Holocaust-Gedenktag: Wir müssen auch homosexuelle NS-Opfer endlich ehren
Obwohl Homosexuelle nicht ausdrücklich für die „Vernichtung“ im Gas vorgesehen waren, kamen viele im Lager um. Im Gedenken werden sie häufig vernachlässigt. Ein Gastbeitrag.
Als ich im Juli 1989 als junger Lehrer das erste Mal die KZ-Gedenkstätte Auschwitz besuchte, erklärte der dortige Direktor auf Anfrage: „Nein, hier gibt es nichts über die Gefangenen, die wegen Paragraph 175 hierher kamen, weder in der Ausstellung noch im Archiv.“
Einer, der das damals mit hörte, war der 77-jährige Karl Gorath, der 1939 mit 26 Jahren wegen „homosexueller Vergehen“ verhaftet und verurteilt wurde, später ins KZ Neuengamme kam und von dort aus 1943 nach Auschwitz. Er hatte uns davon berichtet, wie es ihm gelungen war, den für homosexuelle Häftlinge vorgesehenen rosa Winkel von der Jacke abzureißen und mit dem roten der politischen Gefangenen zu vertauschen. „Das hat mir das Leben gerettet!“, hat er gesagt.
Immerhin erhielten wir, eine damals eher ungewöhnliche Reisegruppe aus rund 20 schwulen Männern, die Erlaubnis, unter Aufsicht im Archiv auf Spurensuche zu gehen. Und tatsächlich fanden wir nicht nur Karl Goraths Karteikarte mit Fotos, sondern auch die von 49 weiteren Gefangenen, die wegen des Paragrafen 175 hier waren. Wer waren sie? Der 23-jährige Angestellte Erwin Schimitzek zum Beispiel oder der 60-jährige Schuhmacher Alfred Fischer?
Gedenkkranz für "homosexuelle Brüder" weggeräumt
Was bei allen 49 Karten auffiel: Obwohl Homosexuelle nicht ausdrücklich für die „Vernichtung“ im Gas vorgesehen waren, kamen die meisten schon noch kurzer Zeit im Lager um: der junge Erwin Schimitzek überlebte fünf Monate, Alfred Fischer nur 29 Tage.
Am letzten Morgen unseres Aufenthalts legten wir an der „Todesmauer“ neben Kränzen anderer Besucher unsere Blumen nieder, an die wir eine Schleife mit einer Aufschrift auf Deutsch und Polnisch gebunden haben: „Für unsere homosexuellen Brüder.“ Als wir kurz vor der Abreise dort noch einmal vorbeischauten, hatte jemand unsere Blumen mit der Schleife bereits in einen der nahen Müllcontainer geworfen.
Sieben Jahre später wurde der Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland erklärt. Im Bundestag findet alljährlich eine Gedenkstunde mit prominenten Rednern statt, unter ihnen alle amtierenden Bundespräsidenten, aber auch bekannte Holocaust-Überlebende wie Elie Wiesel, Jorge Semprún, Inge Deutschkron oder Ruth Klüger. 2018 wird die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch sprechen, sie ist neben Esther Bejarano eine der letzten Überlebenden des sogenannten „Mädchen-Orchesters“ in Auschwitz.
Wann wird der homosexuellen Opfer gedacht?
Bereits am ersten Gedenktag 1996 sprach der damalige Bundespräsident Roman Herzog von den jüdischen Opfern der NS-Barbarei – und auch von jenen Opfergruppen, die bis dahin meist noch nicht anerkannt waren: „Weil sie... vom willkürlich festgelegten Menschenbild abwichen, bezeichnete man sie als ,Untermenschen’, ,Schädlinge’ oder ,lebensunwertes Leben’ – Juden, Sinti und Roma, Schwerstbehinderte, Homosexuelle... Die Wirkungen dieser Politik waren vor allem deshalb so furchtbar, weil sie sich wohldosiert in das öffentliche Bewusstsein einschlichen, ja... den Gehirnen infiltriert wurden.“ Der Paragraf 175 in der von den Nazis verschärften Form war erst 1994 abgeschafft worden.
Genau deshalb war es von großer Bedeutung, als 2011 im Bundestag erstmals mit dem Niederländer Zoni Weisz ein Vertreter der Roma und Sinti zu Wort kam, 2016 an die Leiden der Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter erinnert wurde und 2017 sowohl zwei Angehörige von durch Euthanasie Ermordeter als auch der junge, mit Down Syndrom lebende Schauspieler Sebastian Urbanski zu hören waren. Wann wird auch einmal der homosexuellen Opfer gedacht werden?
Was eine Petition an das Bundestagspräsidium fordert
Am 15. Januar 2018 forderten 84 Fachleuten, darunter die Holocaust-Überlebenden Rozette Kats, Esther Bejarano und Ruth Weiss, in einer Petition an das Bundestagspräsidium, am Gedenktag 2019 an die Leiden sexueller Minderheiten zu erinnern. Die heute 93-jährige Esther Bejarano sagte als Mitunterzeichnerin der Petition: „Menschlichkeit ist unteilbar. Die Forderung ‚Nie wieder!‘ gilt auch für die Homosexuellen.“
Im Juli 2016 reiste ich erneut nach Auschwitz, um zu sehen, ob sich in mehr als einem Vierteljahrhundert etwas geändert hat. Während der Führung wurde deutlich, dass es noch immer nur die eine historische Tafel zur Erklärung der Winkelfarben gibt, und sonst so gut wie nichts bekannt ist. Das sei nur eine kleine Gruppe gewesen, erklärte der Leiter der Forschungsabteilung der Gedenkstätte: 77 Personen, ausschließlich Deutsche, und zudem sei es im heutigen Polen noch immer nicht leicht, mit Jugendlichen über Sexualität zu sprechen.
Schicksale lesbischer Frauen kaum bekannt
Inzwischen sind mit 131 fast doppelt so viele Häftlinge nachgewiesen, darunter auch Polen, und wer weiß, wie viele gar nicht mehr recherchierbar sind. Kaum etwas weiß man auch über die Schicksale lesbischer Frauen. Nicht zuletzt, weil sie unter anderen Vorzeichen hierher kamen und viele Forschungen sich noch immer allein an den Verfolgungsdefinitionen der Nazis orientieren. Aber was ist über Zahlen hinaus bedeutsam, um eine Achtung gegenüber allen ehemals Verfolgten zu verwirklichen?
Trotz der gegenwärtig rechtsnationalen Regierung in Polen und einer langen katholischen Tradition der Verurteilung sexueller Minderheiten gibt es auch anderes: Im März 2017 nahm der Vize-Direktor der Gedenkstätte Auschwitz, Andrzej Kacorzyk, mein Angebot einer Fortbildung für seine Guides an. Am 3. Oktober 2017 kamen zu der freiwilligen Fortbildung nach Feierabend mehr als 50 Frauen und Männer in den Seminarraum der Gedenkstätte, die den Workshop gespannt verfolgten. Für alle war neu, dass es ab 1939 nicht nur Deutsche waren, die nach Paragraph 175 verurteilt wurden. Unbekannt war vielen auch, dass mehr als 70 Prozent dieser Häftlinge nach wenigen Monaten an den schlimmen Lagerbedingungen starben, nicht zuletzt, weil sie auch von vielen Mitgefangenen als „minderwertig“ behandelt wurden.
Es muss über das Thema gesprochen werden
Der Pole Stefan K. Kosinski wurde 1942 verhaftet, gefoltert und nach Paragraph 175 verurteilt. Da war er 17. Er überlebte die Zeit in verschiedenen Lagern nur knapp. Ich habe ihn in den 1980er Jahren kennen gelernt und mit ihm seine Jugenderinnerungen als Buch herausgebracht. Es erschien zuerst auf deutsch und unter der Abkürzung Stefan T., weil er nicht erneut angefeindet werden wollte.
Als sein Buch 1995 in New York erschien, ging er auf Lesereise in die USA, wo er im Holocaust Museum und von der Steven Spielberg Foundation interviewt wurde. Ein Verlag in Polen ließ sich bis zu seinem Tod 2003 nicht finden. Erst durch das Engagement der Warschauer Historikerin Joanna Ostrowska gelingt 2017 eine polnische Ausgabe seines Buches – mit vollem Namen. Im Geleitwort von „Verdammt starke Liebe“ schreibt Polens einzig offen schwuler Bürgermeister Robert Biedron: „Dieses Buch ist heute besonders wichtig, sowohl in Europa wie in Polen, weil es zeigt, wie nötig Toleranz und Achtung anderen gegenüber sind.“
Inzwischen haben alle großen Zeitungen Polens das Buch überwiegend positiv besprochen, und ein Theaterstück ist in Vorbereitung. Auch das ist Polen heute. Wichtig war, das über sein Thema gesprochen wurde, das darüber auch weiter gesprochen wird. In Polen wie in Deutschland.
Lutz van Dijk ist deutsch-niederländischer Historiker, ehemaliger Mitarbeiter des Anne Frank Hauses in Amsterdam und Initiator der Bundestagspetition. Das Buch „Verdammt starke Liebe“ erschien im Querverlag Berlin 2015.
Mehr LGBTI-Themen finden Sie auf dem Queerspiegel, dem queeren Blog des Tagesspiegels.
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