„Meine Fantasie ist die von Karl May“: Abstieg in die Unterwelt
Wenn Künstler über das Künstlerdasein nachdenken, wird es meistens kompliziert. Dabei ist es so einfach: Alexander Kluge und sein Film „Orphea"
Orpheus ist ein Sänger, der liebt und verliert, was er liebt. Seine Eurydike stirbt durch einen Schlangenbiss. Aber was heißt schon "seine"? Wem gehört irgendwer? Der Sänger, unendlich trauernd, folgt ihr trotzdem ins Totenreich, wo er eine zweite Chance erhält. Doch dann bringt er um, was er liebt. Eurydike wird von ihm durch einen Blick getötet, den er besser nicht über die Schulter geworfen hätte, es passiert ihm und gibt ihm eine Stimme, die selbst „Vogelschwärme und Schlangen und drängende Tiere des Waldes“ betört, wie Ovid zu berichten weiß.
Der römische Dichter ist für Alexander Kluge ein „Kollege“. Und unter Kollegen ist es erlaubt, korrigierend einzugreifen. So ist die Sagengestalt jetzt bei Kluge eine Frau, sie heißt Orphea.
Und das ändert alles.
Wie genau diese Verwandlung auf die Welt ausstrahlt, würde man sich gerne an einem Abend Mitte Februar von Kluge selbst erklären lassen, aber gerade zupft wieder jemand am Ärmel des 87-Jährigen, so dass er sich höflich entschuldigt. „Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“
Kluge. 1932 in Halberstadt als Sohn eines Arztes geboren, 13 Jahre später gerade alt genug, um die Zerstörung seiner Heimatstadt durch alliierte Bomber mitzuerleben. Nach dem Krieg Jurist, bevor er Fritz Lang bei einem seiner letzten Filme als Assistent zur Hand ging. Er schaffte es in den erlauchten Adorno-Kreis in Frankfurt am Main. Mit den ersten eigenen Filmen wurde er zum Wegbereiter des Autorenkinos in Deutschland. Dass seit 1974 eine gesetzlich verankerte Filmförderung existiert, ist ebenfalls ihm zu verdanken. Seine Kinoarbeiten stellten ihn in eine Reihe mit Fassbinder, Herzog, Wenders. Er ist heute als einziger noch auf der Berlinale vertreten. Am Dienstag wurde „Orphea“ hier uraufgeführt.
Er verschanzte sich im Privatfernsehen
Kluges weißes, gescheiteltes Haupt ist davongeeilt durch die Salons und Foyers der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg- Platz und lässt einen allein mit zahllosen Bildschirmen und Leinwänden, auf denen eine Auswahl seiner Essay-Filme läuft. Meistens reden darin Künstler wie Christoph Schlingensief, Helge Schneider oder Hannelore Hoger über Sachverhalte, von denen sie keine Ahnung haben, das aber sehr überzeugend.
Dann wieder sieht man Wissenschaftler, von Kluge auf seine generöse, forschende Art befragt, wie sie über Termiten und Ameisengehirne sprechen oder über die Zukunft der Milchstraße. Am liebsten hat Kluge es, wie er kurz darauf sagt, wenn all die Kunstwerke sich nachts hinter verschlossenen Türen nur noch miteinander unterhalten. „Ohne, dass der Regisseur stört.“
Die Selbstabschaffung scheint Kluges Vorstellung von einer gelungenen Aktion ziemlich exakt zu entsprechen. Am liebsten ist er nicht da. Oder woanders.
Es ist seine Art, sich den Optimismus zu erhalten. Fassbinders Tod stürzte viele Akteure des Neuen Deutschen Films in tiefe Depression. Das Biedermeier der Kohl-Ära war angebrochen und verwickelte die linken Intellektuellen in den 80er Jahren in kraftraubende Verbotsdebatten. Kluge "verschanzte" sich im Privatfernsehen, das zu kapern ihm durch die listige Auslegung einer Verfassungsklausel gelang. Er setzte einen verpflichtenden Informationsanteil bei den privaten Sendern durch und bespielte ihn gleich selbst. Seine wilde Mischung aus Stummfilm, Dokumentation und Musikvideo lehrte die Deutschen zu nächtlicher Stunde, die Güte des Fragments zu schätzen. Sein Motto: Einen Gedanken zu haben, ist besser, als ihn zu Ende zu denken. Sein Ausstoß an Büchern ist unüberschaubar. Sein berühmtestes handelt von der „Chronik der Gefühle“.
Mutter und Schwester sind tot. Das kann er bis heute nicht verzeihen
Von dieser Chronik verstehen Frauen eindeutig mehr als Männer. Davon ist Kluge überzeugt. So erzählt er, als er sich zur Fortsetzung des Gesprächs auf einem Stuhl im wimmelnden Foyer der Volksbühne niederlässt, dass er Fragen auf dieselbe Weise stelle, wie seine Schwester es tun würde. Man denkt an das „Ja?“, das er ständig zwischen zwei Satzhälften setzt. Das berühmte Kluge-Timbre „aus Freundlichkeit und Genauigkeit, antrainierter Naivität und Insistenz“, das Laudator Jan Philipp Reemtsma bei der Verleihung des Büchner-Preises 2003 lobte, ist also nichts anderes als ein Echo auf die emotionale Vernunft seiner Schwester.
Die ist längst gestorben. Auch seine Mutter ist tot. „Das kann ich bis heute nicht verzeihen“, sagt er. „Ich hänge an ihnen. Nun fange ich an, Brücken zu bauen, um ihnen wieder zu begegnen, obwohl ich weiß, dass ich das nicht kann. Vielleicht ist es so, dass etwas Geliebtes, das man verloren hat, an einer anderen Stelle der Welt längst wiedergeboren wurde. In der Kunst darf man so etwas denken. Als Fernsehredakteur darf man es nicht.“
Der Wunsch nach dieser Brücke ließ ihn „Orphea“ angehen, ein offenes Nachdenken über Musik und ihre Macht. Hier blickt sich niemand um im Augenblick des größten Glücks und lebt in ewiger Schuld, schöner singend denn je. Der weibliche Blick braucht die Tragödie nicht. Vielmehr ist Orpheas Geschichte die einer Sängerin, die ins Totenreich hinabsteigt, um zu befreien, was sie liebt.
Kluge hat sich für diese weibliche Umdeutung des Mythos’ mit dem Underground-Regisseur, Musiker und Poeten Khavn De La Cruz aus Manila zusammengetan. Erstens, weil es in Manila diese Unterwelt tatsächlich gibt. Und Khavn ist einer, der sich in ihr auskennt. Zweitens war Lilith Stangenberg, langjähriges Ensemble-Mitglied der Volksbühne und Verehrerin Khavens, sehr hinterher, Orphea zu spielen. Da dachten beide, dann muss das jetzt sein.
In „Wild“ bandelte sie mit einem Wolf an
Stangenberg: „Wenn man mit ihm dreht, landet man in einer Münchner Altbauwohnung, wo provisorisch ein kleines Green-Screen-Studio aufgebaut ist und ein riesiges Wissen aus allen möglichen politischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen zu einem spricht. Trotzdem ist der Zugriff, den Kluge von mir als Schauspielerin verlangt, meistens kindlich, fast naiv, unmittelbar und intuitiv. Man wird selbst zum Autor durch die große Autonomie, die er einem gibt.“
Kluge: „Sie ist witzig, hat aber keinen Funken Ironie in sich.“
Lilith Stangenberg hat das Café Kuchenkaiser am Kreuzberger Oranienplatz für ein Treffen gewählt. Die 31-Jährige ist in der Nähe aufgewachsen und auf der Waldorfschule gewesen, die sich einige Querstraßen entfernt befindet. Nach Stationen in Zürich und Hannover kehrte sie 2012 in ihren Heimatkiez zurück. Seit dem Ende der Castorf-Ära an der Volksbühne ist sie nicht mehr fest an einem Theater beschäftigt. Aufsehen erregte sie in Nicolette Krebitz’ Film „Wild“, in dem sie mit einem streunenden Wolf anbandelt.
Nun sitzt sie in einem Sessel mit dem Rücken zur Panoramascheibe des Kaffeehauses, ein bleiches, schmales Gesicht, lange blonde Haare fallen über die groben Maschen ihres Pullovers. Ihre Stimme ist rau und warm, wenn sie davon spricht, dass ihr Anspruch an eine Rolle sei, „das System zu verstehen“, das ihr die Rolle zuweist. In diesem Fall hätten „die Sterne günstig gestanden“.
Seit 2015 folge sie Khavns Spuren. „Was für andere Tarantino ist, bedeutet Khavn für mich.“ Einige Filme des philippinischen Kunstberserkers sind im Internet zu finden, manche laufen auf kleineren Festivals. Als der Mann, der seine Werke in schneller Folge nach den Regeln eines eigenen No-Budget-„Manifestos“ umsetzt, im Herbst 2018 für einen Stummfilmabend nach Berlin kommt, wo er Orgel spielt, sind nur wenige Leute da. Statt ihren Helden anzusprechen, schreibt sie ihm lieber eine E-Mail. Es fügt sich, dass Khavn eine erneute Zusammenarbeit mit Alexander Kluge vorbereitet. Sie haben gerade mit „Happy Lamento“ einen ersten gemeinsamen Film vollendet.
Eine Kakerlake kriecht aus ihrem Hochzeitskleid
Kluge: „Ich bin verzaubert von dem Wildling. Und er liebt den Stummfilm genauso wie ich.“
Zunächst arbeitet sich Lilith Stangenberg Anfang 2019 unter Kluges Anleitung in den literarischen Teil des Stoffs ein. Aus dem Volksbühnen-Fundus hat sie sich ein weißes russisches Hochzeitskleid ausgesucht. Sie nehmen Lieder auf, schlagen gedanklich den Bogen von Ovids „Metamorphosen“ über die russische Revolution und den medizinischen Fortschritt – auch eine Befreiung der Toten – bis zur Flüchtlingskrise an der ungarischen Grenze.
Anschließend reiste Stangenberg für zehn Tage nach Manila, um mit Khavn ein Drehbuch umzusetzen, das dieser auf wenigen Seiten wie ein hymnisches Langgedicht niedergeschrieben hat. Bald kriecht eine Kakerlake aus ihrem Hochzeitskleid. Da sei sie schon mit den Nerven runter gewesen.
„So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt Stangenberg. „Khavn sucht immer wieder eine Ebene, auf der etwas außer Kontrolle gerät.“
In 24-stündigen Drehsessions geht es quer durch „Mondomanila“, wie der Filmemacher seine Heimatstadt nennt, in die Slums, zum Fluss, ins Rotlichtviertel, zum Strand oder in die Vulkanwüste.
An den Drehorten habe sie Khavn fragend angeschaut, erzählt Stangenberg. Ihre Frage: „Was soll ich tun?“
„Geh einfach los“, habe Khavn gesagt.
„Soll ich irgendwas tun?“
„Was immer du willst.“
„Wo soll ich hin?“
„Irgendwohin. Tu, was du tun musst.“
Sie steht da als weiße Europäerin in einer Welt, in der die Menschen im Müll hausen, Kinder mitten in der Nacht geschäftig durch die Straßen rennen auf der Suche nach Essbarem, auf Pappkartons schlafen und nichts besitzen, am allerwenigsten eine Hoffnung. Und Lilith Stangenberg, das blendend weiße, fremde Wesen im Hochzeitskleid, begreift, was es heißt, sich unter lebenden Toten zu bewegen.
Sie sprang in den Fluss. Der Kostümbildner gab ihr Antibiotika
Stangenberg: „Heute können wir in die Oper gehen, zahlen Geld dafür, um jemanden über Gefühle singen zu hören. Viele Menschen können nicht weinen, außer in der Oper. Tinder und andere Dating-Apps geben einem zwei Optionen: links weg, rechts weg. Könnte ja immer noch etwas Besseres kommen. Gefühle sind nur noch ein Produkt, dem man mit einer Konsumhaltung begegnet. Aber Orpheus will den Verlust der Liebe nicht hinnehmen, sich nicht besänftigen lassen. Der Gedanke war mir wichtig: Was bist du bereit aufzugeben für jemanden? Alle arbeiten so hart an der eigenen Ewigkeit und an den Selbsten.“
Wofür wäre sie bereit, in die Unterwelt zu gehen?
Einmal, auf einem Kahn, es war heiß und dreckig, und der Fluss roch salzig wie das Meer, fragte sie, ob sie ins Wasser springen dürfe. Das Team am Ufer schwieg, jeder blickte zu Khavn, wartete darauf, was er sagen würde. „Und er: ,Yes’!“ Also sprang sie, wie sie war, vom Boot aus in den Fluss.
In der Mittagspause gab ihr der Kostümbildner eine Packung Antibiotika. Die solle sie jetzt einnehmen.
Was konnte die Linie zur Unterwelt, die sie überschritten hatte, sichtbarer machen, als dass sie dort offenkundig nicht hingehörte? Das wurde Lilith Stangenberg immer bewusster. Diese Orphea, die sich das Recht herausnahm, einen apokalyptischen Albtraum zu durchleben, hatte mit ihr zu tun.
Was zu der Frage schlechthin führt. Warum tut man sich das alles an?
Stangenberg ist sich mit Kluge einig, dass das Schöpferische nicht aus Schmerz und Qual entsteht, sondern „aus einer Analyse der Welt, die zutiefst grausam sein kann. Wer sich mit dieser Grausamkeit beschäftigt, muss unabhängig von ihr sein.“
Was ist das Herz? Haut, Knochen, Zwerchfell und Fußsohle
Das bedeutet umgekehrt, dass nur die Unbegabten den Schmerz als Entschuldigung brauchen.
„Fangen wir doch mal anders an“, rät Kluge, während er in einer stilleren Ecke der Volksbühne auf einem kreisrunden Diwan über den Zusammenhang von Schmerz und Produktivität nachdenkt. Das Zwerchfell, sagt Kluge, einen seiner hypnotischen Monologe beginnend, das Zwerchfell, sei ein anarchistisches Organ, dem könne man das Lachen nicht verbieten. Und über die Haut habe Siegmund Freud gesagt, sie wisse ganz genau, was unerträglich für den Menschen sei.
Der Stellungskrieg in Flandern etwa. Und Freud sagt: Vertraut doch dieser Haut, die kriegt Allergien und warnt uns. Vertraut nicht eurem Gewissen, denn das hetzt euch auf den Feind. Erst sagt es, dass der Franzose ein schlechter Mensch sei, deshalb müsse man ihn bekämpfen. Und dann, weil so viele gefallen seien, dürfe man keinen Frieden schließen. Was für ein schlechter Berater das Gewissen doch sei. Folge deinem Herzen, heiße es. Was ist das Herz?
Kluge sagt: Haut, Knochen, Zwerchfell und die Fußsohle.
Wie vielen hat die Fußsohle auf dem Weg nach Stalingrad das Leben gerettet? Wegen der Blasen kamen die Soldaten nicht in den Kessel.
Stangenberg: „Mit Kluge zu arbeiten bedeutet, es mit dem gleichbleibend hohen Energieniveau eines Neunjährigen zu tun zu bekommen.“
Und der Mann wird auch an diesem Abend nicht müde. Er schlafe gut, sagt er, als wenn das eine Begründung wäre. Eine andere lautet, dass auch seine Mutter bis ins hohe Alter neugierig geblieben sei. „Meine Fantasie ist die von Karl May“, fährt er fort. „Den habe ich mit sieben Jahren gelesen. Inzwischen kann ich den Parsifal-Stoff übersetzen in eine Freikorps-Geschichte. Aber in Wirklichkeit erzähle ich eine Karl-May-Geschichte.“
Endlich Anerkennung: ein Handwagen mit Fleischkonserven
Gleich im nächsten Atemzug geht Kluge noch weiter zurück. An den Anfang der Menschheitsgeschichte. Der Neandertaler habe sich am Lagerfeuer immer dieselbe Geschichte erzählt: wie man aus der Gefahr glücklich entkommen könne. „Eine gute Geschichte“, wie Kluge betont. Sie malten die Tiere, die sie jagten, im Feuerschein an Höhlenwände, und sie malten sie kleiner als sie waren, um sie überhaupt jagen zu können. „So sind Menschen schon von jeher Illusionisten des Glücks gewesen.“
Er erinnert sich wie er und seine Kumpane nach Kriegsende zum ersten Mal „achtungsvoll angeblickt“ worden seien von den Eltern. Es ist auch eine Jäger-Story: Sie hatten einen Handwagen voll mit Fleischkonserven herangeschafft, geklaut aus dem Proviantamt in Halberstadt. „Wir bekamen für eine Tat, die uns eigentlich verboten war, größte Anerkennung.“ Im Kaufhaus Büttner stieg Kluge sieben Kelleretagen in die Unterwelt, in der ungebrannter Kaffee von 1938 lag.
Kluge: „Was meinen Sie, hat mein Vater als erstes getan, als ich siegreich und verwundet mit aufgerissenem Knie nach Hause kam? Er verband mir das Bein und sagte, toll hätte ich das gemacht. So lernt man sein Glück zu suchen.“
Derzeit schreibt der literarische Bildermacher an einer Geschichte, in der Marcel Proust in einem Pariser Theater sitzt, auf der Bühne wird eine Komödie gegeben, die Vorstellung langweilt ihn zu Tode. „Da fällt sein Blick auf das blaue Licht, durch das der Notausgang gekennzeichnet ist. Und er stellt sich vor, wenn jetzt ein Theaterbrand ausbrechen würde, wüsste er, wo sich der Ausweg befände. Er sagt sich: ,Jetzt kann ich mir den Gedanken an einen Theaterbrand leisten und der Abend wird interessant’.“ Das hat was nochmal mit Glück zu tun? Der Träumer Proust ist gerettet. Wenn auch nur in der Fantasie. In Wirklichkeit ist gar nichts passiert.