Hamburg: Steine mit Charakter
Hamburgs Kontorhausviertel und die Speicherstadt spiegeln hanseatische Gediegenheit. Doch das Unesco-Weltkulturerbe ist auch ein sehr lebendiger Kiez.
Ein kleines Geviert in der Innenstadt, keine hundert Meter von der Mönckebergstraße entfernt, der Hauptschlagader in der Hamburger City. Ein paar Gassen nur, mit merkwürdigen Straßennamen wie Pumpen, Schopenstehl oder Hopfensack. Sie erinnern an Bierbrauer, die hier seit dem Mittelalter zahlreich ansässig waren. Auf den ersten Blick: einige Innenhöfe, Oasen weltentrückter Stille, eingerahmt von Bürokomplexen, hinter deren roten Fassaden solider Kaufmannsgeist den Wohlstand der Stadt mehrt.
Doch schon nach wenigen hundert Metern Weg durch Torbogen und vorbei an Galerien, Kneipen und kleinen Läden wird klar: Hier lebt und entwickelt sich ein Kiez, wie es keinen zweiten in Hamburg gibt, 15 Hektar Überraschung. So traditionsreich und konservativ, wie es sich für Hamburg gehört. So originell und jung, wie man es von einem Viertel erwarten darf, das gerade von der Unesco als Weltkulturerbe geadelt wurde.
Auf den Titel haben die Hamburger 20 Jahre lang warten müssen. Der lange Atem hat sich gelohnt. Denn jetzt wächst zusammen, was zusammengehört: die Speicherstadt drüben hinter dem alten Zollkanal, der von Fleeten durchzogene ehemals größte und modernste Warenhauskomplex der Welt, zwischen 1883 und 1914 errichtet; und auf dieser Seite des Wassers die Kontorhäuser, in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hochgezogen, in denen verwaltet, gemakelt und gehandelt wurde, was drüben gestapelt, gehüsert und verschifft wurde.
Rund um das Chilehaus geben die Möwen den Ton an. Kreischend lassen sie sich vom Aufwind über der Elbe ein paar hundert Meter nach Norden tragen, hin zu diesem mächtigen Backsteinschiff, das mit seinem hohen Bug aus dem Häusermeer der Altstadt ragt. Seit dem „Stapellauf“ vor fast 90 Jahren liegt es auf dem Trockenen, ein Hamburger Wahrzeichen, ein Symbol kaufmännischen Wagemuts, eine Ikone des Backstein-Expressionismus. Sie entzückt bis heute Architekten aus aller Welt weit mehr als die neue Hafencity in der Nachbarschaft.
Salpeter machte Henry Sloman reich
Eine Radlergruppe hat Halt gemacht vor einem der Eingänge zum „Chilehaus“. David Loll, Chef des um die Ecke gelegenen Fahrradladens Zweiradperle, erzählt, wie alles angefangen hat. Wie Salpeter aus Chile, der damals so begehrte Rohstoff für Dünger und Sprengstoff, den Kaufmann Henry Sloman reich gemacht, wie sein Architekt Fritz Höger sich und der Stadt Hamburg mit diesem Koloss ein Denkmal gesetzt hat. Ausgerechnet in der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg.
Wo bis dahin kleine Leute, Handwerker oder Hafenarbeiter in beengten und ungesunden Verhältnissen lebten, begann um 1920 das neue Herz der City zu schlagen. Baumeister Höger und der Stadtplaner Fritz Schumacher wollten massive, verdichtete Bebauung. Aber sie wollten auch jedem einzelnen Kontorhaus einen ausgeprägten Charakter sichern. Gerade diese Individualität innerhalb der Klinker-Harmonie – Skelettfassaden, Staffelgeschosse, Arkaden, gotisierende Elemente und solche aus Expressionismus oder Kubismus – hat dem Viertel bis heute seinen Reiz, seine Vielfalt, seine kleinen und größeren Überraschungen bewahrt.
Loll und seine Truppe steigen aufs Rad, besorgen sich ein paar Meter weiter im „Schokoversum“ am Messberg die Wegzehrung und drehen dann über eine Brücke ab in die Speicherstadt. Das Kontorhausviertel ist kein Radrevier. Zu oft richtet sich der Blick in die Höhe, zum steinernen Kondor als Galionsfigur am Chilehaus, zur Kogge über dem Eingang C, zu dem Knaben, der an der Fischertwiete das Modell des Gebäudes trägt.
Dieses Quartier, gerade mal 500 Meter in West-Ost-Richtung, 300 in der Süd- Nord-Ausdehnung, ist ein Revier für Fußgänger. Alle Sinne, verspricht Christina Linger, werden dabei angesprochen. Die promovierte Archäologin und Vorsitzende des Hamburger Gästeführer-Vereins, gräbt auf ihren Rundgängen durchs Quartier nicht nur kompetent und mit Humor in der Vergangenheit. Anschaulich zeigt sie auch an vielen Details, wie Höger dem Backstein nach eigenem Bekenntnis „Beschwingtheit verliehen und Erdenschwere genommen hat“.
Einst warteten hier Auswanderer auf das Schiff in die Neue Welt
Auch der benachbarte Messberghof gehört zu den Höhepunkten im Viertel. Seine rätselhaften Skulpturen an der Südfassade ziehen die Besucher ebenso in den Bann wie die Muschelkalkbaldachine an den Eingängen. Die runde Ecke am Miramar-Haus, das etwas älter ist als Chilehaus und Messberghof, lässt staunen. Erst recht der wuchtige Sprinkenhof, dessen vergoldete Doppelsteine und Symbole (Rad, Schiff, Adler, Burg und Waage) an Hamburgs Herkunft und Handelsbedeutung erinnern.
Montanhof, Hanseatenhof, das Kontorhaus Hubertus ... der Spaziergänger kann sie sammeln und nach Listen abhaken. Oder kann sich verlaufen im Labyrinth der Backsteinburgen. Und immer wieder überrascht werden: Ein Solitär aus der Vorklinker-Periode, die Polizeiwache am Klingberg, schließt das Viertel nach Süden ab.
Mit seinem holländisch wirkenden Giebel ist das Gebäude beliebtes Fotomotiv inmitten der himmelsstrebenden Bürobauten. Es stammt aus dem Jahre 1908 und nimmt Bezug auf die althamburgischen Bürgerhäuser, wie sie sich als Ensemble nur noch am Nikolaifleet in der nahen und touristisch stark frequentierten Deichstraße erhalten haben.
Geschichte mischt sich mit Gegenwart: Wo einmal eine Höhere Töchterschule stand, an der Burchardstraße, und ein paar Schritte weiter, in der Straße Pumpen, einst Tausende von Auswanderern in ihren billigen Logierhäusern auf das Schiff in die Neue Welt warteten, markieren heute die Yellow-Press-Redaktionen des Heinrich-Bauer-Verlags den östlichen Schlusspunkt des Viertels. Gegenpol im Westen ist das Pressehaus am Speersort. Von dort regten früher „Spiegel“ und „Stern“ die Republik auf. Nur die Redaktion der „Zeit“ hat dort noch ihren Sitz. So vielfältig wie die Bandbreite dieser Medien, so bunt präsentiert sich auch das Leben im Klinkerkiez.
Im Jugendstil-Treppenhausrumpelt der Paternoster
Christina Linger kennt die Wirte und Galeristen, die Typen und Charaktere, von denen nicht wenige das Viertel schon prägten, als noch niemand wusste, wann denn nun endlich mit der Unesco-Plakette zu rechnen sei. „Körri“-Wirt Sven Lieske zum Beispiel, der in seinem Bistro im Sprinkenhof behutsam den Zeitgeist pflegt; seine Currywurst-Steaks hat er sich sogar patentieren lassen. Nils Olsson hingegen setzt im „Laufauf“ am Kattrepel auf Tradition und serviert Labskaus, Pannfisch oder Rundstück warm.
Hier ein Blick in ein gefliestes Jugendstil-Treppenhaus, in dem noch Paternoster rumpeln, dort ein Klönschnack mit den Herren im Gay-Café Spund, weit weg von der Schwulenszene in St. Georg. Niemand hat etwas dagegen, wenn Touristen einen Blick in ihren kuscheligen Hinterhof werfen wollen.
Was nimmt man mit als Erinnerung an dieses merkwürdige Viertel? Einen Duft aus der Rigaer Seifenmanufaktur an der Mohlenhofstraße. Eine Prinz-Heinrich-Mütze, wie sie Helmut Schmidt trägt. Seit 1892 werden diese und andere Hüte für maritime Köpfe bei Eisenberg an der Steinstraße in Handarbeit gefertigt. Oder, etwas teurer, ein Bild aus Flo Peters Gallery an der Südseite des Chilehauses, die sich auf Fotokunst spezialisiert hat.
Blazer in Marineblau und Coffee-to-go
Dieser kleine, feine Kiez ist ein sehr hanseatisches Viertel, nicht schräg oder alternativ wie die Szeneviertel Ottensen oder Schanze. Auch nicht schick wie Eppendorf oder Blankenese. Die Atmosphäre ist eher gediegen, wie sie Schiffsmakler und andere Kontorarbeiter schätzen. Es wohnen hier ja auch kaum Menschen, gerade mal fünf Familien sind es im Chilehaus, in dem aber immerhin 650 Angestellte tagtäglich die Büros bevölkern. Die Herren tragen vorwiegend gedeckte Anzüge oder Blazer in Marineblau.
Natürlich gehören längst auch hier der Coffee-to-go-Becher und das Smartphone zur Standardausrüstung der jüngeren Kontoristen. Wer mit ihnen ins Gespräch kommen will, hat dazu vor allem donnerstags Gelegenheit. Dann nämlich stehen auf dem Wochenmarkt am Burchardplatz, der ansonsten von Autos zugeparkt ist, die Besatzungen aus den Kontorschiffen und die Touristen gemeinsam in der Schlange, etwa bei Bio-Snack oder bei Manuel, der besten Milchkaffee und köstlichste Pastel de Nata verkauft.
Christina Linger verabschiedet sich nach zwei Stunden Kiezbummel von ihren Gästen bei einem Glas Rotspon, einst der Lieblingswein hanseatischer Kaufleute, mit einem Tipp: Sonnabends, wenn das Himmlische Café auf dem Turm von St. Jacobi geöffnet hat, mag der Blick hinüber zum Chilehaus und auf die Kupferdächer der Speicherstadt für den nachhaltigsten Eindruck sorgen.
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DIE QUARTIERE
Kontorhausviertel: südöstlicher Bereich der Altstadt zwischen Steinstraße, Meßberg, Klosterwall und Brandstwiete. Vom Hauptbahnhof aus zum Chilehaus geht man knapp zehn Minuten. Die Speicherstadt im nordöstlichen Hafen ist vom Hauptbahnhof in 20 Minuten zu Fuß erreichbar.
ÜBERNACHTEN
Stilvoll: das Park Hyatt im Kontorhausviertel an der Bugenhagenstraße, neben der Jacobikirche. Jung und originell: Henri, ebenfalls im Kontorhausviertel, auch in der Bugenhagenstraße. Smart: das Ameron Hotel in der Speicherstadt, ebenso das 25hours Hotel in der Hafencity
ESSEN UND TRINKEN
Hanseatisch-gutbürgerlich: Laufauf, Kattrepel 2; italienisch-maritim: La Nave, Hopfensack 8; Bistro mit Pfiff: Körri, Springeltwiete 2; Kult seit 1924: Fischbratküche Daniel Wischer. Imbiss unter Kontoristen: Wochenmarkt am Burchardplatz, donnerstags, 7–12 Uhr; mehr Info: hamburg-tourismus.de
Bernd Schiller