Sylt: Zu rau für Brigitte Bardot
Im Winter ist sogar Kampen für alle da. Die Reichen und Schönen sind anderswo. Wer Ruhe mag, fährt jetzt nach Sylt.
Die Sylt Marketing GmbH hat einen stolzen Steckbrief über ihr Eiland herausgegeben. Darin steht etwa, dass es die größte deutsche Nordseeinsel mit einer Fläche von 99 Quadratkilometern ist. Dass sie zu rund 33 Prozent Dünen bedecken. Oder dass sie seit dem 1. Juni 1927 über den Hindenburgdamm mit dem Festland verbunden ist.
Den meisten Deutschen aber fällt zu Sylt spontan etwas anderes ein: „die Insel der Reichen und Schönen“. Sylt Marketing findet dieses Image nicht mehr lustig. Man befürchtet, dass es all jene Urlauber abschrecken könnte, die sich dazu nicht zählen.
Im Winter taugt dieses Klischee ohnehin nicht. Kampen ist verwaist. Die Schickeria weilt anderswo. Die Häuser der prominenten oder begüterten Sylter auf Zeit sind verriegelt. Auch im Anwesen von Jürgen Klopp, für das er vor drei Jahren 2, 8 Millionen Euro hingeblättert haben soll, brennt kein Licht.
Kein Kunde verirrt sich jetzt in die teuren Boutiquen in knuffigen Reetdachhäusern. Den jungen Kellner vom Restaurant Kaamp Meren freut’s. „Was die jetzt nicht verkaufen, landet zu günstigen Preisen im Outlet-Center von Tinnum.“ Niemand flaniert über den Strönwai, den Eingeweihte nur Whiskymeile nennen. Vor dem Promilokal Gogärtchen (Hauptgerichte zwischen 30 und 40 Euro) parkt ein einsamer Ferrari.
"Alle kamen zu uns"
An stillen Wintertagen kann man darüber sinnieren, warum Kampen überhaupt zum place to be geworden ist. In den 20er Jahren kam die in Berlin geborene Tänzerin Valeska Gert in den Sylter Ort und staunte: „Dort trug man diese langen braunen und blauen Turnanzüge aus Baumwolle. Ich fand sie grässlich und erfand ganz kurze giftgrüne und knallrote Seidenhöschen. Oder ich lag nackt in den Dünen. Man war brav, und ich galt als verworfen.“
Der Schriftsteller Hermann von Wedderkopp notierte schon 1923: „Hier rummelt sich die komischste Gesellschaft.“ Ihr Mann schenkte Valeska Gert ein Sommerhaus. Viel hatte sie zunächst nicht davon. Die Jüdin emigrierte 1939 in die USA. 1950 bekam sie das Anwesen zurück und richtete dort den „Ziegenstall“, ein kurioses Nachtlokal, ein. Prominente kamen, Gert Fröbe, Peter Frankenfeld oder Werner Höfer waren Stammgäste.
Richtig angesagt war Kampen in den 60er Jahren. Im Schlepptau von Gunter Sachs eilte die Schickeria herbei. „Da ging hier die Post ab, die neue Zeit ist ein Schiet dagegen“, sagt der gebürtige Kampener und Ortsführer Falk Eitner. Damals hätten sich die Menschen amüsieren und ein freies Leben genießen wollen. „Einfach an der Theke sitzen und einen Whisky bestellen, plötzlich war das möglich!" Nirgendwo sonst im biederen Deutschland hätte man so lustvoll über die Stränge schlagen können. „Alle kamen sie zu uns“, sagt Ex-Kapitän Eitner stolz. Und sie kehrten Sommer für Sommer zurück. Nur Brigitte Bardot, so räumt er ein, sei nur ein einziges Mal auf Sylt gewesen. „Das Klima war ihr zu rau.“
Die Preise sind verblüffend
Dafür hat der Mann überhaupt kein Verständnis. Und führt die einzigen beiden Gäste seiner heutigen Führung durch die Dünen zum Strand. Es regnet heftig, ist aber viel zu stürmisch, um einen Schirm aufzuspannen. Die Feuchtigkeit durchdringt die Jacke, die Hosenbeine sind schon klatschnass. „Wir gehen jetzt ein Stück am Strand entlang“, sagt Eitner in einem Ton, der keine Widerworte duldet. „Später können wir uns in der ,Kupferkanne‘ aufwärmen.“
Wie herrlich muss dieser breite, nicht enden wollende Strand im Sonnenlicht sein. Im Sommer wird es auf den großen Parkplätzen eng. „Aber wir nehmen keine Gebühren“, sagt Eitner. Und schiebt zufrieden nach: „Das gehört zur Sylter Philosophie. Wir rennen hier nicht jedem Nickel hinterher.“
Die Preise in der „Kupferkanne“, 1-A-Lage in einem kurios umgebauten Bunker, sind vergleichsweise bescheiden. Neun Sorten leckeren Blechkuchen haben sie im Angebot, das kachelgroße Stück für 3, 90 Euro. „Generell habe ich auf Sylt höhrere Preise erwartet“, sagt ein Besucher von Amrum, der von Sylt zuvor „nicht die beste Meinung“ hatte. „Bei uns ist es teurer“, konstatiert er nun. Vielleicht, weil es auf Sylt viel mehr Lokale gebe. Rund 200 Restaurants sind es, sechs von ihnen haben Michelin-Sterne, zehn Auszeichnungen vergab Gault Millau.
Keitum, "das grüne Vergessen"
Genauso ruhig wie Kampen geht’s jetzt in Keitum zu. Im „schönsten Dorf der Insel“ prunken sommers die bunt bepflanzten Gärten. Jetzt hat man freien Blick auf die hübschen Reetdachhäuschen. Keins sieht wie das andere aus, vor jedem möchte man bewundernd stehen bleiben. Ein gutes Drittel der Häuser stammt aus dem 18. Jahrhundert, gebaut von Kapitänen, die als Walfänger zu Geld gekommen waren.
Ortsführerin Silke von Bremen kennt viele Geschichten über die Bauten und ihre Eigentümer. „Schauen Sie die Klinker an. Manchmal sind grüne zwischen die roten gesetzt, ein Zeichen für besonderen Wohlstand.“ Wer ärmer war, übertünchte die Wände weiß. „Das ist heute natürlich nicht mehr so“, erklärt Silke von Bremen.
Keitum war lange eine Oase ohne Urlauber auf Sylt. Was sollten sie hier? Da war nur das Watt – und kein Strand in der Nähe. Max Frisch hatte Keitum in den 50er Jahren „das grüne Vergessen" genannt. Aber auch das wurde natürlich „entdeckt“. „Gunter Sachs machte Party in Kampen, aber er wohnte in Keitum“, weiß die Ortsführerin. Und führt zur „Promireihe“ auf dem Friedhof. Peter Suhrkamp und Rudolf Augstein liegen dort begraben, aber auch der Verleger Ferdinand Avenarius. Ein vorausschauender Mann. Schon 1913 hatte er gefordert, die Landschaft zwischen Kampen und List unter Naturschutz zu stellen. Nach seinem Tod, 1923, war es so weit. Zehn Naturschutzgebiete sind inzwischen auf Sylt ausgewiesen. Ein Glück für die Insel.
Das hübsche Dorf hat Wunden
Spätestens in den 80er Jahren kam Keitum mehr und mehr in Mode. Galerien und Boutiquen wurden eröffnet, viele Häuser wechselten die Besitzer. Stop and go ergoss sich der Verkehr im Sommer durch die schmalen Dorfstraßen, erst Ende der 90er Jahre wurde die Umgehungsstraße fertig.
Das hübsche Dorf hat Wunden. Nah am Meer steht eine klotzige Ruine. Aus dem beliebten Meerwasserschwimmbad von 1969 sollte ein großes Gesundheitszentrum mit Thermalbad werden. Man hatte heiße Quellen gefunden. Das Zauberwort zur Realisierung hieß Public-private-Partnership. Gründlich misslungen. Millionen an Steuergeldern flossen und versickerten gleichsam im Watt. Seit sechs Jahren ruhen die Arbeiten. Ob und wann hier jemals weitergebaut oder abgerissen wird, steht in den Sternen.
In der Nähe, auf dem ehemaligen Gelände eines Kindererholungsheims, hat vor Kurzem ein Ferienresort eröffnet. Es wirbt mit dem „längsten Reetdach Europas“. „98 Wohneinheiten“ konstatiert eine Angestellte stolz. Man kann ein Arrangement mit Porsche-Nutzung buchen. Wie Luxus ist, wenn er auch Seele hat, kann man im Benen-Diken-Hof erleben.
Das seit den 50er Jahren familiengeführte Hotel ist allmählich gewachsen. Drei, vier neue Häuser kamen dazu, im selben Stil wie die „Keimzelle“, das alte Kapitänshaus. „Wir achten schon drauf, dass hier alles weitgehend so bleibt, wie es war“, sagt ein Hamburger schmunzelnd. Ein Stammgast wie so viele im Benen-Diken-Hof. Einige von ihnen sitzen heute Abend an der gemütlichen, hufeisenförmigen Bar des Hotels. Chef Claas-Erik Johannsen steht hinter der Theke.
Was ist das Besondere an Sylt?
Es ist wie bei einem Familientreffen, in dem Fremde freundlich aufgenommen werden. Ein Herr aus Düsseldorf reist regelmäßig im Winter an. „Am liebsten am 1. Januar, wenn auf der anderen Seite Hunderte von Autos vorm Sylt-Shuttle in Richtung Festland warten.“ Dann leere sich die Insel auf wunderbare Weise, und er habe ein stilles Eiland fast für sich.
Was ist das Besondere an Sylt? „Die Vielfalt der Natur, die Extreme, das gibt es so auf keiner anderen Nordseeinsel“, sagt Johannsen. Auf dem Weg zur Nordspitze, dem Ellenbogen, kann man das erleben. Eine wild gewachsene Dünenlandschaft bäumt sich rechts und links der Wege auf. Langsam fahren, bitte.
Immer wieder tippeln Schafe über die schmale Straße. Wer im Sommer zur Spitze hinauffahren will, muss eine Maut von fünf Euro entrichten. Sogar von Radlern wird sie erhoben. Jetzt sind die Kontrollhäuschen verwaist.
List, vom klotzigen Arosa Resort mal abgesehen, ist erstaunlich normal geblieben. Am kleinen Hafen, wo die Sylt-Fähre zum dänischen Rømø pendelt, stehen bunt gestrichene Holzhäuser. Krimskrams häuft sich in der „Alten Tonnenhalle“. Bei Gosch, der „nördlichsten Fischbude“, bestellt ein gemischtes Publikum in Selbstbedienung Fische, gebrutzelt, gekocht, mariniert. Die meisten Leute wollen Tee. 50 Weine stehen auf der Karte, dazu zehn Sekt- und Champagnersorten. Wen interessiert’s?
Sylt kann ganz normal sein.