Genscher in der Prager Botschaft: 13 Worte, die das Ende der DDR einläuteten
Am 30. September 1989 brachte Hans-Dietrich Genscher den DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft die erlösende Nachricht. Zum Tode des ehemaligen Außenministers veröffentlichen wir noch mal einen Rückblick, der 25 Jahre danach entstand.
Wann das Ende der kommunistischen Diktatur in der DDR eingeläutet wurde, wann der Moment gekommen war, an dem jeder wissen konnte, dass die Zeit der SED-Herrschaft zu Ende geht, lässt sich auf die Minute genau sagen. Es war der 30. September 1989, um 18.59 Uhr. Es war der Moment, in dem Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon des Palais Lobkowicz in Prag im Halbdunkel an die Balustrade trat und über ein schwaches Megafon einen Satz begann, den er nicht zu Ende führen konnte und der gerade deshalb zu den Sätzen gehört, die auch in 50 Jahren noch zitiert werden.
Und das waren die Worte, die der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland sagte: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ...“
Die letzten drei Worte „... möglich geworden ist“ gingen unter im unbeschreiblichen Jubel von 5000 Menschen im Park des Palais Lobkowicz, die seit Tagen, Wochen, einige sogar seit Monaten genau auf einen solchen Satz gewartet hatten. Sie alle, Frauen, Männer, Kinder waren Bürger der DDR, die die vielleicht letzte Chance nutzen wollten, dem Unrechtsregime in ihrer Heimat zu entfliehen. Im Juni waren es erst 40 gewesen, Anfang September bereits 500.
Glücksgefühle und Panik
Als aber Ungarn am 11. September mitteilte, dass es Republikflüchtlinge nicht mehr an ihren Herkunftsstaat ausliefern würde, kamen bei vielen tausend DDR-Bürgern, die sich absetzen wollten, nicht nur Glücksgefühle auf, sondern Panik – die panische Angst, dass die DDR nun alle Grenzen, auch die zu den sozialistischen Bruderstaaten, schließen würde, dass dann überhaupt keine Flucht mehr möglich sei, dass sich auf Jahre keine Tür mehr öffnen würde, um das Gefängnis DDR vor der Rente zu verlassen.
So kamen dann Tag für Tag Hunderte. Warfen ihre Koffer über den Zaun der Botschaft, hoben Kinderwagen herüber, kletterten über die Absperrungen, rannten tschechische Polizisten über den Haufen, die sich ihnen in den Weg zu stellen versuchten. Die 25 Jahre alten Fernsehbilder zeigen Menschen in Angst. Andere, die mit dem Mut der Verzweiflung, ihre Kinder im Arm, sich durchboxen auf das Botschaftsgelände.
Der Garten glich einer schlammigen Baustelle
Und wenn sie in dem Garten, der nach Regenfällen eher einer schlammigen Baustelle glich, angekommen waren, dann lachten sie, denn sie wussten: Die Botschaft ist exterritoriales Gelände, von hier konnten sie nicht verschleppt werden, und noch nie hatte eine bundesdeutsche Vertretung irgendwo auf der Welt zufluchtsuchenden DDR-Bürgern den Schutz der bundesdeutschen Diplomatie verweigert. Der die Bonner Politik bis zur Wende bestimmende, immer wiederholte und das Fundament für diese Gewissheit legende Satz lautete: Die DDR ist für uns kein Ausland.
Nicht nur in Prag, auch in Warschau und Budapest waren die Räume der bundesrepublikanischen Botschaften überfüllt. In der DDR herrschte Endzeitstimmung. Aber nirgends war die Situation so zugespitzt wie in Prag, keine Botschaft war so groß wie das barocke Palais Lobkowicz. Im großen Kuppelsaal, in dem Ludwig van Beethoven und Carl Maria von Weber schon Konzerte gegeben hatten, standen mehrgeschossige Etagenbetten in dichten Reihen.
Kellerräume waren zu Matratzenlagern geworden, im Garten standen völlig überfüllte Zelte. Vor Toilettenanlagen und Waschgelegenheiten bildeten sich lange Schlangen, die Verpflegung von 5000 Menschen, die Organisation solcher Lebensmittelmengen, brachte das Botschaftspersonal an die Grenzen des Menschenmöglichen.
Die Bilder der zu allem entschlossenen Menschen, die zu Hunderten gleichzeitig auf die Zäune zustürmen – weil sie in der Masse kaum von tschechischen Ordnungskräften aufzuhalten sind –, gingen um die Welt, und jeder neue Fernsehbeitrag über die Flüchtlinge vom Palais Lobkowicz löste eine weitere Fluchtwelle aus. Ohne die vielen Rotkreuzhelfer wäre es nicht möglich geworden, ein Mindestmaß an Organisation aufrechtzuerhalten, damit es weder zu Reibereien zwischen den durch die Enge überreizten Menschen noch gar zu Krankheiten oder Seuchen kam.
Den ganzen Sommer lang wird nach einer Lösung gesucht
Der damalige Kanzleramtsminister Rudolf Seiters, der mit über die Ausreise der Flüchtlinge verhandelte, sagte später einmal, dass der Moment der Genscher-Rede nicht nur einer der emotionalsten Momente seines politischen Lebens gewesen sei, sondern letztlich auch der Auslöser, dass er sich 2003, nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag, für das Ehrenamt des Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes zur Verfügung gestellt habe. Noch heute habe er die größte Hochachtung vor dem, was die Helfer damals vollbracht hatten.
Trotz aller Hilfestellungen wäre es vermutlich irgendwann zu dramatischen Szenen gekommen, wenn die Frauen und Männer sich nicht selbst Entscheidungsstrukturen gegeben hätten – der für die Flüchtlinge zuständige Mitarbeiter der Botschaft, Hans-Joachim Weber, hatte darum gebeten. Das geschah schon relativ früh, bereits Ende August, und die zu diesem Zeitpunkt nur 150 Gäste aus der DDR wählten Christian Bürger zu ihrem Sprecher. Er war seit Ende Juni auf dem Botschaftsgelände. Ende September wird er einen ganzen Mitarbeiterstab und ein eigenes provisorisches Büro haben.
Vergiftetes Lockangebot
Die Bundesregierung unternimmt den ganzen Sommer über vielfältige Anstrengungen, mit der DDR Lösungsmöglichkeiten auszuhandeln. Der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel sucht im Auftrag der Partei- und Staatsführung in Prag mit nach Lösungen, er wird dabei von einem Anwaltskollegen, Gregor Gysi, begleitet. Die SED aber verlangt auch hier wie in vielen früheren Fällen zunächst von den Flüchtlingen die Rückkehr in die DDR, dann würden ihre Ausreisewünsche wohlwollend geprüft.
Vogel und Gysi haben wenig Erfolg mit diesem Angebot. Die Menschen wissen inzwischen aus eigenem Beobachten und den Erzählungen von ausgereisten Freunden, was das heißen kann. Vielleicht eine schnelle Ausreise, wahrscheinlich aber auch Wochen der Ungewissheit, in denen sie nicht nur ihre Jobs verlieren, sondern in denen die Kinder in der Schule geschnitten, sie selbst von den strammen Genossen geächtet werden. Kaum einer auf dem Botschaftsgelände lässt sich am Ende der Gespräche auf das als vergiftet empfundene Lockangebot ein.
Währenddessen will Außenminister Hans-Dietrich Genscher einen anderen Weg gehen. Er ist gerade von einem Herzinfarkt genesen, möchte aber unbedingt bei der Generaldebatte der Vereinten Nationen in New York reden und dort am Rande der UN Kontakte knüpfen. Genscher reist mit einem Kardiologen in seiner Begleitung. Für alle Fälle, sagt er Jahre später mit einem Lächeln, da weiß er ja, dass er nicht nur überlebt hat, sondern am Ende auch erfolgreich war.
Genscher versucht es über Schewardnadse
Der DDR-Außenminister weigert sich, mit seinem bundesdeutschen Kollegen in Kontakt zu treten. Genscher versucht es dann über den sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse. Genscher erinnert sich, dass der sofort gesprächsbereit gewesen sei, eine Lösung via Moskau zusagt, die dann auch innerhalb weniger Stunden zustande kommt. Als Schewardnadse im Juli dieses Jahres stirbt, erinnert sich Genscher nicht zuletzt an diese Stunden in New York, wenn er sagt: „Er war für mich ein persönlicher Freund, der die Zeichen der Zeit verstanden hatte und der mit Gorbatschow zusammen den Weg geöffnet hat für die Überwindung der Teilung Deutschlands.“
Zunächst aber stößt die Lösung des Flüchtlingsdramas in Prag, wie sie die UdSSR vorgeschlagen und an Ost-Berlin durchgereicht hat, auf den heftigen Widerstand der 5000 Menschen in der Botschaft. Sie sollen nämlich nicht auf dem direkten Weg nach Bayern ausreisen dürfen, sondern die Zugstrecke muss durch die DDR über Dresden zum Grenzkontrollpunkt Hof verlaufen. Die Flüchtlinge lehnen erregt ab, sie fürchten eine Finte, rechnen damit, dass die Züge auf freier Strecke gestoppt und sie von bewaffneten DDR-Organen zum Aussteigen gezwungen werden. Hier finden Genscher, Seiters und die Botschaftsmitarbeiter einen Ausweg. Jeder Zug wird von bundesdeutschen Diplomaten begleitet, die für eine reibungslose Ausreise einstehen werden.
Dramatische Szenen in Dresden
So geschieht es. Zu dramatischen Szenen kommt es dennoch – bei der Fahrt durch Dresden versuchen verzweifelte DDR-Bürger vergeblich, auf die fahrenden Züge aufzuspringen.
Im westdeutschen Hof, an der Grenze zwischen der DDR und Bayern, ahnt Caritas-Geschäftsführer Walter Pretsch an diesem Abend des 30. September 1989 noch nicht, dass die historische Szene auf dem Balkon des Palais Lobkowicz, die er im Fernsehen verfolgt, auch ihm eine turbulente Nacht und einen bewegten Tag bescheren wird. Der Nachrichtenagentur KNA sagte er, um 22 Uhr 30 habe er einen Anruf erhalten, dass in der Nacht in der Bahnhofsmission von Hof viele ehrenamtliche Helfer gebraucht würden.
Züge aus Prag würden am frühen Morgen oder noch in der Nacht eintreffen, die Passagiere müssten verpflegt werden, mit Zusammenbrüchen sei zu rechnen. Pretsch mobilisiert insgesamt 1000 Helfer, die sich um die in die Freiheit entlassenen Botschaftsflüchtlinge kümmern. Die berichten später begeistert, wie sie mit offenen Armen aufgenommen worden seien. Aber viele Flüchtlinge haben weniger das Bedürfnis zu essen oder zu trinken, die meisten suchen erst einmal ein Telefon, um ihren Familien und Freunden mitzuteilen, dass sie in der Bundesrepublik angekommen sind. Es war ja eine Zeit, in der Funktelefone bei Privatpersonen selten waren und in der das Wort Handy noch nicht erfunden war.
Glückliches Ende der Massenflucht
Vom glücklichen Ende der Massenflucht in die Prager Botschaft bis zum Fall der Mauer vergehen gerade noch einmal knappe sechs Wochen. Bis zum Ende des Jahres stürzt ein kommunistisches Regime nach dem anderen in Osteuropa, das in der Tschechoslowakei wankt unter den Studentendemonstrationen seit dem 16. November.
Der Historiker Heinrich August Winkler hat jetzt in einem Rückblick in der Wochenzeitung „Die Zeit“ einen Satz seines britischen Kollegen Timothy Garton Ash vom 23. November 1989 über den Kollaps der Regime in Osteuropa zitiert, den der in einem Gespräch mit dem tschechischen Bürgerrechtler und späteren Präsidenten Vaclav Havel erstmals ausgesprochen hatte. Ash sagte vor 25 Jahren: „In Polen dauerte es zehn Jahre, in Ungarn zehn Monate, in der DDR zehn Wochen, vielleicht wird es in der Tschechoslowakei nur zehn Tage dauern.“
Die Bundesregierung hat sich lange bemüht, das Palais Lobkowicz, nicht zuletzt wegen dessen historischer Bedeutung für das vereinte Deutschland, dem tschechischen Staat abzukaufen. Zuletzt hat das Auswärtige Amt sogar ein Gegengeschäft vorgeschlagen – Tschechien könne die ehemalige US-Botschaft in der DDR in der Berliner Neustädtischen Kirchstraße übernehmen. Aber im August wurden diese Gespräche für gescheitert erklärt, obwohl das Gebäude im ehemaligen Ost-Berlin überaus repräsentativ ist. Für die Botschaft in Prag wurde nun ein Mietvertrag über 50 Jahre abgeschlossen. An den historischen 30. September 1989 erinnert eine Bronzetafel an der Balustrade des Balkons.
Auf die Frage, welches der emotionalste Moment seiner langen politischen Laufbahn gewesen sei, nennt Hans-Dietrich Genscher die bewegenden Minuten auf dem Balkon der Botschaft. Und obwohl er immer wieder erzählt, dass er sich damals bemüht habe, möglichst nüchtern zu sprechen, um die DDR nicht unnötig zu provozieren, spürt man, dass ihm diese Erinnerung sehr nahe geht. Wann kann man schon einmal 5000 sich nach der Freiheit sehnenden Menschen verkünden, dass der Moment da ist.