"7 Tage in Entebbe" im Kino: Als Deutsche wieder Waffen auf Juden richteten
Jacques Lemoine war Techniker im Flugzeug, das Terroristen 1976 entführten. Für „7 Tage in Entebbe“ beriet er Daniel Brühl, der einen Entführer spielt. Über die besondere Beziehung zwischen Opfer und Täter.
Was dem einen sein Maschinengewehr, ist dem anderen der Schraubenschlüssel. Eine Revolution kann auf die eine oder andere Weise gewonnen werden. Auf dem Dach eines stillgelegten Hangars im Flughafen der ugandischen Stadt Entebbe, stehen zwei Männer mit fundamental diametralen Weltanschauungen und Interessen. Der jüngere der beiden will die Welt vom „faschistischen Regime Israels“ befreien und der unterdrückten Bevölkerung Palästinas zu Gerechtigkeit verhelfen, notfalls mit Gewalt. Der andere will bloß dafür sorgen, dass die mehr als 200 Menschen in der ehemaligen Wartehalle wieder die Toiletten benutzen können. „Wasser ist Freiheit“, erklärt er seinem bewaffneten Gegenüber, während er mit dem Schraubenschlüssel in den Rohren des Abwassersystems stochert. „Ein Ingenieur ist mehr wert als 50 Revolutionäre.“
Die Szene auf dem Flughafendach im Juni 1976 hat nie stattgefunden, sie ist eine Erfindung des Drehbuchautors Gregory Burke. Der Flugzeugingenieur Jacques Lemoine sagt den Satz zum Terroristen Wilfried Böse. Im Entführungsdrama „7 Tage in Entebbe“ von José Padilha, das an diesem Donnerstag in den Kinos startet, kommt der Szene eine zentrale Bedeutung zu.
42 Jahre später sitzt Lemoine in einem Berliner Hotelzimmer und erinnert sich an seine Begegnung mit dem deutschen Terroristen in jenen dramatischen Tagen. Lemoine ist heute 84 Jahre alt, die weißen Haare trägt er akkurat gekämmt, sein Gesicht ist gebräunt. Wenn er erzählt, klingt seine Stimme ruhig, als habe er mit dem traumatischen Erlebnis abgeschlossen.
Die Terroristen nutzten die laxen Sicherheitskontrollen aus
In den Morgenstunden des 27. Juni 1976 war der Air-France-Flug 139 vom Flughafen „Ben Gurion“ bei Tel Aviv in Richtung Paris abgehoben. Die Ankündigung einer unplanmäßigen Zwischenlandung in Athen sorgte schon vor dem Start für Unruhe unter den Passagieren. Die griechische Flugbehörde war berüchtigt für ihre laxen Sicherheitskontrollen. Das Terrorkommando, das bei der Zwischenlandung hinzustieg, spekulierte auf diese Nachlässigkeit. Unter den 56 Passagieren, die in Athen zusätzlich an Bord kamen, waren auch die Deutschen Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann von den „Revolutionären Zellen“ und vier Mitglieder einer Splittergruppe der Volksfront zur Befreiung Palästinas.
„Es ist mir noch immer ein Rätsel“, sagt Jacques Lemoine, „wie sechs Terroristen mit Taschen voller Waffen, Handgranaten und Sprengvorrichtungen durch die Sicherheitskontrollen eines Flughafens spazieren konnten.“
Der Flugzeugingenieur Jacques Lemoine gehörte zur elfköpfigen Crew des Fluges 139. Direkt nach der Universität hatte er bei Air France angefangen, ab 1964 arbeitete Lemoine hauptsächlich als Flugtechniker. Als der bewaffnete Wilfried Böse das Cockpit stürmte, saß Lemoine hinter dem Piloten Michel Bacos und Ko-Pilot Daniel Lom.
Kein cooler Terroristen-Thriller mit Lederjacken und Handgranaten
Der Deutsche sei nervös gewesen, erinnert sich Lemoine, die Granate in seiner Hand entsicherte er mit den Zähnen. Als Böse die Not-Axt im Cockpit entdeckte, rief er Brigitte Kuhlmann zu sich. Was die beiden sprachen, konnte Lemoine nicht verstehen, aber Kuhlmann wirkte auf ihn zielstrebiger, kälter. „Ich war mir damals sicher, dass Kuhlmann zum Töten von Menschen bereit gewesen wäre.“
Daniel Brühl hat in seiner Karriere einige Bösewichte verkörpert – das Schicksal deutscher Schauspieler in Hollywood. Er war ein Nazi in Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“ und in „Captain America: Civil War“ tötete er den König von Wakanda. Dass Brühl in „7 Tage in Entebbe“ den deutschen Terroristen Wilfried Böse spielt, passt also in sein Profil.
„Ich hatte keine Lust auf noch einen coolen Terroristen-Thriller mit Lederjacken und Handgranaten“, sagt Daniel Brühl und erklärt seine Entscheidung, mit dem Regisseur José Padilha zu arbeiten: „Wenn man sich eines politisch so brisanten Stoffes annimmt, möchte ich sicher sein, dass alle Beteiligten sich ihrer Verantwortung bewusst sind.“
Partner im palästinensischen Befreiungskampf
In Berlin sitzt Daniel Brühl dem echten Jacques Lemoine gegenüber. Es ist nicht das erste Mal, dass die beiden sich treffen . Sie hatten sich schon vor Beginn der Dreharbeiten ausgetauscht. Lemoine war als Berater angeheuert. Denn in den sieben Tagen, die die Entführung damals dauerte, hatte er engen Kontakt zu Böse.
Und Daniel Brühl wollte von Jacques Lemoine selbst hören, wie er den Terroristen damals erlebt hatte. „Es ging mir nicht darum, aus Böse einen Sympathikus zu machen“, sagt Brühl. In der Generation seiner Eltern seien die Ereignisse nach ’68 noch sehr präsent. Das schwierige Verhältnis zur eigenen Vergangenheit, die Wut über die Tatsache, dass das Land durchsetzt war von Nazi-Größen. „Das kann ich alles nachvollziehen. Ich wollte aber verstehen, wieso man den radikalen Schritt geht und sich bewaffnet – und damit die Leben Unschuldiger aufs Spiel setzt.“
Lemoine spürte Böses Waffe ständig am Hals
Wilfried Böse und Jacques Lemoine entwickelten in jenen Tagen tatsächlich so etwas wie ein Vertrauensverhältnis. Wenn es auch eine Weile dauerte, bis Lemoine es wagte, den Deutschen, der ihn während einer kurzen Zwischenlandung zum Auftanken auf Schritt und Tritt bei seinen technischen Kontrollen begleitete, anzusprechen. Ständig spürte er Böses Waffe im Nacken. Er fragte: „Sind sie der Anführer dieses Kommandos?“ „Ja, der bin ich“, antwortete Böse zu Lemoines Überraschung. „Dann“, entgegnete der, „ist Ihr Platz eigentlich oben bei den Passagieren.“ Aber noch misstraute Böse dem Ingenieur, nicht ganz zu Unrecht.
Lemoine hatte gute Gründe, Böse loszuwerden. Unter den Tragflächen des Airbus A300 befand sich ein Schalter, mit dem man die Treibstoffzufuhr manuell unterbrechen konnte. Lemoine betätigte ihn. Er wollte verhindern, dass die Maschine zu weit vom Kurs abkommt – was eine mögliche Rettungsaktion erschweren könnte.
Am 28. Juni 1976 landete Air France 139 auf einer stillgelegten Piste des Flughafens von Entebbe, wo die Geiseln und ihre Entführer von einem Willkommensgeleit des ugandischen Militärs empfangen wurden. Staatschef Idi Amin verstand sich als Partner im palästinensischen Befreiungskampf, er wollte zwischen den Parteien vermitteln. Unter den Geiseln schwand, mehr als 3000 Kilometer von Israel entfernt, die Hoffnung auf ein schnelles Ende der Entführung. Nie zuvor hatte der israelische Staat eine militärische Operation so weit von Zuhause entfernt durchgeführt, die Terroristen fühlten sich sicher
Am ersten Abend in Entebbe, erzählt Lemoine, saßen er und Böse allein im Cockpit und blickten auf den Victoriasee. „Wenn die Israelis wirklich versuchen sollten, euch zu befreien“, erklärte Böse dem Ingenieur, „werden sie über den See kommen. Sollten sie das tun, werden wir jeden einzelnen töten.“
Entebbe ist eine Zäsur in der radikalen Linken
Aus deutscher Perspektive hatte die Situation in Entebbe noch eine historische Konnotation. Am dritten Tag der Entführung spitzten sich die Ereignisse zu, als der Terrorist Faiz Jaber und seine Volksfront zur Befreiung Palästinas, die inzwischen das Kommando übernommen hatte, die israelischen von den nicht-israelischen Geiseln trennten. Das Vorgehen weckte unter den jüdischen Reisenden Erinnerungen an die Selektionen in Auschwitz. Die 102 ausgewählten Geiseln, fünf von ihnen besaßen keine israelische Staatsbürgerschaft, trugen aber die Kleidung orthodoxer Juden, wurden in einen Nebenraum der Wartehalle gebracht.
Entebbe bedeutete auch eine Zäsur in der Geschichte der radikalen Linken: Zum ersten Mal beteiligten sich deutsche Terroristen an einem Angriff auf israelische Bürger. In den Siebzigern gärte der linke Antisemitismus in einem diffusen Gemisch aus Amerika-Hass und dem Widerstand gegen den westlichen Imperialismus.
„Mich erstaunt, dass linke Denkweisen durchsetzt sind mit antisemitischen Vorurteilen“, sagt Daniel Brühl über den Terror der siebziger Jahre. „Psychologisch finde ich es faszinierend, wie dieses Gefühl, die eigene Schuld mit aller Gewalt herauskotzen zu wollen, zu der irrationalen Gegenreaktion führte, Israel anzugreifen.“ Der 1949 geborene Wilfried ,Bonni’ Böse stammte wie die meisten seiner Kombattanten aus bürgerlichen Verhältnissen. Er studierte in Freiburg Soziologie, bevor er sich in Frankfurt am Main der Studentenbewegung anschloss. Mit Johannes Weinrich hatte er den linken Buchverlag Roter Stern und 1972 die „Revolutionären Zellen“ gegründet.
Die Skrupel des Terroristen
„Wir waren geschockt, als die Terroristen anfingen, die israelischen Passagiere aufzurufen“, erinnert sich Jacques Lemoine. „Wir wussten ja, was das bedeutet. Die Stimmung war ohnehin gedrückt, es war im Hangar stickig und es gab nur fünf Sofas für 250 Menschen.“ Die Leute hätten auf Zeitungspapier auf dem Boden schlafen müssen. „Erst am zweiten Tag versorgte uns Idi Amin mit Matratzen“, sagt Lemoine. Um die Leute abzulenken, hielt Lemoine mehrmals täglich Vorträge über den damals neuen Airbus. „Doch viele der Fragen, die mir gestellt wurden, drehten sich um die politische Situation im Nahen Osten, um das Verhältnis von Israel und Palästina.“
Lemoine spürte Böses Bedenken, das Vorgehen von Jabers Leuten betreffend. „Ich bin kein Nazi“, verteidigt er sich einmal gegenüber einem französischen Passagier. Daniel Brühl sagt: „Es ist ein Unterschied, ob man so eine radikale Position in der Theorie vertritt und mit einer geladenen Waffe vor Menschen, gerade jüdischen Menschen, steht.“ Dieser Widerspruch habe ihn am meisten interessiert, weil das Bild von Böse lange ein anderes gewesen sei. Padilhas Film zeigt ihn nun als Terrorist mit Gewissen, eine Einschätzung, die andere Mitreisende nach ihrer Befreiung teilten. Brigitte Kuhlmann dagegen habe viel herumgeschrien und Geiseln mit ihrer Waffe geschlagen. Die Crew gab es bald auf, mit ihr zu reden. Böse war ihr Ansprechpartner. Einmal sagte Lemoine scherzhaft zu ihm, dass er sich keinen leichten Job ausgesucht habe. „Ja“, habe Böse erwidert, „das hatte ich mir anders vorgestellt.“
Vier Geiseln sterben beim Angriff der israelischen Soldaten
Die Befreiung der Geiseln von Entebbe legte den Grundstein für einige Legendenbildungen. Am 4. Juli 1976 landeten kurz nach Mitternacht Ortszeit vier Transportmaschinen auf dem Flughafen, an Bord befanden sich Fahrzeuge und eine israelische Spezialeinheit. Der Einsatz dauerte knapp vierzig Minuten. Bis auf Faiz Jaber, der ein Jahr später unbescholten von Uganda nach Madrid ausreisen konnte, wurden alle Terroristen getötet. Auch drei Geiseln starben in dem Feuergefecht. Die verletzte Amerikanerin Dora Bloch, die zum Zeitpunkt des Angriffs in einem Krankenhaus stationiert war, wurde später im Auftrag Idi Amins getötet.
Yonatan Netanjahu, der Leiter der Spezialeinheit, kam als einziger israelischer Soldat bei dem Einsatz ums Leben. Sein Tod begründete die politische Karriere seines jüngeren Bruders Benjamin, der heute als Ministerpräsident den harten israelischen Kurs gegenüber der palästinensischen Terror-Organisation Hamas fortsetzt. Der Pilot Michel Bacos und seine Crew wurden bei ihrer Rückkehr nach Frankreich als Nationalhelden gefeiert, weil sie bis zum Schluss bei den 102 Geiseln geblieben waren. Jacques Lemoine allerdings kann mit dem Attribut des Helden nicht viel anfangen. Er habe sich vor allem für die Passagiere verantwortlich gefühlt. „Ist es heldenhaft“, fragt er, „wenn man nach seiner Überzeugung handelt? Demnach wäre auch Böse ein Held. Nein, dazu gehört schon mehr. Mut zum Beispiel. Und Menschlichkeit.“
Böse zögert, als er die israelischen Passagiere erschießen soll
An die Befreiung selbst kann Jacques Lemoine sich kaum erinnern, alles sei zu schnell gegangen. Schon Minuten, bevor die Spezialeinheit das Gebäude erreichte, seien auf dem Startfeld Schüsse zu hören gewesen. Als die israelischen Soldaten auf die Fenster schossen, um freie Sicht auf das Innere das Hangars zu haben, warfen sich die Geiseln auf den Boden oder flohen auf die Toiletten des Wartesaals. Nur den Moment, in dem Böses Gewissen zu arbeiten begann, wird Lemoine nie vergessen. „Er blickte für einige Sekunden in unsere Richtung. Dann drehte er sich um und schoss stattdessen auf die israelischen Soldaten.“ Was in Böse vorging, wird man nie erfahren. Der erste Soldat, der in die Halle stürmte, tötete ihn mit zwei Schüssen.
Daniel Brühl erzählt, dass der israelische Soldat, der Böse erschoss, bei den Dreharbeiten als Berater dabei war. „Er meinte, dass Böse den Abzug nur nicht drückte, weil der Einsatz die Terroristen überrascht hätte.“ Lemoine ist dagegen überzeugt, dass Böse die bewusste Entscheidung traf, im entscheidenden Moment keine der Geiseln zu erschießen.
Das letzte Bild seines Entführers hat sich ihm eingebrannt. Als Lemoine von den Soldaten aus der Halle geführt wird, fällt sein Blick noch einmal auf den toten Böse – in einer Blutlache. „Der Anblick hat mich kalt gelassen“, erinnert er sich. „Böse ließ den Soldaten keine andere Wahl, als ihn zu erschießen.“
Korrektur: In einer früheren Version des Artikels wurde Entebbe fälschlicherweise als Hauptstadt von Uganda bezeichnet. Die Hauptstadt heißt Kampala.
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