Das große Nebeneinander: Arm und Reich in Berlin
Mindestlohn und Spitzensteuersatz, Dividende und Ostrente: In Berlin liegen Arm und Reich oft nah beieinander. Herr Nowak und Herr Kirschner wohnen seit Jahren in derselben Straße – aber in zwei Welten.
In einer Auslage hängt ein weißes Wollkleid, wolkig weich, davor ein kleiner schwarzer Zettel: „White Cashmere Dress – 468 €“.
Herr Nowak*, er wohnt nur etwas weiter die Straße hoch, kann kein Englisch. Das Kleid kostet mehr, als er nach Bezahlung der Miete in einem Monat zum Leben übrig hat. Und das auch nur, solange seine Waschmaschine nicht kaputt geht.
Nowak ist gelernter Heizungsbauer, Anfang 40, aber seit Jahren krankgeschrieben. Nowak, Brille, Dreitagebart, Trainingshose, wohnt in Mitte, Linienstraße, in einer Platte, die hier in den 1980ern zwischen den Altbauten hochgezogen wurde. Heute steht sie zwischen Galerien, Couturiers, Schokoladen-Manufaktur-Ateliers.
Gleich um die Ecke wohnt Herr Kirschner*. Gleichalt wie Nowak, mit gleichem Stoppelbart, die Sneakers ganz neu, der Teint einen Tick dunkler. Kirschner ist genauso in Berlin geboren wie Nowak, aber lebt auch in London und in Frankfurt am Main. Früher hat er was mit Werbung und Marketing gemacht, jetzt führt er ein Café hier in der Seitenstraße, Cold Brew, Cascara, Flat White – volles Programm.
Wenn einer in der Linienstraße auf der einen Seite der Straße wohnt, in der Waschbetonplatte Baujahr 1988, dann ist die Chance, mit jemandem aus dem Haus gegenüber, einem Altbaudenkmalensemble, in Kontakt zu treten, gar ihn zu kennen, ziemlich gering. Wer aus der Platte kommt wie Herr Nowak, geht nicht in dieselbe Kneipe wie Herr Kirschner: Es gibt hier ja keine Kneipen mehr, die Kneipen wären. Sie gehen nicht ins selbe Café, sie kaufen nicht einmal im selben Supermarkt ein.
Sie leben in einer Straße, aber in zwei Welten. Manchmal kreuzen sich ihre Wege, gewiss, aber höchst selten, da die eine Seite frühmorgens zur Arbeit geht, während die andere verrentet, arbeitslos, erwerbsunfähig zu Hause bleibt.
Die Spaltung der Stadt zählt zu den größten Herausforderungen der Berliner Politik. Man kann sagen, Rot-Rot-Grün ist sogar deswegen gewählt worden. Trotz steigender Steuereinnahmen, trotz neuer Jobs in der digitalen Wirtschaft beziehen rund 300 000 Haushalte staatliche Hilfe. Während Wohlhabende die Innenstadtkieze erobern, können die Armen ihre Mieten nicht mehr bezahlen. Insbesondere die Linke, im Senat für Wohnen zuständig, wird sich daran messen lassen müssen, ob sie diesen Trend aufhalten kann.
Dass Arm und Reich wie in der Linienstraße so nah beieinander leben, Tür an Tür, das gibt es vor allem in Berlin, denn nach der Wende wurde manche Ecke, wo vorher eine Sackgasse an der Mauer endete, zur besten Innenstadtlage, Glitzerkaufhäuser eröffneten neben Sozialbauten. Die Brüche gibt es bis heute, man spürt sie, auch wenn die Übergänge jetzt offen und fließend geworden sind: vom Potsdamer Platz zur Potsdamer Straße und Stresemannstraße etwa, oder vom Mehringplatz zum oberen Ende der Friedrichstraße.
In Berlin ist jeder fünft arm - auch in der beliebten Linienstraße
Linienstraße, das sind heute zwei Kilometer Mitte, nördlich vom Alexanderplatz zwischen Friedrichstadt-Palast und Volksbühne. Die „Linie“ verläuft durch die Spandauer Vorstadt, früher Ost-Berlin, jetzt teilt sie Mittes schickstes Pflaster: Altbauschmuckstücke, Architektenneubauten, dazwischen, fast unsichtbar, aber hartnäckig, Platten.
Und zwischen jedem Haus liegt eine Gletscherspalte in der Einkommenskurve: Hartz IV neben Spitzensteuersatz, Mindestlohn und Ostrenten neben Dividenden.
Talja Blokland, Professorin für Stadtsoziologie an der Humboldt-Universität, erforscht Gentrifizierungs- und Marginalisierungsprozesse und welche Folgen die rasante Entwicklung von Stadtvierteln haben kann. Historisch gesehen, sagt sie, sei für viele Großstädte das enge Nebeneinander von Arm und Reich nichts Ungewöhnliches: „Manchmal lebten ja unterschiedliche Schichten im selben Gebäude. Bürgerliche Familien im Vorderhaus, die Dienstboten im Hinterhaus.“ Aber der frühere Verlauf der Mauer präge die Stadtentwicklung bis heute. Dass nach der Wende plötzlich Brachen entstanden seien, die Investoren für sich nutzten, sei schon ein Berliner Spezifikum. „Und genau diese Orte waren es ja oft, wo sich dann Spannungen entwickelt haben.“
In der Linienstraße läuft das letzte Bindeglied der Gesellschaft, vielleicht das einzige soziale Bindeglied hier, jetzt langsam die Straße runter, an der Ecke macht es Halt. Dann kauert es sich hin und pinkelt vor eine Hausmauer.
Herr Kirschner führt seinen Hund aus, Deutsch-Kurzhaar, Ronja wird er gerufen, buchstäblich: „Rooonja, komm her, jetzt komm, hierher Ronja!“, leinenlos, weil Leinenzwang wird ja noch nicht kontrolliert.
Herr Nowak hat keinen Hund, will keinen, kann sich auch keinen leisten. Er geht aber spazieren und läuft dann hier entlang, man muss ja auch mal raus, sich die Beine vertreten.
Nowak hat sein ganzes Leben hier gelebt, „mehr Berliner könn’se nicht sein wie icke“, sagt er. Er rechnet nicht mehr damit, noch mal in Arbeit zu kommen. Hat „sich ein bisschen zurückgezogen“. Für viel ist auch gar nicht das Geld da. „Mit Hartz IV wäre ich besser dran“, sagt er. Also rechnet er, teilt auf und teilt ein, „sodass ich über den Monat genau hinkomme“. Das klappt auch, wenn nur nichts mit der Waschmaschine ist.
„Was wollen Sie denn da jetzt schreiben“, fragt Herr Nowak, „über mich und das Haus? Das interessiert doch keinen.“
Herr Nowak gilt als arm. Das bedeutet, dass er über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Und die Mitte liegt in Deutschland bei etwa 1300 Euro netto im Monat. Arm sind demnach 15,7 Prozent aller Deutschen, in Berlin jeder Fünfte.
Ganz unten sind jene fünf Prozent, denen sogar das Geld für Miete und Rechnungen fehlt, die sich keine Heizung und keine gesunde Ernährung leisten können, keinen Urlaub, kein Auto oder Telefon. Keine Waschmaschine.
Gerade arbeitet das Bundesarbeitsministerium unter Andrea Nahles am sogenannten „Armuts- und Reichtumsbericht“. Der soll empirisch darstellen, wie die soziale Lage in Deutschland tatsächlich ist. Im Frühjahr wird er voraussichtlich im Kabinett beschlossen. Aber so einfach ist das nicht mit der Wirklichkeit. Zum Beispiel hieß es in einem Entwurf aus dem Ministerium, es gebe zunehmend „unsichere Beschäftigungsverhältnisse“, die in Armut führten. Den Arbeitgeberverband BDA ärgert das. Denn jene, die nun in diesen sogenannten unsicheren Beschäftigungsverhältnissen arbeiteten, hätten doch vorher überhaupt keinen Job gehabt. Aus denselben Zahlen lesen die einen eine Verbesserung, die anderen den sozialen Abstieg.
Bei Herrn Nowak hat sich eigentlich gar nichts verändert, vor allem bei seinem Einkommen nicht. Trotzdem ist er ärmer geworden, einfach weil um ihn herum in der Linienstraße alles teurer geworden ist.
Herr Nowak, in Mitte geboren und aufgewachsen, fühlt sich selbst nicht mehr so richtig wohl in der Gegend. Sein Leben hat sich immer mehr verflüchtigt. „Manchmal fühlt man sich wie der letzte Mohikaner“, sagt er. Von seinen Schulfreunden, seinen Kumpels von früher wohnt fast niemand mehr hier. Die meisten sind rausgezogen, nach Hellersdorf, Lichtenberg. Er würde auch nicht hier wohnen bleiben, wenn er könnte: Aber einen neuen Ort hat er noch nicht gefunden, und für einen Umzug fehle ihm das Geld.
Auch der Zugezogene ist gegen Mieterhöhungen - für Gewerbe
Herr Kirschner – Ronja trabt schon mal alleine weiter – findet es krass und zugleich irgendwie normal, was für ein Einkommensgefälle sich hier zwischen einem Haus und dem nächsten auftut. Klar, es mischt sich nicht. Aber unter Hundebesitzern treffe man sich, beim Gassigehen, man kennt die Namen der Hunde, nicht die der Besitzer. Auch die aus der Platte. Einmal habe er, Kirschner, sich mit einer unterhalten, die wollte, dass er eine Petition unterschreibe, gegen Mieterhöhungen. „Da hab ich sie gefragt, was sie beruflich macht. Im Moment nichts, sagte sie. Tja, na dann ...“
Kirschner hat dann nicht unterzeichnet. Dabei ist auch er gegen Mieterhöhungen, allerdings bei Läden und Cafés: „Die Gewerbemieten steigen noch viel schlimmer als bei den Wohnungen, und es gibt überhaupt keine Mietpreisbremse.“
Wie trifft man sich denn dann noch hier, Herr Kirschner, sagen wir mal, der Pensionist mit der Ostrente und der Investmentbanker von nebenan?
Für Kirschner, von Beruf Kaffeehausbesitzer, liegt das auf der Hand: „Die Leute gehen doch ins gleiche Café.“ Nicht wirklich, Herr Kirschner.
Herr Nowak zum Beispiel versteht schon die Frage nicht: „Was machen Sie denn dann, wenn hier um die Ecke der Kaffee drei Euro kostet?“ – „Nee, nee, nee“, sagt Nowak, „bei mir kost’ das Pfund nicht drei Euro.“
Noch dazu, das Café gleich um die Ecke ist nichts für ihn. Es sitzen dort doch schon in aller Frühe nur Ausländer, Englisch sprechende. Und ein Nachbar von Nowak lästert darüber, dass man ihm da mal ein Glas Wasser zum Kaffee serviert hat: „Was soll ich damit, mir den Mund ausspülen, bevor ich den Kaffee trinken darf?“
Nun entbrennt der Klassenkampf nicht am Kaffeepreis, Letzterer trägt nur dazu bei, dass man sich nicht über den Weg läuft. Was die beiden damit ansprechen, drückt die Stadtsoziologin Talja Blokland so aus: In Großstädten wie Berlin gebe es zunehmend Bewohner, oft aus dem europäischen Ausland, die zeitweise hier wohnen, relativ viel Geld haben und die Stadt zwar stark „konsumieren“, aber eben nur oberflächlich, ohne eine echte Beziehung zur Stadt aufzubauen. „Sie sind auf eine Weise noch gar nicht wirklich hier“, sagt Blokland.
Interessanterweise führe das aber nicht unbedingt dazu, dass es zwischen den neuen und alten Einwohnern Konflikte gebe: „Wenn es Konflikte gäbe, wäre ja zumindest eine Gemeinsamkeit da, über die man sich streitet.“ Aber man trifft sich einfach nicht.
Für Herrn Kirschner, den Kaffeehausbesitzer, ist die relative Verarmung von Leuten wie Nowak und seiner Nachbarin eine unaufhaltbare Entwicklung. „Gucken Sie sich doch Paris oder London an“, sagt er. „Da müssen Sie nicht einfach mal von hier nach Moabit ziehen, wenn Sie es sich nicht mehr leisten können, sondern gleich nach ganz weit draußen.“
Man hält durch, sagt Nowak - wenn die Waschmaschine nicht kaputt geht
Für Herrn Nowak wird Berlin jetzt wieder so, wie es vor 100 Jahren war, eine internationale Stadt, „Tag und Nacht, unterm Tisch, überm Tisch“, wie Herr Nowak das nennt. Aber ohne Platz für ihn selbst. Und ohne dass jemand sich für ihn einsetzen würde. Die Entwicklung seiner Straße, seines Viertels, scheint den Politikern egal zu sein. Oder, und das ist jetzt die Frage, ob das schlimmer ist, das sei doch alles so gewollt.
Eine Nachbarin von Herrn Nowak aus der Waschbetonplatte hat sich ganz gut mit dieser Situation arrangiert. Sie, Ende 50, lange dunkelbraune Haare, randlose Brille, findet ihre Lage „immer noch toll“. Überhaupt könne man in Berlin auch mit wenig Geld so viel machen. Bei Karstadt zum Beispiel, da habe sie einen Schneiderlehrgang besucht, Zuschneiden, Anpassen, Vernähen. „Da ist man einen ganzen Tag lang beschäftigt und unter Leuten, und es kostet Sie nichts außer der Fahrkarte hin und zurück.“
Herr Nowak hingegen hat seine Heimat verloren, auf unterschwellige Weise. Er macht es an Kleinigkeiten fest, nicht am großen Ganzen. Viel simpler zum Beispiel als das mit der Sprache, dass alle jetzt Englisch reden, viel grundsätzlicher für Herrn Nowak ist, „dass die Leute nicht mehr wissen, wie sie am Gehweg zu laufen haben“. Nicht, dass er jemandem etwas vorschreiben wolle oder über den Dingen stehe, aber so Grundprinzipien, rechte Seite, linke Seite, dass man aneinander vorbeikommt: „Das sollte eigentlich schon sein.“
Oder die Mülltonne an der Ecke, dieser orangefarbene Eimer am Koppenplatz, gegenüber vom veganen Restaurant, da sieht man ihn auch, den Unterschied. „Wie viele Leute da rinkieken. Und wie viele ringreifen. Irre viele.“
Was Herr Nowak aber auch sagt: Es gebe in Deutschland immer noch „ein soziales System, was einen abfängt“. Solange einer seine Pflichten erfülle. „Man kann Existenz bleiben“, so nennt es Nowak. Wenn nur die Waschmaschine durchhält.
Am Ende, Ronja und Herr Kirschner sind da schon längst weiter, steht Herr Nowak noch mal vor der Platte und schaut sich sein eigenes Haus von außen an. „Kieken Sie mal“, sagt er, „wie wenig Gardinen da hängen. Gegenüber, im Altbau, haben alle feine Gardinen. Hier hängen Laken und Tücher vorm Fenster.“
Draußen an der Platte hat jemand ein französisches Graffiti hinterlassen: „Achève moi“ – Mach mich fertig.
Es gäbe viel zu tun.
* Namen von der Redaktion geändert
Pepe Egger