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Friede den Hütten. In Brandenburg gesammelte Backsteine, Fassadenkleider aus Holz – aber darunter ist Beton. Ein Provisorium ist der Holzmarkt nicht.
© Thilo Rückeis

"Holzmarkt" in Friedrichshain-Kreuzberg: Berlins größtes urbanes Experiment

Baracken und Häuser sind hier abgeworfen, verbunden durch Brücken und Laubengänge. Mitten in der Stadt und wider alle Renditelogik wächst ein Dorf. Ein Besuch vor Ort.

Der Filmemacher, der selbst schon eine Stadt erbauen ließ, zahlt am Tresen. Die Kellnerin reicht „Babylon Berlin“-Regisseur Tom Tykwer eine vegetarische Lasagne und wünscht „’nen guten“. Draußen lässt die tief stehende Sonne Perlen auf der Spree aufblitzen, zwei Männer in Arbeitshosen und Kapuzenpullis eilen vorbei. Mittag im „Katerschmaus“, im Restaurant von Berlins größtem urbanen Experiment, dem „Holzmarkt“ – große geschmackvolle Portionen für Arbeiter, Künstler, Handwerker. Für Gäste und die hier siedelnden Genossen.

Am Herd hinter dem breiten Messingtresen könnte auch Juval Diezinger stehen und kochen. Das hat er gelernt, und er hat dem „Katerschmaus“, als er noch in einer Hausruine auf der gegenüberliegenden Seite der Spree untergebracht war, Achtung unter Feinschmeckern verschafft und eine gewisse Berühmtheit. Aber Diezinger hat jetzt anderes zu tun. Was er hier ausprobiert, ist eine kleine Revolution im Städtebau. Sie gilt als wegweisend dafür, wie sich Menschen ihre Quartiere aneignen, sie mitgestalten und entwickeln – gemeinschaftlich.

Mit Kita, Holzbühne und Bäckerei

Diezinger ist einer der beiden Vorstände der Holzmarkt-Genossenschaft und steht mit dem anderen, Marko Husten, auf dem „Marktplatz“. Der ist vollgestellt mit Büdchen, es weihnachtet. Das war nicht zu erwarten in einem Dorf, das mit Traditionen eher bricht: Baracken und Häuser unterschiedlicher Größe und Höhe sind hier abgeworfen, teilweise verbunden durch Brücken und Laubengänge, Gemälde zieren Fassaden, ein brüllender Tigerkopf ist auf ein Kita-Gebäude gemalt. Eine Holzbühne steht auf einer Brache, für das Open-Air-Programm im Sommer.

„230 Menschen haben auf dem Holzmarkt ihr Auskommen und können ihre Sozialabgaben bezahlen“, sagt Diezinger. Er steht nun vor der „Backpfeife“. Das ist die Dorfbäckerei, in einem Haus mit verwitterter Holzfassade gelegen, das ebenso auf der Alm in der Schweiz stehen könnte. Kastenförmige Brotlaibe stehen auf dem Holztresen, Transporttaschen auf dem Boden, der Ofen ist noch heiß, die Brotkörbe vom „Katerschmaus“ sind mit biologisch korrekten Backwaren gefüllt, auch das Dorfcafé und die Kita werden von hier aus versorgt, und allmählich kaufen auch Leute aus der Nachbarschaft ein.

Ein Dorf von und für Hedonisten

Dass eine Handvoll Hedonisten hier im Zentrum der Hauptstadt, zwischen Stadtbahnviadukt, Ausfallstraße und Spree ihr eigenes Dorf bauen dürfen, sorgt immer noch für Staunen bei Delegationen von Bürgermeistern aus Tel Aviv, New York oder Budapest. Bauland wie das hier in Friedrichshain ist in Metropolen kaum bezahlbar. Wer es besitzt, hält es fest, denn mit jedem Monat, der vergeht, steigt der Wert – es wird spekuliert wie an der Börse, nur mit Gewinngarantie. Und dann wird gebaut: Bürohäuser, Wohnungen, „gemetert“, wie Planer sagen, oft nach Standardmaßen, maximal auf Rendite getrimmt und deshalb mit minimalen „Gemeinschaftsflächen“, also bestenfalls mit abgeschottetem „Pocketpark“.

Auch in Berlin. Und weil nicht genug und zu langsam neu gebaut wird, steigen die Preise. Ursprünglich war am Holzmarkt ein Teil der von Gewerbeblocks geprägten „Mediaspree“ geplant. Das aber wollten die Bewohner des Bezirks nicht, sie riefen zum Bürgerentscheid – und zwangen die Politik zur Korrektur. So bekamen die Genossen ihre Chance.

Jetzt gibt es einen öffentlichen Platz, einen Uferweg mit Bänken und einen Marktplatz mit Linde, unter der sie sich versammeln, so wie die Dorfgemeinschaften einst, um zu beraten, zu urteilen und zu feiern. Sie haben zum Entsetzen von Bankern und Immobilienentwicklern nur 5000 der 48 000 genehmigten Quadratmeter Bruttogeschossfläche in Beton gegossen, weitere 5000 sollen folgen.

Das hohe Gut des Gemeinwohls

Die Freiheit, die sie dem damaligen sozialdemokratischen Bausenator Michael Müller noch abtrotzen mussten, hatte ihnen der grün regierte Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg längst gewährt. Seit dort Stadtaktivist Florian Schmidt das Bauamt führt, ein Grüner, steht alles, was „von unten“ kommt, hoch im Kurs: Mietergemeinschaften oder Hausbesetzer, die ihr Haus kaufen wollen, Genossenschaften wie der Holzmarkt. Was viele von ihnen verbindet: Das Geld für die Grundstücke kommt von gemeinnützigen Stiftungen. Und diese überlassen es den Genossen oder Vereinsmitgliedern per Erbpacht.

Im Vertrag legen sich alle fest: Das ist unser Haus und es dient dem „Gemeinwohl“, die Mieten steigen nur wenig und wohnen oder arbeiten sollen hier Künstler, Geringverdiener, Sozialunternehmer, Jugend-WG’s, Stadtteilläden, Webdesigner und Leute, die Mode-, Fahrrad-, Schokoladen- oder sonst eine Manufaktur betreiben – und alle anderen, die der Markt aus der Stadt drängt.

Darin liegt das „Gemeinwohl“, das zum Leitbild des neuen Städtebaus gehört, wenn man sich in der Politik, am Holzmarkt oder unter Planern umhört. Dass vergleichsweise Arme Platz haben in einem zunehmend von reichen Renditehungrigen geprägten Zentrum – kann sich eine Großstadt so etwas leisten?

75 Jahre lang läuft der Pachtvertrag

Diezinger würde wahrscheinlich sagen: sie muss. Zweimal hatte er mit Gleichgesinnten auf Berliner Brachen Institutionen der Berliner Ausgeh-Kultur aufgebaut. Zwei Mal zerstörten Bodenspekulation und Immobilienmarkt sie wieder. Erst die „Bar 25“, dann den „Kater Holzig“ am gegenüberliegenden Kreuzberger Spreeufer.

Der Holzmarkt, der im Mai eröffnete, erinnert ein wenig an beide, so improvisiert wie er wirkt mit den alten, in Brandenburg eingesammelten Backsteinen und den Fassadenkleidern aus Blech und Holz. Aber unter dem Kleid ist Beton, Provisorien sind das nicht, hier ist alles auf Dauer angelegt. Auf die nächsten 75 Jahre, so lange läuft der Pachtvertrag, und so lange die Genossen den Pachtzins zahlen, gilt er.

Vor allem ist der Holzmarkt von seinen Nutzern selbst entwickelt, in endlosen Schleifen diskutiert und doch zu einem ersten Abschluss gebracht. Nur dass hier noch niemand wohnt. In einer zweiten Ausbaustufe soll mit dem „Eckwerk“ ein Holz-Hochhaus-Ensemble neuen Typs entstehen, für Berlins digitale Generation, die keine Grenze mehr zwischen Arbeiten und Leben zieht.

Eine „wahnsinnige Last“ sei es, die Pacht beizubringen, sagt Juval Diezinger. Für das Grundstück habe die Stiftung den teuren Marktpreis gezahlt, daran bemesse sich die Pacht. Spricht da schon der Immobilienentwickler in Diezinger? Der erwidert: „Die Nutzung interessiert uns, nicht die Immobilie.“

Ein Dorf mitten in der Stadt.
Ein Dorf mitten in der Stadt.
© Thilo Rückeis

Zwischen Träumen und Containern

Fische wollten sie züchten, um das Restaurant und die Genossen zu versorgen, Strom mit der Sonne erzeugen – geschlossene Kreisläufe schaffen. „Das waren Träumereien“, sagt Diezinger heute. Er steht am „Mörchenpark“, ein windschiefer Lattenzaun grenzt den kleinen Garten mitten in der Stadt ab. Der Winter hat die Beerensträucher gelbbraun gefärbt. Zwei Gärtner arbeiten hier, und im Frühjahr werden Schulklassen zu Besuch kommen und lernen, dass Erdbeeren nicht in Fabriken wachsen. Bier aus dem Dorf wird es auch geben, drei Männer bauen eine kleine Brauerei auf.

Auf der anderen Seite des Marktplatzes endet der Holzmarkt im Durcheinander gestapelter Container, abgestellter Autos und Baustoffe. „Hier entsteht das Eckwerk“, sagt Diezinger. Das ist der vielleicht stärkste Impuls für Berlins Stadtentwicklung, aber er geht ausgerechnet von einem Projekt aus, das vor dem Aus steht. Das Berliner Architekturbüro Graft hat das Bauwerk zusammen mit dem Kollegen Jan Kleihues entworfen. Ein Haus aus Holz, mit Räumen zum Feiern, Arbeiten, Kommunizieren sollte hier entstehen – und zum Leben. Denn wer beim Holzmarkt dabei ist, dem verschwimmen schon mal die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Ich. Im Eckwerk soll Platz für diese Art ganzheitlichen Lebens sein.

Diezinger stammt aus der Schweiz, das hat geholfen, um die Stiftung Abendrot für das Holzmarkt-Projekt zu gewinnen. Doch jetzt hat sie den Vertrag für einen Teil der Fläche gekündigt, für das Eckwerk-Grundstück.

Ein gefährdetes Eckwerk-Experiment

Das Holzhäuser-Ensemble ist seit Langem geplant, aber fast ebenso lange ringt die Genossenschaft mit der Stadt um einen Bebauungsplan, der vor allem politische Ziele hatte, nämlich die öffentliche Durchwegung und den Verzicht auf hohe und dicht beieinander stehende Häuser unmittelbar an der Spree. Ohne Perspektive auf Bebauung und wirtschaftliche Nutzung ist aber die teuer bezahlte Brache sogar für eine Stiftung mit sozialen Zielen totes Kapital. Nun könnte auf Grundlage einer uralten Genehmigung ein Bürohaus entstehen. Die Genossen aber geben nicht auf: „Wir wollen weiterhin das Konzept umsetzen.“

Völlig vergeblich würde das gefährdete Eckwerk-Experiment trotzdem nicht bleiben. Landeseigene Firmen wollen die Holzständer-Technik der Genossenschafts-Architekten im Wohnungsbau einsetzen.

Die Bodenpolitik ist schuld, glaubt Berlins langjähriger Senatsbaudirektor a. D. Hans Stimmann: „Der Zuschnitt des Baulands schließt Gruppen von Bauherren, die gemeinsam ein Haus errichten wollen, vom Grundstücksmarkt aus.“ Mitmachen kann nur, wer in ganz großen Maßstäben denkt, in Hektar und nicht in Quadratmetern, in Blöcken und nicht in Häusern.

Mitbauen an der eigenen Stadt

Achter Stock. Rathaus Kreuzberg. Bezirksbaustadtrat Florian Schmidt steht am Fenster und blickt hinab auf die Yorckstraße, die sich in der Ferne im Häusermeer verliert. Er sagt: „Gemeinwohl heißt, dass Bauprojekte von Menschen getragen werden, Mitwirkung schon in der Entstehung erfolgt und auf breiter Basis.“ Er hat selbst, vor seiner Zeit als Baustadtrat, ein Grundstück gegenüber vom Jüdischen Museum nach diesen Grundsätzen entwickelt.

Nun soll das „Haus der Statistik“ folgen, am Alexanderplatz, ein Ensemble aus Plattenbaukolossen und einer Fläche von mehr als 40 000 Quadratmetern. Jeder soll mitreden und mittun können. Von Anfang an. In öffentlichen Diskussionsrunden Wünsche, Erwartungen und Forderungen formulieren. Die Stadt sei für die Menschen da und nicht umgekehrt, sagt Schmidt. Deshalb gelte es, sie „von unten“ zu entwickeln. Der Holzmarkt kommt dem nahe, nur dass der Kreis der Beteiligten noch viel offener sein müsse.

Diezinger, der Genossenschaftsvorstand vom Holzmarkt, sagt, sie hätten jede Entscheidung immer viel und lang diskutiert mit den Genossen. Und dann sagt der Koch, der zum Moderator wurde: „Scheiße, es ist richtig Arbeit.“ Und dass sie alt geworden seien bei dem Versuch, mitzubauen an ihrer Stadt. Aber dafür seien sie in der Stadt – und die Stadt ihnen – nicht fremd geworden.

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