Abenteuertourismus: Die Hüter des Waldes
Die baumreiche Natur Ecuadors ist bedroht. Die Dschungelbewohner ehren sie als ihre Mutter und kämpfen für die Erhaltung des Waldes. Touristen helfen ihnen dabei.
Delfín Pauchi zieht den Ast eines Annattostrauchs zu sich herab, pflückt eine stachelige Frucht, drückt seine Fingernägel in die Schale, bis sie aufplatzt. Er zerquetscht den roten Samen zu einer Flüssigkeit. „Das ist Achiote“, erklärt Pauchi, ein Mann in den späten 50ern, schwarze, millimeterkurze Haare, sanfter Blick. „Die rote Farbe steht für das Blut der Menschen. Wir sind alle Geschwister, Kinder der Pachamama.“ Im Glauben der indigenen Völker Südamerikas ist Pachamama die Mutter Erde, die Schöpferin allen Lebens.
Delfín tunkt einen Holzstab in die Paste und zeichnet einen Kreis und ein Dreieck auf meine Stirn. Sie stehen für Himmel und Erde, darüber malt er eine Krone – das Gehirn.
Seinem Sohn Rolando, der uns begleiten wird, malt er eine Schlange auf die Stirn (Reinheit), den beiden britischen Gästen eine Waage (Ausgewogenheit) und den Affen (Beständigkeit). Dann ist Delfín selbst an der Reihe. Rolando, 25, verpasst ihm ein einäugiges Strichmännchen. Das ist der hombre orientador, ein Waldgeist, der uns den Weg zurück aus dem Dschungel weisen soll. Delfín erläutert: „Diese Symbole haben uns die Vorfahren überliefert, auf Stein gemalt. Anthropologen sagen, dass die Inschriften aus dem Jahr 500 vor Christus stammen. Sie mahnen uns, die Natur als unsere Mutter zu ehren.“
Ohne die Geister das Waldes zu beschwören, per Zeichnung oder in der Meditation, geht Delfín Pauchi nie in den Dschungel. Dabei bräuchte er zumindest die Besinnung auf den hombre orientador gar nicht: Delfín ist schließlich hier aufgewachsen, im Tiefland Ecuadors. Eine halbe Autostunde fährt man über unbefestigte Straßen von dem Provinzstädtchen Tena hierher.
Leben wie die Vorfahren, das ist sein Motto
Sein ganzes Leben hat er in dieser Gegend verbracht, abgesehen von ein paar Wanderjahren in der Jugend, er kennt jeden Pfad und jeden Hügel. Er bewirtschaftet eine Finca, zusammen mit seiner Frau Stella, die ihm der Tradition gemäß mit 15 Jahren versprochen wurde. Und mit seinem Sohn Rolando, dem jüngsten seiner sechs Kinder, und dessen Frau Ivone. Auch diese Ehe wurde arrangiert.
Auf seiner Finca züchtet Delfín Hühner und Schweine und baut Gemüse und Kräuter an – wie schon seine Eltern und Großeltern. Leben wie die Vorfahren, das ist sein Motto. Delfín ist ein Indio vom Volk der Quichua. Das bezeichnet längst keinen Stamm mehr, sondern eine Sprachfamilie, weil die Spanier in der Kolonialzeit Quichua als Lingua franca bestimmt hatten. Ethnisch gehört er den Omauas an, einem Stamm aus dem Grenzland von Peru und Brasilien, dessen Mitglieder sich über ganz Amazonien verteilt haben.
Wir brechen auf. Von der Finca aus geht es einen Hügel hinab. Zwischen den Bäumen, die den schmalem Weg säumen, sind andere Häuser zu erkennen. Früher war das mal ein Dorf, ein Dorf ohne Namen allerdings, und Delfín Pauchi war Häuptling und Schamane. Heute dagegen lebt jede Familie für sich.
„Besser so“, erklärt er. „Mit den anderen Familien hat es immer Diskussionen gegeben. Ich bitte sie, den Urwald nicht abzuholzen. Aber sie fällen Bäume, um das Holz zu verkaufen. Das ist falsch: Mit jedem Baum, den wir fällen, stirbt ein Stück von uns selbst. Für jeden gefällten Baum müssen wir zwei neue pflanzen, damit wir und unsere Kinder noch Luft zum atmen haben.“
Sein Leben lang hat Delfín Pauchi es so gehalten. Hat immer nur dann Holz gemacht, wenn er es unbedingt brauchte. Für Ausbesserungen am Haus oder neue Stallungen. Verbaut hat er nur Materialien von seiner eigenen Finca. Außer Holz und Steinen vor allem paja toquilla, ein Stroh, das nur in diesem Teil der Welt vorkommt. Damit hat er die Dächer gedeckt. Seine Nachbarn verwenden Blech. Das ist weniger aufwendig und haltbarer. Aber für Delfín Pauchi kommt eine solches Zugeständnis an die Nützlichkeit nicht in Frage.
Längst haben sich die Kronen der Bäume über uns geschlossen
Delfíns Ziel ist ein Aussichtspunkt, ein magischer Ort, wie er sagt. Immer weiter schlängelt sich der Pfad hinein ins undurchdringliche Grün. Längst haben sich die Kronen der Bäume über uns geschlossen. Es geht stetig bergauf. Auf dem Boden wimmelt es von Insekten. Delfín deutet auf eine fingernagelgroße Ameise, eine Conga, und mahnt zur Vorsicht. Sie beißt mit dem Maul und sticht mit dem Schwanz – eine schmerzhafte Erfahrung. Einmal wollte ein Gast nicht hören und hat eine Conga berührt. Danach habe er einen Tag und eine Nacht gelitten.
Nach zweieinhalb Stunden erreichen wir den Aussichtspunkt, von dem eine Klippe 200, 300 Meter abfällt. Dahinter endlose grüne Hügel. Unten eine Flussmündung. Dort entsteht aus dem Rio Anzu und dem Jatunyacu der Río Napo, der sich bei Nauta in Peru mit dem Marañon zum Amazonas vereint.
Rolando imitiert die ängstlichen Rufe gerade geschlüpfter Falken. Auf den Felsen auf der anderen Seite des Flusses schwingt sich ein Falke in die Luft, alarmiert vom Geschrei der vermeintlichen Jungvögel. Es ist eine intakte Welt, die sich hier präsentiert, der Beginn Amazoniens, der grünen Lunge Südamerikas. Kein Auto- oder Bootslärm ist zu hören, kein Mensch zu sehen.
„Hier oben ist der Fluss noch sauber“, erzählt Delfín. „Doch am Unterlauf sieht es anders aus. Da wird Öl gefördert, dort leben viele Menschen. Der Río Napo ist kontaminiert, auch mit Quecksilber, weil am Fluss auch Gold geschürft wird. 50, 60 Kilometer von hier wird es flacher, dort beginnt die industrielle Ölförderung.“
Die Ölförderung sieht nicht nur Delfín Pauchi kritisch. Einerseits hängt Ecuadors Wohlstand zu einem beträchtlichen Teil am Öl. Anderseits verursacht sie erhebliche Umweltschäden. In der Gegend um Nueva Loja, dem Zentrum der ecuadorianischen Ölförderung, sind weite Teile des Regenwaldes zerstört. Vor sechs Jahren hat ein ecuadorianisches Gericht die Verursacher, den Mutterkonzern der Ölfirma Texaco, zu Schadenersatz in Höhe von neun Milliarden Dollar verurteilt. Doch bis heute ist kein Cent geflossen.
Nach der Schule hieß es: Ab zum Gold schürfen!
Weiter oben am Lauf des Rio Napo, im Nationalpark Yasuní, wollen auch ecuadorianische Unternehmen die Ölförderung aufnehmen – nachdem ein Vorstoß von Präsident Rafael Correa gescheitert ist. Er hatte angeboten, auf die Ausbeutung der Vorkommen zu verzichten und den Regenwald intakt zu erhalten, wenn die Weltgemeinschaft Ecuador für die Hälfte der entgangenen Einnahmen entschädigt. Das wären rund fünf Milliarden Dollar gewesen, die in einen Treuhandfonds hätten eingezahlt werden sollen. Doch die Zusagen beliefen sich nur auf einen Bruchteil der Summe, auf 13,3 Millionen.
Wir machen uns auf den Rückweg. Delfín biegt in das Bett eines Baches ab. In der Regenzeit, im März und April also, ist es nicht gangbar, dann rauschen hier Wassermassen hinunter. Er klettert über Felsbrocken bis zu einer Gumpe. Dort liegen Hammer und Meißel und eine hölzerne Schale, das Werkzeug, mit dem die Pauchis früher Gold geschürft hat. Das war bis nach der Jahrtausendwende die einzige Erwerbsarbeit der Familie, alle haben mit angepackt. Fürs Schulgeld der Kinder und fürs Essen in der Schule. In einer guten Woche kamen fünf, sechs Gramm zusammen – das entsprach damals gerade mal 60 Dollar.
Außerdem war die Arbeit hart, weil die Pauchis aus Umweltgründen auf auf den Einsatz von Quecksilber zum Lösen des feinen Goldstaubs verzichteten. „Jeden Tag nach der Grundschule hieß es: Ab zum Gold schürfen!“, erinnert sich Rolando. „Als wir die weiterführende Schule in Tena besucht haben, sind wir unter der Woche dort geblieben. Dafür mussten wir das ganze Wochenende arbeiten.“
Vor 20 Jahren kamen die ersten Abenteuertouristen
Abends auf der Finca. Nebeneinander schaukeln Delfín und Ronaldo in ihren Hängematten. Über ihnen wölbt sich ein Dach aus paja toquilla. Dies war das ursprüngliche Wohnhaus der Familie Pauchi. Es bestand nur aus einem einzigen Raum und maß kaum mehr als 20 Quadratmeter. Die Außenwände hat Delfín abgetragen und für ein neues, größeres Haus verwendet. Es steht weiter oben auf dem Hügel und ist alles andere als luxuriös. Dass er es bauen konnte, hat er einem Glücksfall zu verdanken.
Vor 20 Jahren drangen die ersten Abenteuertouristen ins ecuadorianische Tiefland vor, und Delfín Pauchi hat sie beherbergt. Anfangs in Hängematten im Wohnhaus der Familie, mittlerweile in separaten Hütten. Geblieben ist die Grundidee: Wer hierher kommt, lebt mit der Gastfamilie. Ohne Annehmlichkeiten. Oder besser: fast ohne.
Lange hat sich Delfín gegen Elektrizität gewehrt. Vor drei Jahren ist er dann doch ans Netz gegangen, weil die Behörden vorschreiben, dass wer Gäste bewirtet elektrisch kochen muss. Strom gibt es allerdings nur in der Küche und auf der Veranda, auf der Besucher ihre Mahlzeiten einnehmen, zum Beispiel Fisch mit Reis und frittierte Bananen.
Im Wohnhaus der Familie Pauchi und in den Gästezimmern gibt es keine Steckdosen. Die Zimmer sind spartanisch eingerichtet: ein Bett mit Moskitonetz, Kleiderhaken an der Wand. Auf einem Tischchen steht eine Kerze, daneben liegen Streichhölzer. Toiletten und Bäder werden gemeinschaftlich genutzt. Der Platz reicht für 35 Gäste.
"Durch den Tourismus können wir als Familie zusammen leben und arbeiten"
Heute fahren die Pauchis einmal in der Woche nach Tena, um Lebensmittel einzukaufen. Vor ein paar Jahren fuhren sie noch nicht so häufig, erinnert sich der Mittzwanziger Rolando: „Mein Vater war immer ein guter Jäger. Wenn nichts zu essen im Haus war, musste meine Mutter nur sagen, dass sie Hunger hat, schon ist er los. Er wusste ganz genau, wann er wo welche Tiere erwischen konnte.“ Er kam mit Fischen oder Tapiren nach Hause.
In Rolandos Worten schwingt Wehmut mit, wenn er sich an die alten Zeiten erinnert. Aber nur ein kleines bisschen. Denn im Grunde beweist die Familie Pauchi, dass Tourismus wirklich sanft und nachhaltig sein kann. Und dass beide Seiten profitieren können: Die Besucher aus aller Welt, indem sie Einblick erhalten in eine sehr traditionelle Lebensweise. Und die Gastgeber, weil der Tourismus es ihnen ermöglich, diese Lebensweise auch aufrecht zu erhalten.
„Ohne die Gäste müssten wir immer noch täglich Gold waschen“, sagt Rolando. „Oder wie wären einfach weggegangen, jeder für sich, nach Tena oder sogar in die Hauptstadt Quito oder sonst wohin. Durch den Tourismus können wir als Familie zusammen leben und arbeiten.“
Delfín Pauchi schaukelt in seiner Hängematte und nickt dazu. Das eine sind die Vorteile für die Familie. Doch dann spürt er auch eine übergeordnete Verantwortung, die ihm mindestens genauso wichtig ist: „Ich sage meinen Kindern immer: Der Regenwald ist wunderschön, aber er gehört mir nicht, ich bin nur eine Weile hier, irgendwann werde ich sterben. Der Regenwald ist mein Erbe, für euch, für eure Kinder und deren Kinder. Ich hoffe, dass sie das Richtige tun und den Regenwald hier für alle Menschen erhalten werden.“
Tipps für Ecuador
ANREISE UND EINREISE
KLM fliegt täglich von Berlin-Tegel über Amsterdam nach Quito (ab 810 Euro); Lufthansa mit den Partner-Airlines Avianca oder Copa Iberia via Bogotá oder Panama City (ab 935 Euro). Für die Einreise nach Ecuador ist kein Visum erforderlich. Der Reisepass muss bei der Einreise noch mindestens 90 Tage lang gültig sein.
EMPFOHLENE IMPFUNGEN
Tetanus, Hepatitis A und Diphtherie. Das Auswärtige Amt rät Schwangeren wegen des Zika-Virus von „vermeidbaren Reisen“ nach Ecuador ab.
LANDARRANGEMENT
Einen Besuch bei Delfín Pauchi bietet G-Adventures im Rahmen des Programms „Local Living“ an. Preis ab 539 Euro. (gadventures.com) Das Arrangement beinhaltet je eine Übernachtung bei An- und Abreise in Quito, Hin- und Rückfahrt nach Tena per Linienbus und vier Nächte/viereinhalb Tage mit Vollpension und Programm auf der Finca.
Solecu Tours gilt als Ecuador-Spezialist und veranstaltet Gruppenreisen mit individuellen Bausteinen, zum Beispiel Trips nach Galápagos. Eine Rundreise zu den Höhepunkten Ecuadors dauert 19 Tage und kostet ab 3390 Euro. Genaue Routen unter solecu.de
REISEFÜHRER
Nützlich: „Lonely Planet Reiseführer Ecuador & Galápagosinseln“, 24,99 Euro
Mit 180 Fotos: „Reise durch Ecuador und Galapagos“, Stürtz Verlag, 16,95 Euro
Für die gute Verständigung mit den Einheimischen: „KulturSchock Ecuador“, Verlag ReiseKnow-How, 14,90 Euro
Tom Noga
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