Charedim gegen Säkulare: Ärger um den Party-Schabbat am See Genezareth
Liberale Israelis feiern Ron Cobi, den Bürgermeister von Tiberias. Ultraorthodoxe bringt er gegen sich auf. Jetzt könnte er dafür bezahlen müssen. Eine Reportage.
Zweieinhalb Stunden nach Beginn des Schabbats, des Ruhetags der Juden, schaltet der Messias seine Handykamera ein und geht auf Facebook live. „Guten Abend, Schabbat Shalom, Tiberias“, sagt Ron Cobi, Drei-Tage-Bart, Shorts, Turnschuhe. Am See Genezareth in der größten Stadt Galiläas ist es bereits dunkel, im Hintergrund dringt House-Musik aus den Restaurants, daneben verkaufen Händler an kleinen Ständen Schmuck und Mobiles. „Wir sind hier an der Promenade von Tiberias, sehr viele Leute. Hier gibt es keinen religiösen Zwang von Seiten der Charedim. Alles ist hier geöffnet“, sagt Cobi. Um ihn herum tummeln sich Menschen, rufen „Held“, „König“, „Du hast die Stadt wieder zum Leben erweckt“. Es sind Säkulare, seine Anhänger.
Andere, unweit entfernt, wollen diese Bilder nicht sehen. Die Charedim, die Gottesfürchtigen, sind in den vergangenen Jahren verstärkt nach Tiberias gezogen, und was hier an der Strandpromenade geschieht, ist für sie nichts anderes als Schändung des Schabbats. Gottesverrat – so stand es vor Kurzem auf Plakaten in der Stadt. Laut Tora droht dafür, so legen sie es aus, die Todesstrafe. Für die Charedim ist der Schabbat, der mit Sonnenuntergang am Freitag beginnt und bis Sonnenuntergang am Samstag dauert, ein strikter Ruhetag. Arbeit, elektrische Geräte, selbst Autofahren sind tabu.
Sie wollen ihn stürzen
Ron Cobi ist vor einem Jahr als Bürgermeisterkandidat angetreten, um die Stadt von genau diesem Druck zu befreien. Offene Geschäfte und Restaurants am Samstag, Konzerte, Familien-Events und Buslinien – das war sein Versprechen. Und mehr noch: Er hat angekündigt, den Zuzug weiterer Charedim zu unterbinden. Die sind oft kinderreich und arm, die Mieten in Tiberias günstig, sehr arme Familien in vielen Fällen von den Stadtsteuern befreit. „Tiberias darf die 30-Prozent-Marke für Charedim nicht überschreiten. Ich will, dass Tiberias so bleibt, wie es ist, 22 Prozent Charedim“, hat Cobi 2018 erklärt. Dafür ist er gewählt worden, deswegen ist er Bürgermeister. Und genau dafür könnte er jetzt bezahlen, genau deswegen sein Amt verlieren: Er hat die Wut der Ultraorthodoxen auf sich gezogen. Sie wollen ihn stürzen – und unter Umständen gelingt ihnen das auch.
Die Charedim werden in Israel immer mächtiger, und das nicht nur in der 40 000-Einwohner-Stadt Tiberias. Auch, wenn der Streit hier besonders erbittert ausgefochten wird: bietet er womöglich nur einen Ausblick auf etwas, das sich landesweit anbahnt? Die Gemeinschaft der Ultraorthodoxen wächst rasant. Während säkulare Frauen in Israel im Schnitt 2,2 Kinder zur Welt bringen, sind es bei den Ultraorthodoxen 6,9. Sind derzeit rund zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung Israels charedisch, sollen es Prognosen zufolge bis 2039 schon 19 Prozent sein. 2065 könnten die Strenggläubigen in Israel 40 Prozent der jüdischen Bevölkerung ausmachen.
Ihr ganzes Leben richten sie nach den 613 Mitzwot, den jüdischen Geboten aus. Frauen bedecken ihr Haar und möglichst viel Haut der Züchtigkeit wegen, Fremden des anderen Geschlechts die Hand zu geben ist tabu. Männer lernen oftmals in Talmudschulen, statt zu arbeiten.
Droht dem Land, was Tiberias jetzt erlebt?
Ihre Werte kollidieren mit denen der Säkularen. So streitet das Land bereits jetzt über Öffnungszeiten und Bauarbeiten am Schabbat, über öffentliche Verkehrsmittel und Geschlechtertrennung in Bussen, die manche Extremisten in bestimmten Linien gerne durchsetzen wollen, über Abbildungen von Frauen in der Öffentlichkeit und den Wehrdienst, von dem Charedim bislang ausgenommen sind, weil sie stattdessen die heiligen Schriften studieren. Viele Israelis empfinden das zunehmend als ungerecht. Doch in Israels zersplittertem Parteiensystem sind die charedischen Parteien mit derzeit 16 von 120 Sitzen im Parlament für Netanjahus Regierungsbildung unentbehrlich. Die Koalitionsverhandlungen im Mai sind auch an der Frage zerbrochen, wie stark und wie schnell die Gottesfürchtigen in die Armee integriert werden sollen. Im September wird neu gewählt. Die Fragen bleiben: Wie wird die Zukunft aussehen? Wie werden die Ultraorthodoxen Israel verändern? Und droht dem Land, was Tiberias bereits jetzt erlebt?
Freitagnachmittag, gut zwei Stunden vor Schabbat-Beginn, im Rathaus von Tiberias: ein dreistöckiger Klotz, der schon bessere Zeiten erlebt hat. Ron Cobi, 47 Jahre alt, sitzt in kurzärmeligem Hemd im obersten Stockwerk mit Blick auf den See. In dem Raum stehen zahlreiche Schreibtische. „Das ist das Zimmer des Bürgermeisters, aber hier sitzen fünf Leute, hier wird geplant, hier wird gearbeitet.“ Zwar ist Wochenende und außer Ron Cobi nur ein Assistent im Rathaus. Doch der Bürgermeister inszeniert sich gern als Macher. Auf die Frage, ob er sich seine Dauer-Präsenz in sozialen Netzwerken von Premier Benjamin „Bibi“ Netanjahu abgeschaut hat, sagt er: „Bibi hat es von mir gelernt.“
„Eine Stadt der wandelnden Toten“
Ron Cobi ist in dieser Stadt aufgewachsen, in den 90ern aber, wie viele junge Säkulare, nach Tel Aviv gezogen. Er war Manager einer Firma, die Mineralöl vertreibt. Vor einigen Jahren kam er für ein Klassentreffen in die Heimatstadt zurück. „Tiberias war eine Stadt der wandelnden Toten“, erinnert er sich. „Die Stadt sah verwahrlost aus. Das hat mir wehgetan. Ich hatte nicht geplant, Bürgermeister zu werden. Aber ich bin ein Patriot, so ist es passiert.“ Seine Frau und die drei Kinder leben bis heute in Tel Aviv. Er aber ist vor sieben Jahren in seine Heimat zurückgekehrt, um der Charedisierung Einhalt zu gebieten.
2013 trat er das erste Mal zur Wahl an, verlor aber. Im Jahr 2016 änderte er seine Strategie – über Nacht, wie er sagt. „Es war in der Nacht der Fast-Revolution in der Türkei“, erzählt er. „Wir gingen schlafen und rechneten fest mit einer neuen türkischen Regierung. Am nächsten Morgen war Erdogan wieder an der Macht. Ich fragte mich: Wie hat er das geschafft? Er hatte Facebook Live genutzt.“ Noch am selben Tag habe er selbst den Aufnahme-Button gedrückt. Seither ist er fast täglich live.
Auf seinem Schreibtisch liegt die hebräische Ausgabe des chinesischen Klassikers „Die Kunst des Krieges“. In Tiberias sagen viele, Ron Cobi sei einer, der mit dem Kopf durch die Wand will. Ein Provokateur. Nicht bereit zu Kompromissen. Er hat bereits Todesdrohungen per Facebook und Telefon erhalten. Am jüdischen Fest Lag Baomer, an dem traditionell Feuer entzündet werden, haben Ultraorthodoxe Berichten zufolge ein Abbild des Bürgermeisters mit der Aufschrift „Stirb Ron Cobi“, auf ein Lagerfeuer gestellt. Heute ist Ron Cobi nur noch mit einem Personenschützer unterwegs.
Ein Masterplan der Rabbiner
Ron Cobi ist überzeugt, dass er das Richtige tut. Er respektiere die Religiösen, sei selbst traditionell aufgewachsen, seine beiden Großväter seien Rabbiner gewesen. Jeder solle leben, wie er möchte. Aber keiner solle mit seiner Religion andere bevormunden. In Tiberias sei allerdings genau das passiert. „Vor zehn, 15 Jahren hat die Stadt sich verändert, wurde immer religiöser, konservativer.“ Cobi spricht von einem Masterplan der Rabbiner, die die Stadt und vor allem das Rathaus erobert hätten.
Auch, wenn Ron Cobi der – direkt gewählte – Bürgermeister ist: Im Stadtrat sind die Ultraorthodoxen überproportional gut vertreten. Unter ihnen ist die Wahlbeteiligung in der Regel sehr hoch, fast ausnahmslos folgen sie den Aufrufen der Rabbiner, wenn die an die Wahlurne bitten. „Tiberias wurde das Ziel von Leuten, die sie zu einer Stadt der Charedim verwandeln wollten.“
Mittlerweile sind 20 Prozent der Einwohner Charedim. In den vergangenen Jahren wurden verstärkt religiöse Kindergärten und Schulen geschaffen, Talmudschulen für junge Männer sowie Ritualbäder, Mikwe genannt. In den Hügeln der Stadt, hoch oberhalb des Sees, sind neue orthodoxe Wohnviertel entstanden: Kiryat Zans ist bereits gebaut, Nof Poriya wird derzeit fertiggestellt und soll Platz für 1500 Familien bieten. In diesem äußersten Zipfel Tiberias sind die Straßen wie leergefegt. An einigen Häusern stehen Gerüste, noch fehlen Fenster. Wie es hier in einigen Monaten aussehen soll, zeigen Plakate: „Der charedische Bezirk“ steht darauf, daneben eine Straßenszene, Männer mit dunklen Anzügen und Hüten, kleine Jungen mit Kippa und Schläfenlocken. Frauen und Mädchen sind nicht zu sehen. Manche Säkulare sehen die demokratischen Grundwerte in Gefahr.
Besser unter seinesgleichen
Freitagmorgen, neun Uhr in einem ultraorthodoxen Wohnviertel. Pinchas Vaknin, 54 Jahre alt, dunkelblauer Anzug, schwarze Kippa, runde Brille und langer Bart, hat sich auf einen Stuhl vor dem weißen Schrank voller religiöser Bücher gesetzt. Im Hintergrund schleudert die Waschmaschine, seine Frau steht in der Küche und bereitet das Schabbatmahl vor. In elf Stunden beginnt der Ruhetag. Dann muss die Arbeit beendet sein. Dann kommt hier alles zum Stillstand. Dann darf draußen auf der Straße kein Auto mehr fahren. Ein Verkehrsschild verbietet die Durchfahrt am Schabbat. Denn der ist Pinchas Vaknin und seinen Nachbarn heilig.
Vaknin, ein großer, rundlicher Mann, spricht mit sanfter, freundlicher Stimme. „Einst haben wir in einem anderen Stadtteil unter sehr, sehr Säkularen gewohnt“, erzählt der Vater von sechs Kindern. Kein Problem sei das gewesen, man habe sich respektiert. Doch am Ende sei es eben besser, unter seinesgleichen zu leben: „Für die Kinder, damit sie nicht durcheinander kommen.“ Vaknin leitet eine Talmudschule für verheiratete Männer, Kollel genannt, und saß bis vor Kurzem seit 15 Jahren im Stadtrat für die charedische Shas-Partei. Wie Cobi spricht auch Vaknin von „leben und leben lassen“: „Wer am Schabbat öffnen will, kann es tun, wir beschweren uns nicht“, sagt er. „Aber es tut uns weh. Es tut mir weh.“ Deshalb bevorzuge er es, in Supermärkten und Kiosken einzukaufen, die am Schabbat schließen, und nur an Tankstellen zu tanken, die den Ruhetag nicht entweihen.
Neun von 15 Abgeordneten sind Charedim
„Immer häufiger kommen Ultraorthodoxe in meinen Laden und fragen zunächst mal, ob ich am Schabbat geöffnet habe“, erzählt Itzik Batan, ein 70-jähriger Supermarkt-Besitzer, der sein Leben lang in Tiberias gelebt hat. Er habe am Schabbat immer zu gehabt, anders sein Bruder. „Er ist wie ich nicht religiös, hat sich aber entschlossen, sein Restaurant nun mehadrin zu führen, um unter der Woche mehr Geld mit religiösen Gästen zu verdienen.“ Mehadrin ist die Bezeichnung für extra-strenge Speisevorschriften, für Ultraorthodoxe ein Muss. Milchige und fleischige Speisen müssen streng voneinander getrennt werden, jedes Salatblatt wird daher auf kleinste Tierchen wie Fliegen überprüft. Wer gegen diese Regeln verstößt, dem entgeht die wachsende Zahl potenzieller ultraorthodoxer Kunden. Doron Suki, 53, Besitzer eines Eisladens an der Promenade Tiberias, berichtet von Gruppen junger Charedim, die nach dem Koscherzertifikat fragen und wieder kehrt machen, weil er keines hat. „Reine Provokation“, meint er.
Anders die aktuelle politische Blockade. Neun von 15 Abgeordneten in Tiberias sind Charedim. Weil Ron Cobi ihnen das Geld für ihre Belange streichen und sogar einen Stadtbus am Schabbat einführen möchte, verhindern sie seit Monaten, dass der neue Haushalt verabschiedet wird. „Der Haushaltsplan ist eben schlecht“, erklärt Talmudschulenleiter Vaknin. „Cobi hat der Tora-Kultur einfach Tschüß gesagt.“
Weil auch der jüngste Versuch, den Haushalt auf den Weg zu bringen, Mitte Juli scheiterte, wurde der Stadtrat nun notgedrungen aufgelöst. Ob auch Ron Cobi gehen muss, hängt jetzt vom Innenminister ab. Der heißt Aryeh Deri und ist selbst ultraorthodox.
Die Menge tobt
Ron Cobi hat einen Plan B. Er will mit seiner neu gegründeten Partei „säkulare Rechte“ zur Knesset-Wahl im September antreten – und Deri als Innenminister ablösen. Das klingt utopisch. Doch die Badegäste am „Tchelet“ Strand von Tiberias finden das genau richtig. Technomusik dröhnt dort am Samstagnachmittag aus den Lautsprecherboxen, der süßlich-penetrante Geruch von Wodka Red Bull liegt in der Luft. Männer mit Goldkettchen knacken Sonnenblumenkerne, Frauen mit falschen Nägeln ziehen an Zigaretten. Als Ron Cobi erscheint, dreht der Bademeister, der gleichzeitig der DJ ist, die Musik ein wenig leiser. Die Menge tobt. „Gut gemacht“, rufen sie dem Bürgermeister zu. „Du bist die Nummer eins“, „Ron Cobi, Innenminister“.
Das Live-Video, das Ron Cobi vom Strand-Spektakel dreht, können die Charedim jetzt nicht sehen. Doch auch dieser Schabbat wird, mit dem Leuchten der ersten drei Sterne am Himmel, zu Ende gehen. Dann werden die Charedim wieder zur Arbeit zurückkehren. Und sie haben viel vor.
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