Rechtschreibung an Grundschulen: Berliner Schreibwaisen
Mal um Mal zeigen Vergleichsarbeiten – Grundschüler schreiben nicht korrekt. Kritiker schimpfen auf die Lernmethode. Doch Ines Gravenkamp, Lehrerin in Wedding seit 33 Jahren, sagt: Daran liegt es nicht.
Adnan* will aufschreiben, was ein Adler ist, er beginnt „Atla“; Andreas möchte erklären, was ein Computer ist, er schreibt „Computa“; Mia versucht zu definieren, was ein Fahrrad ist, sie kritzelt „Fahrat“ auf ihr Blatt.
An einem Donnerstag, nur wenige Tage vor den Osterferien, steht Ines Gravenkamp gegen 9 Uhr 15 in ihrer Weddinger Grundschulklasse, in der Kinder der ersten bis dritten Jahrgangsstufe gemeinsam unterrichtet werden. Der Raum ist liebevoll eingerichtet mit bunten, selbstgemalten Porträts der Kinder und Materialien für den Unterricht, darunter lustiges Ritterzubehör oder Pappuhren für Sachkunde, Buchstaben- und Lauttabellen für Deutsch, Tuschkästen, Folien, Farben für Kunst. Heute geht es in Deutsch darum, kleine Texte zu verfassen – in korrekter Rechtschreibung.
Damit haben Berlins Schüler ein Problem, was regelmäßig zu heftigen öffentlichen Debatten führt. In einigen Tagen schreiben die Drittklässler wieder eine bundesweite Vergleichsarbeit (Vera) in Deutsch. Die Ergebnisse der letzten Arbeiten bei der Rechtschreibung waren desaströs wie immer. Mittendrin in diesen mit großer Grundsätzlichkeit geführten Diskussionen stehen die Lehrerinnen und Lehrer – und verzweifeln oft an der Härte der Argumente, die vor allem sie treffen.
Gerade haben die 23 Kinder brav zusammen im Morgenkreis gesessen. Sie haben sich nicht mit einem mauligen „Morgen“ begrüßt, sondern einem fröhlichen „Guten Morgen alle zusammen“. Jetzt hält die Lehrerin ein Büchlein hoch, es ist ein von Kindern dieser Schule erdachtes und verfasstes Lexikon. Gravenkamp liest vor, was eine Schülerin zum Begriff „Mode“ notiert hat: „Mode ist schön. Meine Mama hat so viele Sachen, sie weiß nicht mehr, was sie anziehen soll.“ Alle lachen. Nun sollen Adnan, Andreas, Mia und die anderen Begriffe finden und mit Hilfe der Anlauttabelle ihre Erklärungen richtig schreiben. In einer Anlauttabelle werden alle typischen Phoneme einer Sprache schriftlich zusammen mit einem Bild aufgeführt – etwa eine Ameise für Aa. Die Drittklässler müssen Sätze schreiben, die Jüngeren nur Worte. Neben Gravenkamp sind noch ein zweiter Lehrer und ein Erzieher im Raum. Das sei, sagen sie, „der Idealzustand“.
Ines Gravenkamp ist eine Frau mit großer Ruhe, zu ihren Kindern ist sie warmherzig und streng zugleich. Wird es zu laut, läutet sie ein Glöckchen, dann gehen alle Kinderarme in die Luft. Ein Ritual für Stille. Viele Worte muss sie nicht machen, um auf den Punkt zu kommen. Sie sagt: „Mein Beruf ist schön.“
Sie klingt nicht frustriert, nur realistisch
33 Jahre arbeitet sie nun als Lehrerin in Berlin-Wedding, dabei hätte sie beinahe nach 14 Tagen gekündigt. Die gelernte Grundschullehrerin mit den Fächern Musik und Religionserziehung, die viele Fortbildungen machte, musste mangels Personal gleich auf einer Gesamtschule und einem Gymnasium unterrichten, sie fühlte sich überfordert. Jetzt ist sie seit 13 Jahren hier und sagt: „Wenn genug Zeit ist, kommt auch etwas Anständiges dabei heraus. Nur unterrichten und therapieren zugleich, das können wir nicht.“ Sie klingt nicht frustriert, nur realistisch.
Seit Jahren schneidet Berlin in Schulbewertungen miserabel ab. Erst vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass sich das auch bei den letzten bundesweit durchgeführten Vergleichsarbeiten nicht geändert hat. Wie 2015 erreichte auch 2017 von den rund 24 000 Drittklässlern knapp die Hälfte bei der Rechtschreibung nicht die Minimalanforderungen, die die Kultusministerkonferenz (KMK) festlegt. Sie lagen auf der untersten der fünf Kompetenzstufen, methodisch sinnvoll abschreiben oder „geübte, rechtschreibwichtige Wörter normgerecht schreiben“ konnten sie nicht. Betrachtet man nur Kinder deutscher Herkunftssprache, sieht es kaum besser aus: Von ihnen liegen 40 Prozent auf der untersten Stufe, nur fünf Prozent schaffen den Optimalstandard. Bei Kindern anderer Herkunftssprachen sind 60 Prozent unter Mindeststandard. Vera allein ist nicht das Problem. Auch bei den bundesweiten Bildungstrends für die vierten Klassen, die das Institut zur Qualitätsentwicklung für das Bildungswesen (IQB) für die KMK ermittelt, liegt Berlin nicht nur im Fach Deutsch meist im hintersten Drittel.
Noch viel hitziger wird unter den Experten über Lernmethoden gestritten. Seit vielen Jahren wird nicht mehr nach der Fibel gelernt, also Buchstabe für Buchstabe, um danach zunächst nur die Worte zu schreiben, die man mit den ersten Buchstaben auch bilden kann, wie „Mimi“, „Mama“, „Momo“; es wird stattdessen weitestgehend nach Lauttabelle gelernt „Ee“ wie „Esel“ „Oo“ wie „Osterhase“. Die Kinder sollen „Lesen durch Schreiben“ lernen, so die Idee dahinter. Sie schreiben von Beginn an einfache Worte; vor allem sollen sie sich trauen, überhaupt zu schreiben.
Ines Gravenkamp weiß, dass es um die Rechtschreibkenntnisse der Schüler nicht zum Besten steht. Sie sagt: „Das liegt aber nicht an der Lernmethode, sondern daran, dass sich die Rahmenbedingungen massiv verschlechtert haben.“ In ihrer Klasse wird es jetzt unruhig, die einen finden ihre Federtasche nicht, die anderen haben vergessen, sich eine Anlauttabelle zu holen und müssen wieder aufstehen, dann wird mit dem Nachbarn diskutiert. Ein Mädchen, das ihr Heimatland beschreiben will, fragt: „Wie schreibt man auf Deutsch Tschetschenien?“ Am Ende werden die Schüler von 45 Minuten knapp 25 effektiv gearbeitet haben – dafür aber sehr eigenverantwortlich. Das ist der Unterschied zum Frontalunterricht.
Erfahrene Lehrer sind unentbehrlich
Schaut man in den Rahmenlehrplan für Deutsch, sollen die Berliner Schüler im Zeitraum zwischen der dritten und sechsten Klasse gelernt haben, „Wörter unter einer vorgegebenen Schriftfolge zu schreiben“. Weiter heißt es: „Der Erwerb der Rechtschreibkompetenz ist ein Prozess, der über alle Jahrgangsstufen hinweg erfolgt.“ Gemeint sind die Klassenstufen eins bis zehn. In der Fachliteratur findet man Argumente für und gegen die Methode – in der Öffentlichkeit verbreitet ist vor allem der falsche Eindruck, dass Lehrer diese früh geschriebenen Wörter und Sätze gar nicht korrigieren würden. Fast alle Lehrerinnen in den Berliner Grundschulen, die die Lauttabelle benutzen, schreiben spätestens am Ende der ersten Klasse die korrekte Version daneben. Ende der ersten Klasse werden erste Lernwörter geschrieben, zu Beginn der zweiten die ersten Mini-Diktate.
Eine Grundschullehrerin aus Steglitz sagt, was viele andere Lehrer beobachten: „Es liegt nicht an der Methode, sondern an der Haltung der Kinder. Die nehmen Regeln generell nicht mehr so an, nehmen sie weniger ernst, und die Eltern geben ihnen immer seltener eine Struktur vor.“ Eine langjährige Grundschuldirektorin sagt wiederum: „Viele Lehrer beherrschen die Methode nicht.“ Vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Wenn generell immer weniger Regeln existieren oder beachtet werden, weil der Alltag komplexer und unübersichtlicher geworden ist, dann spiegeln sich diese vielen Probleme und Überforderungen auch im Klassenzimmer wider. Die globalisierte Gesellschaft sehnt sich nach Zusammenhalt und Identität und zu Hause herrscht oft Laissez-faire.
Eine Lehrerin aus Tempelhof sagt: „Wenn ich in der ersten Klasse fünf Lernwörter als Hausarbeit aufgebe, sind die Eltern überfordert und meckern.“
Was sind uns Regeln und Pflichten heute generell wert, wer quält sich noch mit Dingen, die er für unwichtig hält?
Ines Gravenkamp macht sich schon im Unterricht Notizen, später wird sie sich ein bis zwei Stunden hinsetzen und genau ansehen, was gut und was schlecht war. Daraus zieht sie Konsequenzen: Im Klassenzimmer ist ein Hängeregister mit den Namen der Kinder befestigt, dort legt sie Übungsblätter rein, zugeschnitten auf Lerntempo und Lernbegabung. Ein Stockwerk unter dem Klassenraum sitzt Gravenkamps Direktorin Birgit Habermann. Sie kennt die Anforderungen an heutige Lehrer genau, sie sagt: Lehrerinnen wie Ines Gravenkamp seien deshalb so unentbehrlich, weil sie einen Blick für die Bedürfnisse der Kinder haben, Aufgaben individuell vorbereiten können und Organisationstalente seien, die sehr strukturiert ihren Job machen.
Sehnsucht nach mehr Struktur
Auf dem Markt aber gibt es fast nur noch Quereinsteiger, die zurzeit 50 Prozent der offenen Stellen an Berlins Grundschulen besetzen, viele erfahrene Lehrer steigen aus Altersgründen demnächst aus. Hier an der Erika-Mann-Grundschule haben sie nichts gegen Quereinsteiger, aber man müsse sie eben sehr gut schulen. Das wiederum brauche Zeit.
In Berlin gibt es in allen Bezirken Lehrer, die sich nach mehr Struktur im Unterricht sehnen, gerade weil ihre Aufgaben immer vielschichtiger geworden sind, weil sie nicht nur Lehrer sind, sondern oft auch Erzieher, ja Elternersatz sein müssen. Und dann sollen die Schüler noch individuell gefördert werden, wo doch gerade die selbstbewusste Autonomie der Schüler oft ein Problem darstellt. Stößt hier eine gut gemeinte Pädagogik an die Grenzen ihre Alltagstauglichkeit? In Wahrheit sind Individualität und Gruppenfähigkeit gleich wichtige Eigenschaften für eine funktionierende, im besten Fall solidarische Gesellschaft.
In Steglitz-Zehlendorf etwa gibt es Grundschulen, in denen Lehrer wieder streng nach der Fibel unterrichten. Es ist einfacher, die Struktur ist klarer, man hat, anders ausgedrückt, weniger Chaos zu fürchten. Ein Referendar an der Erika-Mann-Schule sagte zu seiner Ausbilderin, die ihm erklärte, dass die Kinder unterschiedliche Lernwege und unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten haben: „Geht es nicht handfester?“
Hier in Wedding wie auch in anderen Schulen sehen sie, dass Kinder nicht mehr abwarten, stillsitzen, sich nicht konzentrieren können, dass sie von alleine nicht grüßen, extrem auf sich selbst fixiert sind und große Schwierigkeiten haben, Teil einer Gruppe zu werden. Aber anstatt darüber zu lamentieren und nur einzelne Fähigkeiten zu sehen, betrachtet man man hier die Kinder mit allen ihren kreativen Kompetenzen. Ines Gravenkamp nimmt die Kinder trotz aller Widrigkeiten einfach so wie sie sind und versucht, mit Empathie ihren Job zu machen. Sie sagt, dass trotz der großen Ich-Bezogenheit „das Bedürfnis der Kinder, gesehen zu werden, riesig groß ist“. Individualität macht eben in der Gruppe viel mehr Spaß. Einmal sagte eine Mutter zu ihr: „Meine Tochter hat bestimmt nicht alles gelernt und kann manches nicht, aber sie weiß jetzt, wie sie lernen muss und dass sie es selbständig schafft.“
Frühe Förderung
Und die Rechtschreibung? Wie viel Rechtschreibung wird am Ende der digitalen Revolution notwendig sein, oder anders gefragt: Ist eine zivilisierte Gesellschaft mit weniger Rechtschreibkenntnissen denkbar, wenn andere Fähigkeiten dazukommen? Die Antwort steht aus, sie könnte aber allzu ideologische Debatten versachlichen.
Adnan hat jetzt seine Lauttabelle vor sich, er buchstabiert leise seinen Vogel vor sich her: „A..t..ler“. Der Erzieher hilft, fragt, ob Adler mit „te oder de“ geschrieben werde. Adnan spricht das Wort wieder aus. „A d l e r…“
Ines Gravenkamp macht Unterrichtsstunden, um nur Wörter mit der Endung auf d oder t zu üben oder doppelte Konsonanten. Doch diese aktuelle Stunde soll etwas Besonderes vermitteln: Das, was ich mir selbst ausdenke und aufschreibe, ist wertvoll. Es sollte also auch richtig geschrieben sein, dann verstehen es andere nicht nur besser, sondern es sieht auch schöner aus. Es ist ein pragmatischer und zugleich kreativer Zugang zu der Frage, warum Rechtschreibung wichtig sein könnte. Ein Mädchen schreibt: „Wüste“ = „Palme, Düne, Kamel, Oase, heiß…“
Direktorin Birgit Habermann sagt, sie habe gar kein Problem mit den Vergleichsarbeiten. Sie verstehe die Hysterie nicht. Schließlich sei Vera ein Instrument, um intern zu evaluieren, was gut oder schlecht sei. Dass die Aufgaben eher für Viertklässler konzipiert sind, sei nicht so wichtig. Stolz darauf, dass die eigenen Ergebnisse doppelt so gut sind wie in Vergleichsgruppen anderer Schulen, ist man trotzdem – schließlich ist das harte Arbeit. Schon vor 20 Jahren begann die damalige Direktorin, sich regelmäßig mit Erziehern der umliegenden Kitas zu treffen, um ihnen zu sagen, wie sie im Kitaalltag Sprache fördern können. So kamen die Kinder schon besser vorbereitet als andere in die Schule. Diese frühe Förderung ist aus Habermanns Sicht „absolut notwendig“.
Preisgekrönt im Brennpunkt
80 Prozent der Schüler hier haben einen Migrationshintergrund, in manchen Klassen können ebenfalls bis zu 80 Prozent der Familien die Bücher ihrer Kinder nicht bezahlen. Aber die Schule, mitten im Brennpunkt zwischen Seestraße und Leopoldplatz gelegen, ist dennoch vielfach zertifiziert und preisgekrönt. Sie nennt sich „theaterbetonte Grundschule“ und gehört zu den musikalischen Grundschulen Berlins. Theaterarbeit, Musik, Tanz sind feste Bestandteile des Unterrichts. Aber auch bei einer so erfolgreichen Schule im sozialen Brennpunkt ist die Angst groß, die Qualität nicht halten zu können. Der Idealfall mit zwei Lehrern und einem Erzieher in einer Klasse, ist oft nur noch ein Ausnahmezustand. Die Schule platzt aus allen Nähten. Räume, die man für kreatives Lernen eingerichtet hatte, mussten zu Klassenzimmern zurückgebaut werden. Fast jedes Jahr müssen zusätzliche Klassen eingerichtet werden. Wenn Platzmangel herrsche, sagt ein Insider „sei dem Schulamt ein pädagogisches Konzept egal“.
Ines Gravenkamp kann als Lehrerin die Rahmenbedingungen nicht verändern. Aber ihre Aufgabe, so sieht sie das, ist seit mehr als 30 Jahren gleichgeblieben: „Beziehungen aufbauen, Vertrauen schaffen, andocken an die Charaktere der Kinder.“ Dann funktioniert auch das Lernen. Wie man das schafft? „Man muss Kinder schon mögen“, sagt sie. „Auch, wenn uns manche an die Grenzen bringen.“
Adnan, der Drittklässler, hat seinen Lexikoneintrag fertig, er hat dafür 25 Minuten gebraucht, er liest: „Adler – sind Vögel, sie können drei Kilometer fliegen, ihre Augen sind braun.“ Und Mia, Zweitklässlerin, trägt vor: „Fahrrad – hat eine Kette, die geht manchmal ab.“
*Alle Kindernamen wurden geändert