Wien: Boulevard fürs Imperiale
Rund fünf Kilometer muss der Spaziergänger zurücklegen, möchte er sie komplett abschreiten. Die Wiener Ringstraße wird 150 Jahre – und ist beliebt wie eh und je.
„Am Ring wird man vor Schönheit trunken, am Gürtel vom Schnaps. Am Ring macht man Sightseeing, am Gürtel Liebe, denn am Ring fädeln sich die Prunkbauten auf, am Gürtel die Prostituierten. Auch das beschreibt vortrefflich diese beiden Straßen, Ring und Gürtel, die eine in Stein gehauene Ewigkeit, die andere im hysterischen Fluss.“ Die Schriftstellerin Eva Menasse, eine gebürtige Wienerin, vergleicht die beiden Verkehrsachsen ihrer Heimatstadt aus aktuellem Anlass: Die Ringstraße wird 150 Jahre alt.
Die Autorin meint, dass der Ring gut für Bildbände sei, die Wiener Gürtel Straße dagegen für Sozialreportagen. Deshalb soll hier auch nur vom Geburtstagskind die Rede sein. Außerdem gibt es wohl kaum eine Magistrale in den Metropolen der Welt, an der so viele Sehenswürdigkeiten gleichsam Spalier stehen.
Als Kaiser Franz Joseph am 20. Dezember 1857 den Erlass erteilt, die alten Befestigungsanlagen zu schleifen, wird damit nicht nur das Signal für ein Städtebauprojekt monumentalen Zuschnitts gegeben. Auch in sozialpolitischer Hinsicht definiert die Anlage der neuen Straße eine Zeitenwende. „Die Ringstraße beschreibt die Erweiterung der Gesellschaft um das Bürgertum“, schreibt die Autorin Marlene Streeruwitz. „In der Innenstadt der Kaiser, die Kirche und die Aristokratie. Auf der Ringstraße die neue Macht der Industrialisierung, der Banken und des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts“, die in den legendären Ringstraßen-Palais’ zu Hause war.
"Am Ring zu wohnen, das wäre das Größte"
Rund fünf Kilometer muss der Spaziergänger zurücklegen, möchte er den kompletten Ring abschreiten. „Wir Wiener haben ganz bestimmte Abschnitte, auf denen wir flanieren“, erklärt Stadtführerin Beatrice Aumayr. „Am Ring zu wohnen, das wäre das Größte.“ Auch wenn er eine stark befahrene Verkehrsader ist, so bleibt bei einer Breite von 57 Metern auf den Bürgersteigen und in der Straßenmitte doch genug Platz, um unter Bäumen zu spazieren, Rad zu fahren oder sich im Fiaker kutschieren zu lassen.
Hier ist genug Platz für alle Verkehrsteilnehmer. „Die Ringstraße ist die demokratischste Straße Wiens“, behauptet der russische Schriftsteller und Wien-Kenner Wladimir Sorokin. „Das Imperiale bleibt an den Rändern des Boulevards“, während auf dem Gehweg Zigarettenstummel und Schnapsflaschen lägen.
Einen besonders beeindruckenden Blick für die Bedeutung und Schönheit der Ringstraße gewinnt man vom Volksgarten aus. Betört vom Duft tausender Rosen rund um den Theseustempel kann man sich im Türme- und Kuppeln-Raten messen. Die Hofburg sowie das Kunst- und das Naturhistorische Museum auf der einen, Burgtheater, Rathaus und dahinter die Votivkirche auf der anderen Seite – allesamt Bauten, die im Zuge der Anlage der Ringstraße errichtet worden sind.
Die Ringstraße ist reich an Geschichten
An der Prachtstraße begegnen sich nach wie vor Politik, Kirche und Kultur in enger Nachbarschaft. Nur die Monarchie ist natürlich längst Geschichte. Meckerten seinerzeit die Kritiker über das historistische Stilempfinden der Architekten, denen außer Neogotik, -renaissance und -barock nichts einfiel, so kann man sich heute an den detailreich gestalteten Fassaden kaum sattsehen. Zwar sind in viele der einstigen Wohnpaläste Hotels, Büros und Geschäfte eingezogen, doch ihr architektonisches Gesicht konnte sich die Ringstraße zum Glück erhalten.
Im 1873 zur Weltausstellung eröffneten Hotel Imperial seien die Rolling Stones Stammgäste, weiß Beatrice Aumayr. „Was schon dazu geführt hat, dass George W. Bush umquartiert werden musste – in ein Hotel gegenüber der irakischen Botschaft.“
Die Ringstraße ist reich an Geschichte und Geschichten. Das lag auch an den 27 Kaffeehäusern, die die Straße früher säumten. Nur drei Cafés haben überlebt, etwa das Prückel gegenüber vom Stadtpark, der ältesten öffentlichen Grünanlage Wiens. Mit seiner Einrichtung aus den 50er-Jahren passt der beliebte Treffpunkt bestens zum Vis-à-vis, dem Museum für angewandte Kunst. „Aber die letzten Kaffeehäuser werden überleben, dafür werden wir Wiener sorgen“, gibt sich Stadtführerin Aumayr optimistisch, auch wenn man heute gelegentlich das Gläschen Wasser zum Kaffee bezahlen müsse. „Schließlich gehören sie doch zum Weltkulturerbe – wie übrigens auch die Ringstraße.“
Flanieren, wie es Wladimir Sorokin empfiehlt
Ein paar Schritte vom Café Prückel entfernt findet man ein Stadtmodell aus der Zeit, als die Stadt noch befestigt war. Gewaltige Bastionen und Mauern umschlossen die Altstadt. Die Mölker Bastei, an der die Häuser auf einer Rampe liegen, erinnert an diese Zeit. Auch das Museum Albertina im ehemaligen Palais Tarouca lässt aufgrund seiner erhöhten Lage Gedanken an eine Bastei, die es tatsächlich früher dort gab, aufkommen. Wo es einst zu den Verteidigungsanlagen hinauf ging, führen heute Rampen zum tempelähnlichen Parlament empor – wo seitdem mit Worten gestritten wird.
Als vor 150 Jahren, am 1. Mai 1865, die offizielle Eröffnung der Ringstraße gefeiert wurde, war tatsächlich erst ein Abschnitt fertiggestellt. Aber dass öffentliche und private Bauten sich abwechselten, machte von vornherein den speziellen Charakter der Anlage aus und begründete die bis heute erhalten gebliebene Vitalität des berühmten Boulevards, der übrigens von Beginn an nach Landschaftsprinzipien gestaltet wurde – mit Baumreihen und einer Spazier- und Reitallee. Dass zudem gleich vier Parks an der Ringstraße liegen, macht ihren Aufenthaltswert noch attraktiver.
Wer dem Charakter der Straße nachspüren möchte, folgt am besten den Vorschlägen des Schriftstellers Wladimir Sorokin: Smartphone und Stadtplan im Hotel lassen und „sich gemächlich fortbewegen, wenn möglich Hand in Hand mit einem nahestehenden Menschen“. Wer aufmerksam flaniert, wird auf Höhe des Kunsthistorischen Museums eine alte Waage entdecken, die für 20 Cent das Gewicht verrät. Ob das womöglich mit den traditionsreichen Würstelständen am Ring zusammenhängt?
Ulrich Traub