gegen Zecken in Österreich verändert. Als ihr Mann Botschafter in Israel wird, nimmt sie eine Gastprofessur in Tel Aviv an, bevor sie 2011, mittlerweile zweifache Mutter, als Topbeamtin im Wiener Gesundheitsministerium anheuert. Eine Bilderbuchkarriere – die zu ihren Ungunsten verwendet wird.
„In London Tropenmedizin studiert, in Tel Aviv an der Uni gearbeitet, die kommt von ganz unten, die ist eine von uns“, ätzte das Satire-Duo Stermann & Grissemann, wohlwissend, dass Rendi-Wagner sich in einer Partei behaupten muss, die ähnlich wie die Genossen in Deutschland um ihre Identität ringt. Die Arbeiter hat sie fast komplett an die FPÖ verloren, 60 Prozent wählten bei der Nationalratswahl 2017 rechts außen.
Einige aus dem linken Flügel machen dafür die Wiener „Bobos“ verantwortlich, die österreichische Version der Latte-macchiato-Trinker vom Prenzlauer Berg. So einen „Bobo“ installierte Rendi-Wagner als Bundesgeschäftsführer, dafür musste Max Lercher weichen, ein Liebling der Basis. Inhaltlich begab sie sich auf einen Schlingerkurs: Erbschafts- und Vermögenssteuern schloss sie zum Ärger einiger Landesverbände anfangs noch aus, nur um im Wahlkampf eine Millionärssteuer zu fordern. Die Boulevardmedien schrieben jeden Zwischenruf der Parteifreunde zur Revolte hoch, das Urteil war schnell gefällt: Die kann es nicht. Und die dramatischen Stunden nach Ibiza schienen es zu bestätigen.
Am Samstagmittag des 18. Mai, das Video ist keine 24 Stunden im Umlauf, tritt Strache zurück. Kaum hundert Meter von seinem Amtssitz entfernt, vor dem Bundeskanzleramt, formiert sich eine Demonstration, die Sonne strahlt, junge Leute schleppen Bierdosen herbei und tanzen zum Lied der Stunde: „We’re going to Ibiza“ von den Vengaboys. Wer einen politischen Riecher besitzt, macht sich sofort auf den Weg. Die Chefin der Neos, Beate Meinl-Reisinger, gibt Interviews inmitten der Demonstranten, die „Kurz muss weg“ skandieren. Aber wo ist die Oppositionsführerin? Wo ist Pamela Rendi-Wagner?
Der Optimismus überwiegt
Rendi-Wagner geht nicht raus, sie wartet und wartet, bis sie endlich zur Pressekonferenz lädt. Ihre Botschaft wirkt verschachtelt, kompliziert, die Journalisten haken nach, fordert sie nun Neuwahlen oder nicht? Rendi-Wagner winkt ab, aber Kurz solle „Verantwortung übernehmen“. Ein paar Stunden später meldet sich Kurz zur besten Sendezeit, mit einer klaren Botschaft: „Genug ist genug.“ Die Opposition ist düpiert.
Doch Rendi-Wagner holt zum Gegenschlag aus: Sie paktiert mit der FPÖ und befördert Kurz eine Woche später per Misstrauensantrag aus dem Bundeskanzleramt. Eine Genossin aus dem Parteivorstand, die Rendi-Wagner gut kennt, verteidigt es als mutigen Schritt, einen, der die „echte“ Pamela Rendi-Wagner gezeigt habe: standhaft, kämpferisch. Ihre Verkrampfung habe sich gelöst, was auch die Funktionäre in der Partei merken würden. Wer sich umhört unter den Genossen, erfährt immer wieder dieselbe Erzählung: Sie hat sich gefangen.
Auf der Wahlkampfveranstaltung in Linz findet Pamela Rendi-Wagner sogar einen Weg, wie sie „eine von uns“ sein kann: Ihren Traumberuf Ärztin konnte sie nur ergreifen, erzählt sie, weil die Politik der 70er Jahre sie und ihre Mutter nicht alleingelassen habe, weil sie im Gemeindebau wohnten, weil der Staat für einen Kindergartenplatz sorgte und eine gute Schulbildung. Eine Chiffre, die hier alle verstehen: In den 70ern regierte der Sonnenkanzler Bruno Kreisky für die SPÖ die Republik, jahrelang sogar mit absoluter Mehrheit. „Es geht um Chancen für alle“, ruft Rendi-Wagner, „um die faire Chance, die ich bekommen habe als Tochter einer 19-jährigen Alleinerzieherin.“ Das Publikum johlt.
Auf einer Biergarnitur diskutieren vier SPÖ-Gemeinderäte aus Sierning, 40 Kilometer von Linz entfernt, Rendi-Wagners Chancen. Aus ihrer Gemeinde sind sie das Siegen gewohnt, die Sozialdemokraten halten in Sierning die absolute Mehrheit. So gut wird es nicht, so realistisch sind sie schon. Aber der Optimismus überwiegt. „Schade, dass die Brigitte Bierlein jetzt die erste Kanzlerin der Geschichte geworden ist“, sagt die einzige Frau in der Runde. „Sonst wäre es die Pam geworden.“
Ihre eigenen Leute scheint Rendi-Wagner für sich gewonnen zu haben. Das könnte aber auch schon der größte Sieg sein, den sie bei dieser Wahl erringen kann.
Christian Bartlau