Kreuzfahrt und Kulinarik: Seeluft macht hungrig
Nichts ist an Bord wichtiger als das Essen. Beobachtungen in den Restaurants und Küchen der „Mein Schiff 5“.
Eigentlich ist das hier ja eine Bildungsreise.“ Als der fürs Entertainment an Bord zuständige Kreuzfahrtdirektor Stephan Zimmermann beim Kennenlernabend im Theater der „Mein Schiff 5“ diese Worte spricht, geht ein Raunen durch den 1000-Plätze-Saal. „Ja, ich weiß“, reagiert er sofort, „Sie werden jetzt sagen: Ich will doch nur Urlaub machen!“ Dann legt er die Hände auf seine Hüften: „Warten Sie mal ein paar Tage – und Sie werden sehen: Da bildet sich was, ganz von alleine.“
Essen ist das Wichtigste bei einer Kreuzfahrt. Wichtiger sogar als die Fahrtroute. Barcelona, La Spezia, Civitavecchia, Salerno, Catania, Athen, schön und gut, aber: Hauptsache, die Mahlzeiten kommen rechtzeitig auf den Tisch. Am liebsten fünf Mal am Tag. Das sagt nicht nur Chefkoch René Afflenzer, das bestätigt auch Thomas Eder, der General Manager auf dieser Mittelmeerreise, ohne zu zögern.
600 Tonnen Ware bestellt der für die Vorratshaltung im Bauch des Schiffes zuständige „Provision Master“ darum auch für eine siebentägige Reise, darunter gut 20 000 Eier, 3000 Kilogramm Mehl, 600 Kilo Nudeln, 5600 Kilo Gemüse und rund 11 000 Kilo Obst. Vier bis acht Wochen im Voraus muss der Bedarf kalkuliert werden, denn die Lebensmittel kommen zum allergrößten Teil aus Hamburg. Die Anlieferung erfolgt per LKW innerhalb Europas und per Container bei Fernreisezielen wie Dubai oder der Karibik. „Schauen Sie mal“, sagt Afflenzer und zeigt auf die Apfelkisten, die fast bis zur Decke gestapelt sind. „Bei dieser Reise haben wir viele Kinder an Bord, darum wird weniger Obst gegessen.“ Folglich muss er für die nächste Ladung in Athen weniger Äpfel bestellen. Stattdessen hatte er vorgestern einen Engpass bei den Tomaten: „Wir haben versucht, in Salerno 400 Kilo nachzubestellen, doch dort fand sich kein Händler, der so viel vorrätig hatte. Also mussten wir bis Catania warten – und kurzfristig bei den Beilagen improvisieren.“ Also Zucchini anbieten oder Möhren statt Tomaten.
Was sich bewerkstelligen lässt, da die Menüs jeweils tagesaktuell überprüft werden. Generell gilt bei Tui: Wer als Passagier zwei Wochen an Bord ist, soll in den À- la- carte-Restaurants kein Gericht doppelt serviert bekommen. Darum hat der oberste Kulinariker Rupert Kien einen Menüzirkel mit fast 5000 Rezepten entworfen. Kaum einer kennt die Essgewohnheiten der nahezu ausschließlich deutschen Kreuzfahrtgäste der Tui so gut wie der Österreicher. Seit 1996 ist er im Business, 2009 wurde er Küchenchef auf der „Mein Schiff 1“, seit sechs Jahren koordiniert er das Geschehen vom Land aus.
Der Zirkel ist auf den sechs Schiffen identisch. Weil ja schon das Personal ununterbrochen wechselt. Maximal neun Monate dürfen Crewmitglieder unterwegs sein, dann muss eine Phase an Land folgen, bevor sie wieder anheuern können. Küchenchef Afflenzer sind die Wiederholer natürlich am liebsten. Weil sie sich sofort in die Arbeitsabläufe einfügen können. „Wenn ein Teil des 120 Köche umfassenden Teams ausgetauscht wird, gehen die einen morgens von Bord, die Nachrücker kommen am frühen Nachmittag und müssen abends dann schon voll einsatzfähig sein.“ Kein Wunder, dass Kombüsenneulinge da erst einmal zum Kartoffelschälen abgestellt werden.
Mittags und abends werden in den À-la-carte-Restaurants drei verschiedene Fünf-Gang-Menüs angeboten, jeweils in einer veganen, einer „Ganz-schön-gesund“- und einer Schlemmer-Version. Aber man darf sich auch seine eigene Abfolge aus dem Gesamtangebot zusammenstellen. Und trotzdem muss der Gast nie lange warten, bis der nächste Teller auf den Tisch kommt. Denn die Abläufe sind perfekt ausgeklügelt.
Im Restaurant tippt der Bestellkellner die Kundenwünsche in ein Smartpad. In der Küche wird dann pro Tisch ein Bon ausgedruckt, den sich ein Tablettkellner schnappt. Der steuert gezielt die verschiedenen Kochinseln an, an denen jeweils ein bestimmtes Gericht im Akkord zubereitet wird: Warmhaltehauben drauf und dann zurück in den Saal mit 700 Plätzen auf zwei Etagen. Wer seinen Bereich auf der unteren Ebene hat, kann eine Rolltreppe nutzen. Vor Ort übernimmt dann wieder der Bestellkellner. Für Wein und Wasser gibt es eigene Servicekräfte, die ständig ein wachsames Auge darauf haben, wo ein Glas nachgefüllt werden könnte.
Leichter, angenehmer, abwechslungsreicher kann man es dem Kunden nicht machen. Und doch entscheidet sich die Mehrheit der Kreuzfahrer für das, was Rupert Kien „grab and go“ nennt. Sprich: für die Selbstversorgung am Büfett. Schnell den Teller voll schaufeln, schnell satt werden. Dabei haben die Gäste doch alle Zeit der Welt. Und eine All-Inklusive-Reise gebucht. Das elegante Dinner im Restaurant Atlantik kostet also keinen Cent mehr als der Selfservice im wuseligen Anckelmannsplatz. Woran es fehlt, ist schlicht die Esskultur. Die Fähigkeit, Genuss dabei zu empfinden, wenn man lange zusammen an einem Tisch sitzt.
So manches von dem, was sich Rupert Kien und sein Team zum leiblichen Wohle ihrer Kunden ausgedacht haben, musste mangels Interesse wieder aufgegeben werden. Weil die Gäste es nicht verstanden haben. Das „Eurasia“-Konzept zum Beispiel. Raffinierte Crossover-Küche wurde da geboten, für neugierige Menschen, die gerne auch mal exotische Geschmacksnoten kennenlernen. In der gehobenen Großstadtgastronomie ist das ein Megatrend – auf „Mein Schiff“ aber blieben immer zu viele Tische leer. Also flog das Konzept raus.
Der deutsche Gast isst gerne, was er schon kennt.
Ebenso erging es im Bereich der Spezialitätenrestaurants, in denen die Gäste etwas hinzuzahlen müssen, dem „Richards – fine dining“. Stattdessen gibt es nun das „Schmankerl“, in dem deftige Alpenküche serviert wird. Ausgebaut wurde auch die italienische Küche an Bord, neu hinzugekommen ist eine Döner-Station. Selbst ein Star wie Tim Raue knickt vor den Essgewohnheiten an Bord ein. In seinem Berliner Hauptquartier verzichtet er ganz auf Sättigungsbeilagen, selbst Brot ist tabu. Im Zuzahlrestaurant Hanami by Tim Raue auf „Mein Schiff 5“ habe er es genau einen Tag lang durchgehalten, ohne Reis zu kochen, gibt er im Gespräch zu. Wer hier ein Menü bestellt, bekommt nach der kräftigen Brühe eine Riesenportion Sushi, gefolgt von reichlich Frittiertem und knusprig Gebratenem. „Fun-Küche“ nennt der Spitzenkoch die kalorienreichen Kompromisse, nach dem Motto „16 Gault-Millau-Punkte – kann man essen“.
Das Problem ist nur, dass die allermeisten Kreuzfahrer noch nie etwas vom Restaurantführer Gault Millau gehört haben. Die Demokratisierung des Freizeitvergnügens auf See führt dazu, dass sich die Gäste automatisch immer mehr dem Massentourismus-Durchschnitt angleichen. Obwohl an Bord alles hochklassig ist – Design, Zimmerservice, Essen. Dass niemand als Gourmet geboren wird, dass sich anspruchsvolle Gaumen durch Herausforderungen bilden – diese Einstellung dürfen sich die Zuständigen nicht erlauben. Gäste erziehen zu wollen, das geht gar nicht. Wer bucht, bestimmt.
„Zum Glück gibt uns der deutsche Gast klar zu verstehen, was ihn glücklich macht“, formuliert Rupert Kien es diplomatisch. Steak zum Beispiel geht immer. Tatsächlich, das bestätigt auch Afflenzer, schauen die Gäste gezielt danach, wo große Fleischstücke angeboten werden. Und strömen dann dorthin.
Der Reiz der Kreuzfahrt besteht darin, in verschiedene Länder und Kulturen hereinschnuppern zu können: Jeden Tag in einem anderen Hafen festmachen, an Land auf Stippvisite gehen. Maximale Abwechslung also, getreu dem alten Goethe-Motto aus dem „Faust“. „Wer vieles bringt, wird manchen etwas bringen.“ Nur auf das Essverhalten scheint das nicht abzufärben. Da gilt eisern: Zu Hause ist es am Schönsten. Das Konzept, die Speisefolge sanft an die jeweilige Reiseroute anzupassen, musste schnell wieder fallengelassen werden, mangels Interesse. Horizonterweiterung? Nein danke. Als Tui Cruises jüngst in einer Umfrage wissen wollte, welche Gerichte noch öfter an Bord angeboten werden sollen, schrieben die Leute tatsächlich: „Bratwurst“ und „Rouladen“. Dabei gibt es die traditionellen Sattmacher selbstverständlich, und zwar ununterbrochen, im 24 Stunden geöffneten Tag-und-Nacht- Bistro auf Deck 5.
Für alle, die es abwechslungsreicher mögen, erweist sich die Größe des Schiffes als Segen: Die Mehrzahl der 13 Restaurants und Bistros an Bord mag die Bedürfnisse von Otto Normalverbraucher befriedigen; bei 2500 Reisenden gibt es trotzdem noch genug Publikum für Nischenangebote, für die Spezialitäten-Restaurants, den À-la-carte-Betrieb.
Wo die kulinarischen Angebote so reichhaltig ausfallen wie an Bord von Kreuzfahrtschiffen – und gleichzeitig die Hygienevorschriften so streng sind – , da entstehen jede Menge Lebensmittelabfälle. Die nicht nur die Umwelt belasten, sondern das Unternehmen auch Geld kosten. Darum hat Tui jüngst vom Verein „United against waist“ ganz genau untersuchen lassen, was wo an Bord im Müll landet. Mit dem Ziel, die Masse des Weggeworfenen nachhaltig zu reduzieren. Von der Lagerhaltung über die Produktion am Herd bis hin zu den Resten auf Tellern und Büfetts wurde wochenlang gewogen, gemessen und analysiert.
Und ganz einfache Werkzeuge zur Abfallminimierung identifiziert. Zum Beispiel, indem man nicht schon vorab das gesamte À-la-carte-Restaurant mit Brotkörben ausstattet, sondern die Backwaren erst dann frisch an den Tisch bringt, wenn sich dort tatsächlich Gäste niedergelassen haben. Auf den Büfetts wiederum kann man kleinere Behälter für die Speisen verwenden: Ist der Andrang groß, wird eben öfter mal nachgelegt, kommen zu einer Mahlzeit weniger Hungrige als erwartet, müssen geringere Reste entsorgt werden.
Präsentiert man eine üppige Käseauswahl nicht offen, sondern in einer gekühlten Vitrine, aus der man sich von einem Kellner jeweils die gewünschten Stücke abschneiden lässt, müssen die Köstlichkeiten anschließend nicht komplett entsorgt, sondern dürfen wiederverwendet werden. Kuchenstücke schmaler schneiden und Ketchup nicht in Magnumflaschen anbieten – viele kleine Maßnahmen können helfen, Müll an Bord zu reduzieren.
Einen Kalorien-Kalauer hat Entertainment-Direktor Stephan Zimmermann beim Kennenlerntreffen im Theater noch auf Lager. Nachdem er das Ding von der Bildungsreise mit den automatisch anschwellenden Schwimmringen um die Hüfte rausgehauen hat, gibt er seinen Zuhörern noch einen guten Rat mit auf den Weg: „Wenn Sie nach der Kreuzfahrt wieder zu Hause sind, dann denken Sie daran, was Ihr Arbeitgeber immer predigt: Weiterbildung ist ganz wichtig!“
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