Museumsprojekt in Amsterdam: Blick in Rembrandts Kopf
Forscher restaurieren die 377 Jahre alte „Nachtwache“. Sie wollen das Gemälde bewahren – und seine Geheimnisse lüften.
Ein Kreischen der Arbeitsbühne stört die quasi-sakrale Andacht der Besucher, die sich schon am Morgen um kurz nach neun um Rembrandts „Nachtwache“ geschart haben. Der Scanner wird neu justiert. Scan Nr. 18 ist dran: „Jetzt kommt es zu einer interessanten Stelle“, sagt Katrien Keune, Restauratorin und Leiterin der „Operation Nightwatch“.
Mitten im Bild steht das festlich gekleidete, leuchtende, unbekannte Mädchen, das am Gürtel ein totes Huhn trägt. Die Identität und Bedeutung des Mädchens sind zwei von vielen Rätseln, die der Maler in sein größtes Werk hineingepinselt hat. Es zeigt die Kompanie von Kapitän Frans Banning Cocq und Leutnant Willem van Ruytenburgh, getroffen im Moment des Aufbruchs. Der berühmte Schatten der Hand des Kapitäns fällt auf den Mantel des Leutnants, zwischen Daumen und Fingern ist wie zufällig das Wappen Amsterdams eingestickt.
„Wir wollen in Rembrandts Kopf“, sagt Keune. Gleich wird ein Röntgenstrahl über diese Stelle fahren und die dort vorhandenen chemischen Elemente nachweisen, die Rembrandt vor fast vierhundert Jahren in seine Farben gerührt hat.
Und weil manchmal das Kleinste das Größte bedeuten kann, wollen sie durch diese Detailkenntnisse den Malprozess verstehen. Verstehen, welche ästhetischen Entscheidungen für die Farbgebung und den Bildaufbau getroffen wurden. „Wir wollen wissen: Welche Effekte wollte Rembrandt kreieren, welche Wirkung erzielen?“ Sie wollen sehen, wie er mit der endgültigen Platzierung der Figuren gerungen hat. Verstehen, wie die „Nachtwache“ werden konnte, was sie ist.
Die Wissenschaftler sind Teil der Ausstellung
Seit dem 8. Juli haben sich deshalb im ehrwürdigen Amsterdamer Rijksmuseum einige Dinge grundsätzlich geändert: Die Restauratoren und Wissenschaftler arbeiten nun auch am Wochenende, schließlich sind sie Teil der Ausstellung geworden, für die die Besucher 20 Euro gezahlt haben. Bevor die Forscher mit ihren elektronischen Zugangskarten die Türen zu dem zimmergroßen Glaskasten öffnen, um sich an die Arbeit an der „Nachtwache zu machen“, streifen sie schwarze Dienstkleidung über, mit dem Namen des Hauptsponsors und dem Projektnamen auf dem Rücken: „Operation Nightwatch“ steht darauf.
Sprachlich ist „Operation Nightwatch“ damit in die Nähe eines Sondereinsatzkommandos gerückt. Die „Operation“, deren besondere Aufgabe es ist, 17 Quadratmeter holländischen Nationalheiligtums für die nächsten Generationen zu retten. Vor aller Augen. Weshalb Rembrandts „Nachtwache“ jetzt rahmenlos, also irgendwie nackt, von einer schützenden Vitrine umbaut ist, in der die Wissenschaftler ihre Arbeit tun.
Es ist die 26. Restaurierung dieses vermeintlich besten Gemäldes des berühmtesten niederländischen Künstlers. Doch vor der Restaurierung steht die umfassendste Untersuchung, die es an diesem Bild je gegeben hat. Sie haben einen 25-köpfigen Schwarm gebildet, Fotografen, Restauratoren, Kunsthistoriker, Polymerforscher. Jeder eine Koryphäe im eigenen Fach. 56 Scans eines Makrostrahl-Fluoreszenz-Scanners, kurz RFA-Scanners, von denen jeder einzelne 24 Stunden dauert, werden angefertigt. 12.500 hochauflösende Fotografien werden erstellt und später am Computer zusammengefügt. Eine Leinwandanalyse steht an. In Laboren wird das Verhalten von Farbmolekülen chemisch simuliert.
Millionen chemischer Reaktionen
Katrien Keune ist Expertin für Alterung und Verfall von Ölfarben. „Das Verhalten von Farben ist wirklich dynamisch“, sagt sie. Jede Farbe benimmt sich anders auf der Ebene der Moleküle. „In den ersten paar Stunden nach dem Farbauftrag laufen Millionen chemischer Reaktionen ab.“ Wenn die flüssige Farbe zu fester, brillanter Substanz wird.
Dieser Prozess ist nun 377 Jahre her. Einige organische Anteile der Farben sind in dieser Zeit unter Umwelteinflüssen ausgeblichen oder nachgedunkelt. Keune will wissen, wie das Bild aussah, bevor zum Beispiel „Smalte“, das Kupferglasblau, vergraute. Bevor sich der weiße Schleier über den Hund im unteren Teil des Bildes legte.
Und das ist ein genialer Coup: Statt ihr berühmtestes Gemälde einfach zur Restaurierung verschwinden zu lassen, untersuchen sie es am Rijksmuseum vor Ort. „In situ“ nennen sie das. Im Internet kann man die Fortschritte live verfolgen, es ist eine Restaurierung, die als Monate dauernder Cliffhanger konzipiert ist.
Holländische Transparenz
So katapultiert sich das Museum mit dem Besten, was das 17. Jahrhundert zu bieten hat, endgültig ins 21. Jahrhundert: zurück in die Zukunft mit den neuesten Erkenntnissen der Polymerforschung, der Datenverarbeitung, der Radiologie und der Kommunikationsmöglichkeiten in Social Media. Durch letztere wird immer mal wieder der Bilderhunger der durch Superlative angefixten Massen gestillt, die mit den ersten Ergebnissen der Untersuchung im Internet zunächst ein bisschen bedient, aber im Großen und Ganzen doch hungrig gehalten werden.
Womöglich liegt es an der holländischen Art der Transparenz, dass es Keune nichts ausmacht, wenn sie nun von allen beobachtet im Glaskasten arbeitet. Wer im Volk ohne Vorhänge groß geworden ist, in der Stadt lebt, die berühmt dafür ist, dass ihre Bewohner keine Gardinen haben, bringt alle Voraussetzungen mit.
Im Glaskasten macht man sich nun am RFA-Scanner zu schaffen, einem nagelneuen Gerät, das beste seiner Art. Millimeter für Millimeter fährt der Röntgenstrahl über das Bild und kartiert alle vorhandenen Elemente: Zum Beispiel Kalium, Kalzium, Kupfer, Blei. So entstehen Karten des Gemäldes, die verraten, welche Pigmente der Maler benutzt hat. Keune wischt auf ihrem Handy: Da leuchten die Ergebnisse der ersten drei Wochen, die ersten Röntgen-Scans. Die erste Karte zeigt die Verteilung von Kobalt.
Aber die Kenntnisse der Pigmente sind kein Selbstzweck. Die „Nachtwache“, das sind auch über knapp vier Jahrhunderte konservierte ästhetische Absichten, die man heute noch lesen kann. Rembrandt war ja ein perfektionistischer, lange mit sich selbst unzufriedener Maler. Und auch seine Korrekturbewegungen sind in den Farbschichten verewigt. Schon heute weiß man, dass er zum Beispiel Lanzen verlängerte, um ihre Bildwirkung zu verstärken. Dass er Figuren durchs Bild wandern ließ, wenn ihm ihre Positionierung nicht gefiel. Das hatte Keune gemeint, als sie anfangs davon sprach, in Rembrandts Kopf zu wollen.
Wie alle Vitrinen lässt auch die im Rijksmuseum zwar blicken, hält aber zugleich auf Abstand. Am interessantesten ist natürlich immer noch das, was man nicht sieht.
Drei Millionen Euro, allein für die Analyse
Jedes Material – und Farbe ist keine Ausnahme – hat eine spezifische Lebensdauer. Dann greift die Materialermüdung. Das ist das drängendste Argument für eine Recherche. Und der Hebel für ihre Finanzierung: Drei Millionen Euro haben sie für das Jahr der Analyse veranschlagt, bevor die eigentliche Restaurierung beginnt.
Es klingt nach einem Wettlauf gegen die Zeit, die ja auf Erden immer Verfall bedeutet. Keune steigert sich rein, spricht von der sagenhaften Beschleunigung ihres Fachs in den letzten paar Jahren. Museen beschäftigen jetzt eigene Wissenschaftler wie sie, gehen Kooperationen mit Universitäten ein, loben Stipendien aus, profitieren von den Erkenntnissen in anderen Wissenschaften, benutzen Analysetechniken aus der klinischen Praxis und von der Nasa.
Der Scanner läuft ohne Pause
Keune betreut etwa einen frisch promovierten Chemiker, der erforscht, wie die Moleküle sich in Ölfarben verhalten. Dafür braucht er nicht einmal Materialproben. Er kann die Alterungsprozesse von Farben simulieren, sodass er das Bild selbst für seine Erkenntnisse gar nicht berühren muss.
„Es ist schneller und effizienter, wenn der Scanner durchgehend läuft“, sagt Keune und hat gar nichts gegen die Arbeit am Wochenende. Die Maßnahmen, die am Ende ergriffen werden, „müssen erprobte Verfahren sein“. Besonders an diesem Bild. Denn sie haben gelernt: Die vorangegangenen 25 Restaurierungen veränderten sich im Laufe der Zeit. Und zwar anders als das Ursprungsbild. Retuschen, die zur Zeit ihrer Ausführung perfekt aussahen, sind mit der Zeit nachgedunkelt. Einige mussten wieder entfernt werden. Die letzte Restaurierung fand 1975 statt, nachdem ein geistig Verwirrter das Bild mit zwölf Messerschnitten attackiert hatte.
Immer dienstags berauschen sich die Forscher an den ersten Erkenntnissen, wenn sich die Meister ihrer Fächer gegenseitig auf den neuesten Stand bringen, die Schwarmintelligenz ist voll versammelt. Es geht an den Dienstagen nicht nur darum, was gefunden wurde, sondern vor allem auch darum, was diese Funde bedeuten könnten. Für die Malerei, für Rembrandts Werk, für uns alle.
An dieser Stelle kommt Gregor Weber ins Spiel, der deutsche Kunsthistoriker, dessen Leben sich unauflöslich mit Rembrandt verbunden hat, seitdem er mit 15 Jahren dessen sagenhaftes Porträt von Jan Six, dem großen Amsterdamer Kaufmann, gesehen hatte. Hölzerner Besprechungstisch, Eckbüro, Weber ist auch Teil der Steuerungsgruppe „Operation Nightwatch“. Er leitete fünf Jahre lang die Gemäldegalerie Alte Meister in Kassel, dort kuratierte er drei Rembrandt-Ausstellungen. Als Deutscher mit einer Faszination für Rembrandt „bin ich dann folgerichtig hier gelandet“. Am Rijksmuseum mit seinen 22 Gemälden, 60 Zeichnungen und 1300 Drucken seiner rund 300 Radierungen.
Rembrandt interessierte das Leben "mit allen Warzen"
Rembrandt ist für Weber „einer, den man fassen kann. Und mit 80 Selbstporträts ein Künstler, der ein Gesicht hat und sein eigenes Leben reflektiert“. Er sucht nicht die Idealisierung, sondern das, was ist. „Das Leben interessierte ihn nicht geschminkt“, sagt Weber, „sondern mit allen Warzen“.
Man weiß nicht genau, wie lange es gedauert hat, mindestens ein Jahr, um die „Nachtwache“ zu malen, und doch scheint sie einen einzigen, bewegten Augenblick einzufangen. Nichts Statisches ist in dem Bild, wie bei anderen Gruppengemälden aus der Zeit, alles ist im Fluss.
„Der Witz ist, dass bei Rembrandt noch so viele Fragen offen sind“, sagt Weber. Erst jetzt, zu diesem Anlass, hat zum Beispiel seine Studentin Lisanne Bedaux ihre Masterarbeit über die Kopien der „Nachtwache“ aus dem 17. Und 18. Jahrhundert geschrieben. Und siehe da: Das Gemälde war über die ganzen Jahre in Bewegung. Personen verschwanden plötzlich, Gegenstände auch, andere tauchten auf.
Zum Beispiel das unbekannte Mädchen mit dem Huhn am Gürtel: Das habe einmal einen indianischen Federschmuck auf dem Kopf getragen, der irgendwann verschwand. Wer hat ihn übermalt? Und warum?
Schon hier ist klar, dass die neuesten Erkenntnisse der Untersuchung keineswegs letzte Antworten geben. Sondern vielmehr weitere Fragen aufwerfen.
"Das Bild verschwindet hinter seiner eigenen Berühmtheit"
Auch bei den Lanzen tauchen Abweichungen auf und dann erst die „Kartusche“, also die gemalte Plakette mit den Namen der Schützen: Man wusste immer, dass nicht Rembrandt selbst sie ausgeführt hatte. Aber nun kommt heraus, dass sie einmal da war, dann aber wieder verschwunden war! Und schließlich hat sie wohl wieder jemand hingemalt. Mysteriös!
„Die Kopien waren alle schon bekannt“, sagt Weber. Aber noch nie hatte jemand sie alle systematisch aufgelistet, verglichen und zusammengeführt.
Natürlich hätte man auf dieses Rätsel schon in den letzten 100 Jahren stoßen können, ganz ohne neue Technik. Weber kennt das Problem: „Das Bild verschwindet hinter seiner eigenen Berühmtheit.“ Alle glauben es zu kennen und schauen deshalb nicht mehr genau hin. Jetzt ist die Gelegenheit, noch einmal ganz neu zu gucken. Zum Beispiel auch auf die Merkmale der Leinwand.
Mit „automatic thread counting“, der computergestützten Fadenzählung, ist es möglich, eine Art Fingerabdruck einer Leinwand abzunehmen, denn jedes Webmuster ist einzigartig: Der Fadenlauf, möglicherweise gezogenen Fäden und unverwechselbare Schnittkanten sind ihre Merkmale. Am Rahmen bilden sich von einem Nagel zum anderen sogenannte „Spanngirlanden“ aus. So ist es zum Beispiel möglich, zu rekonstruieren, wo ein Stück der Leinwand nachträglich abgeschnitten wurde.
Jedes Leinwandende, das in einem anderen Bild sein Gegenstück findet, ist ein „Match“. Wenn man sie zusammenführt, passen sie perfekt aufeinander, dann stammt die Leinwand vom gleichen Ballen. So kann man nachvollziehen, welche Stücke nacheinander abgeschnitten wurden. Die „Nachtwache“ ist Teil eines Genres, das nach dem Westfälischen Frieden von 1648 stirbt. Es gibt danach keine Gruppenporträts von Schützengilden der Stadt Amsterdam mehr. Schließlich wanderten deren Porträts ins Rathaus als Eigentum der Stadt.
Zwei Figuren verschwanden: Eine Tür war zu schmal
1715 wurde die „Nachtwache“ an allen Seiten beschnitten, und links am meisten, damit das Bild durch zwei Türen passte. Zwei Porträts am linken Rand gingen dadurch verloren.
Dieser Schnitt ist der Ausgang für Webers kühne These: Was, wenn man die Leinwandstreifen, die der „Nachtwache“ abgeschnitten wurden, wieder finden könnte? Weiterverwendet als Grundlage für das Bild eines anderen Künstlers?
Das ist nicht so irre, wie es klingt.
Eine Idee wie aus einem Thriller
Man könne, sagt Weber, herausfinden, welche Maler um 1715 für das Amsterdamer Rathaus gearbeitet haben. Maler waren damals auch immer Restauratoren. Hätte man dann zum Beispiel drei Namen, die in Betracht kämen, könnte man deren Bilder der Leinwandanalyse unterziehen und ihr Webmuster mit dem der „Nachtwache“ abgleichen. „Als Maler hätte ich die Reste sofort wiederverwendet“, sagt Weber.
Gregor Weber pflegt diese Idee, die er auch schon dem Thriller-Autor Dan Brown erzählt hat, unter dem Label „verrückt“, obwohl sie natürlich zugleich nicht völlig ausgeschlossen ist. Und zwar immer weniger, je schneller die Analysetechniken voranschreiten. Und sind es nicht oft die verrückten Ideen, die am weitesten tragen? „Kunsthistoriker sind eben nicht nur Sammler, sondern auch Jäger.“
Katrien Keune steht vor dem Glaskasten im zweiten Stock. Das Röntgengerät wird soeben für den 18. Scan aufgesetzt und justiert. Keune weiß, Pigmente sind kein Selbstzweck. „Was man bei allem, was wir machen, nicht vergessen sollte“, sagt Keune, „ist die einzigartige Atmosphäre, die Rembrandt in diesem Gemälde geschaffen hat. Ohne die wäre alles, was wir tun, wertlos“.
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