Literatur aus Russland: Wodka aus dem Fingerhut
Vladimir Sorokins Roman „Der Schneesturm“.
Bedeutendster zeitgenössischer Schriftstellers Russlands, Kultautor, Anti-Utopist – das sind die gängigen Bezeichnungen für den 1955 geborenen Moskauer Autor Vladimir Sorokin. Seine Spezialität: skurrile Mischungen aus surrealen Zukunftsvisionen und mittelalterlicher Fantastik, brutalen Dystopien und Märchenhaftem. Roh und ungehobelt geht es bei Sorokin zu, die Figuren sind ordinär, die Sprache derb, es wird gesoffen, gefickt, gefoltert. Sein neuer Roman „Der Schneesturm“ erzählt von dem Landarzt Garin, der in den Ort Dolgoje reisen muss, um die Menschen gegen eine Epidemie zu impfen. Ein Brotkutscher geleitet ihn mit einem Schneemobil durch die russischen Weiten, über denen ein ewiger Schneesturm tobt.
Wie ein russisches Märchen beginnt der Roman. Aber Sorokin wäre nicht Sorokin, wenn das so bliebe. Die Krankheit macht die Menschen in Dolgoje zu Zombies, das Schneemobil wird von 50 Mini-Pferden gezogen. Die Reise wird für den Doktor und seinen Kutscher zum Sisyphos-Trip, bei dem viel Seltsames passiert und das Ziel in weite Ferne rückt. Der Müller, bei dem sie über Nacht einkehren, ist ein kleinwüchsiger Griesgram – ungefähr so groß wie eine Gewürzgurke. Seinen Wodka trinkt er aus einem Fingerhut. Die Müllersfrau wird vom Doktor mal eben flachgelegt, ansonsten spielen Frauen keine Rolle. Eine Kufe des Schneemobils bricht, als es über einen pyramidenförmigen Gegenstand rumpelt. Dieser entpuppt sich als Wunderdroge der sogenannten Dopaminierer, die dem Landarzt ein halluzinatorisches Nahtoderlebnis verschafft.
Sorokin wird seinem Ruf als Sprachkünstler einmal mehr gerecht: Er changiert fließend zwischen archaisch und modern, Dialekt und Umgangssprache sowie Fantasiewörtersprengseln. Andreas Tretner, langjähriger Sorokin-Übersetzer, hat diesen Stilmix souverän ins Deutsche übertragen. Ungewöhnlich für Sorokin ist das Leise, Zarte, gar Poetische. Weniger Porno, weniger Gewalt – und mehr Anleihen bei den alten russischen Meistern: Sowohl Puschkin als auch Tolstoi haben sich in Erzählungen dem Phänomen Schneesturm gewidmet; und auch das Volkstümliche eines Leskow, das Gesellschaftskritische eines Tschechow findet sich in diesem „Schneesturm“. Denn der Verlust jeglicher Orientierung, das Im-Kreise-Gehen in den tosenden Flocken ist auch ein Spiegel der Verhältnisse eines Landes, in dem Regimekritiker weggesperrt und UN-Vorhaben blockiert werden. Im Roman kommen am Ende die Chinesen.
Vladimir Sorokin: Der Schneesturm. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 206 Seiten, 17,99 €.
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