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Heile Bergwelt. Im Osttiroler Villgratental wird scheinbare Rückständigkeit als hohes Gut betrachtet.
© Clemens Zahn/laif

Tirol: Bei Starrköpfen und Schlitzkrapfen

Osttirol kokettiert mit seiner Abgeschiedenheit. „Kommen Sie zu uns, wir haben nichts“, lautet der Tourismusslogan. Natürlich stimmt das nicht.

Die Wartenden am Lift halten den Atem an: Ein Sarg gondelt ins Tal. Angekettet an der Unterseite der roten Kabine schaukelt eine dunkle Holzkiste. Die Frau neben dem Liftwart zuppelt nervös an ihrer weißen Schürze, ihr Mann knautscht ergriffen seinen Tiroler Hut zusammen: „Ach, der Milchmesser“, seufzt er. „Nun gibt’s keinen mehr, der kommt, um Milch abzuwiegen. Machen alles die Maschinen.“ Die Alten nicken traurig, die Jungen tippen teilnahmslos auf ihren Smartphones herum. Der Priester segnet den Sarg noch am Lift und führt die Trauernden von der dortigen Kapelle des heiligen Nepomuk in die Dorfkirche Oberleibnig.

„Servus, Dietmar!“ Ein kleiner Mann kommt auf einem großen gelben Rad angeflitzt, trägt als Einziger keine Tracht, sondern die gelb-schwarze Postuniform. Die Trauergesellschaft winkt ihm zu; und der Briefträger grüßt in die Runde, schließlich kennt er jeden in seinem Beritt: den kauzigen Gemeinderat, die durchgeknallte Verkäuferin, den stillen Schnitzer. Auch den laxen Taugenichts, der nie ganz nüchtern, doch selten wirklich besoffen ist und mit einer Gelassenheit weiß, dass der Schnaps, wie sein Haushund, immer wie von selbst zu ihm findet.

Das wird wohl das letzte Mal gewesen sein, dass ein Verstorbener mit der Gondel geholt werden muss, denn inzwischen sind auch die abgelegensten Gehöfte im Iseltal bei Lienz mit dem Auto zu erreichen. Nur ein paar kauzige Alte wie der Milchmesser hatten sich geweigert, eine Straße zu ihrem Anwesen bauen zu lassen. Die Posttouren, die bis 1500 Meter hinaufführen, fährt Dietmar Stichauner mit dem VW-Postwagen, denn er stellt auch Bücherpakete, Garderoben und Bettteile zu. Und am Zahltag legt er die Rente bar auf den Tisch, denn die betagten Bauern sehen nicht ein, dass sie auf ihre alten Tage noch ein Konto eröffnen sollen.

"Uns trennen Welten"

Der 50-jährige Postbote ist „so ein ganzer Netter“. Darauf legt er auch Wert, denn immerhin hat er den Anspruch, den Ruf der Post etwas aufzupolieren. Schließlich hält sich hartnäckig die Geschichte eines längst suspendierten Briefträgers aus der Gegend, der angesichts der Berge an Briefen und Paketen durchdrehte und seine Ladung bei sich zu Hause hortete, anstatt sie an den Mann und die Frau zu bringen.

Der Dietmar: Auch wenn er nun schon 30 Jahre in Osttirol lebt, bleibt er ein Fremder.
Der Dietmar: Auch wenn er nun schon 30 Jahre in Osttirol lebt, bleibt er ein Fremder.
© Clemens Zahn/laif

So sehr die Menschen hier Dietmar auch mögen, er bleibt in ihren Augen ein Fremder. Er stammt aus Kärnten, ist also ein Zugezogener, auch wenn er nun schon 30 Jahre in Osttirol lebt. Der schmächtige, schüchterne Mann mit den braunen Locken kam einst der Liebe wegen nach Lienz. Doch die holde Schöne verschwand schon bald über alle Berge, die Mentalität der beiden war wohl zu unterschiedlich. „Ach, mit den Weibischen hat’s nur Ärger“, ist sein Resümee. Ihn plagt das Dilemma eines wortkargen, in sich gekehrten Mannes.

„Uns trennen Welten“, so seine Erfahrung, „die Kärntner sind eher ruhige, etwas melancholische Zeitgenossen, die Osttiroler dagegen laut, eigenbrötlerisch und starrköpfig. Ich spüre schon am Händedruck, woher jemand kommt: Ein Bauer aus den Lienzer Dolomiten drückt zum Gruß so fest zu, dass ich Angst habe, er könne mir die Knochen brechen! Und wenn diese Männer lachen, gleicht das einem Donnergrollen, das in Wien jeden Tisch zum Wackeln bringen kann.“

Nun ja, Osttirol ist halt eine sonderbare Enklave: Eingebettet in einem Kranz von Zwei- und Dreitausendern, gelegen zwischen Südtirol, Salzburg und Kärnten, ist das kleine Land auf der Sonnenseite der Alpen seit jeher eine abgeschiedene Region gewesen. Erst durch die Eröffnung der Großglockner Hochalpenstraße und der Felbertauernstraße im vergangenen Jahrhundert wurde die Gegend, in der immerhin rund 50 000 Einwohner leben, besser erreichbar.

Das Kraftwerk ist tot

Heile Bergwelt. Im Osttiroler Villgratental wird scheinbare Rückständigkeit als hohes Gut betrachtet.
Heile Bergwelt. Im Osttiroler Villgratental wird scheinbare Rückständigkeit als hohes Gut betrachtet.
© Clemens Zahn/laif

Die meisten der Alten lieben nach wie vor ihr zurückgezogenes Dasein. So wie Notburga, die 80-Jährige, die in Sankt Johann im Walde in einem 400 Jahre alten Holzhaus mit Donnerbalken wohnt. Ein Plumpsklo hinter der Kate, das finden ihre Enkel ziemlich cool. Notburga hat neun Kinder großgezogen, ihren Mann um Jahrzehnte überlebt und sitzt nun allein an ihrem Küchentisch, bestickt Kissen und wartet bei Kaffee und Schlipfkrapfen täglich auf den Postboten.

Dietmar hat zwar selten Briefe für sie, doch statt der Post bringt er die Neuigkeiten aus dem Tal. Dann diskutieren die beiden, schimpften lange über den Bau des geplanten Kraftwerks, das die Natur ringsum kaputt gemacht und aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Der hartnäckige Widerstand der Osttiroler jedoch führte schließlich zum Scheitern dieses Projektes.

Nun, das Kraftwerk ist tot – doch es leben die „Villgrater Kraftwerke“! Die haben Osttirol, besonders dem Villgratental, zu einem gewissen Aufschwung verholfen. Die „Kraftwerke“ sind ein Zusammenschluss von Manufakturen, um Erfahrungen von Generationen weiterzugeben und dabei auch Neues zu schaffen: In den Außervillgraten, in einem Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert, kocht der Gourmet Josef Leiter mit seinem Sohn nach uralten Rezepten.

In der Schmiede Steidl werden urige Schlösser, Ballonlampen und Kamine hergestellt, im Villgrater Bekleidungsladen kann man bunte Filzjacken und feinste Leinenhosen kaufen, der Besenmacher hat Treppenbürsten und Gassenfeger erfunden und im „Gannerhof“ lehrt Haubenkoch Alois Mühlmann die Gäste Mehl zu mahlen, Wurst einzukochen und lässt sie in Holzkastenbetten schlafen, in denen man zur guten Nacht den Vorhang zuzieht.

Abseits des Massentourismus

Der Schäfer Josef Schett ist Initiator dieser naturnahen Bewegung und hat mit seinem Laden ein Kleinstunternehmen geschaffen, in dem er selbst produzierte Zirbenholzschüsseln, weiche Bettwaren aus Schafwolle und flauschige Hüttenschuhe anbietet. „Wir haben erreicht, dass junge Menschen nicht mehr abwandern, sondern es uns nachmachen, bäuerlichen Produkten ein neues Image zu geben und altes Handwerk neu zu vermarkten“, sagt Schett.

Bäuerin Bachmann in ihrer Küche
Bäuerin Bachmann in ihrer Küche
© Clemens Zahn/laif

Auch das „Vitalpinum“ hat sich dem Bund angeschlossen. In der Anlage werden Kräuter, vor allem destilliertes Latschenkiefernöl, zu Badezusätzen und Lotion verarbeitet. Und es wird Murmeltiercreme hergestellt. Die Leute hier schwören darauf, denn das im Tierfett enthaltene natürliche Cortison lindere Gelenk- und Muskelbeschwerden.

Die Osttiroler sind sich des Wertes ihrer Randständigkeit bewusst, meint Schett. „Die Region kokettiert inzwischen damit. Den Slogan vom Tourismusbüro – ,Kommen Sie zu uns, wir haben nichts‘ – finde ich ziemlich gut. Denn, was fehlt eigentlich? Es gibt bei uns keine Bettenburgen, weder Verkehrschaos noch überteuerte Preise. Abseits des Massentourismus haben wir das Ursprüngliche bewahrt, es war wohl die lange Isolation, die so manche Fehler vermeiden half, wie sie eben in anderen Teilen Österreichs gemacht wurden.“

Das grandiose Bergpanorama zieht nicht nur Naturliebhaber, Wanderer und Skiläufer, sondern auch Filmemacher an. Der französische Regisseur Jean-Jacques Annaud schwärmte nach seinen Dreharbeiten zu „Der Bär“ und „Sieben Jahre in Tibet“ von Osttirol, es habe „die Tüchtigkeit Deutschlands, die Schönheit der Schweiz und den Charme Italiens“.

Das alles bietet auch Lienz, die größte Stadt der Region. Ein bisschen Dolce Vita, eine zünftige Kneipenszene, gewiss, auch ein Kino gibt es – und eine kleine, feine Ladenstraße mit dem Plakat: „Wir Osttiroler gehen einkaufen, nicht shoppen.“

Birgit Weidt

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