Nachtleben in Berlin: Wie ich als Hetero-Mann zur Dragqueen wurde
Unser Autor, ein weißer hetero Mann, geht als Dragqueen in Berlin feiern. Erstmals in seinem Leben wird er diskriminiert – fühlt sich aber auch frei.
Auf der Bühne steht die Hitze, die Menschen tanzen. Unter meinen sechs Strumpfhosen bricht der Schweiß aus, mein Gesicht beginnt zu glühen. Vorsichtig befühle ich die Wangen. Verläuft das Make-up? Weit gefehlt. Tatsächlich, wie online im Tutorial von der berühmten Berliner Dragqueen Jurassica Parka angekündigt, schwitze ich „an meinem Gesicht vorbei“ – zwei Lagen Haarspray über der Schminke, unzählige Puder-, Foundation- und Farbschichten verhindern jede Art von natürlichem Verhalten meiner Haut. Keinerlei Atmung, keinerlei Transpiration.
Wir sind vier Ladies. Zwei von uns sind am Morgen als Männer aufgewacht und werden auch als solche später erledigt ins Bett fallen. Eine der beiden bin ich. 27, hetero, absolut normativ, cis. Im „Musik und Frieden“ tanze ich mich auf der „Irrenhouse“-Party durch meine erste Nacht als Dragqueen. „Tanzen“ trägt allerdings hier angesichts der ungewohnten zehn Zentimeter hohen High-Heels eine eigene Definition.
Die Hitze scheucht uns nach ein paar Tracks und einer Handvoll aufgesetzter Flirts mit Mann und Frau von der Bühne. Da tanzt mich ein verschwitzter, bärtiger Amerikaner an. Wie lieb und toll für mein Ego! Vor allem aber bedeutet es noch mehr Hitze. Und mehr Schweiß. Zu meiner Freude umarmt er mich auch noch und brüllt mir im Wettstreit mit der gleich hinter ihm stehenden Box ins Ohr: „I really appreciate your art.“ Zu Deutsch: Ich schätze deine Kunst wirklich. Kunst!? Mit einem Schlag wird mir bewusst, wie sehr sich meine Außen- von meiner Eigenwahrnehmung unterscheidet, dass ich hier zwar eigene Grenzen überwinde, für andere aber nur eine Figur bin.
Wo könnte man Drag besser ausprobieren als in Berlin?
Der Abend beginnt Wochen vorher mit der Idee. Sie kommt von Christopher, meinem schwulen Mitbewohner, der später als Diana Röh an meiner Seite stöckeln wird. Ich bin nur für zwei Monate in Berlin, und wir meinen beide, dass die Zeit gut genutzt werden muss. Wo sonst in Deutschland oder gar in Europa könnten wir Drag so gut ausprobieren, wie hier in Berlin?
Ich lasse mich mitreißen, auch weil ich schon immer danach dränge, über meine Schatten zu springen und Neues auszuprobieren. Als ich ein paar Tage später nach Antworten zu dem ganzen Abend suche, erzählt mir Jurassica Parka am Telefon, dass jede Dragqueen ihre eigenen Gründe hat: „Ich habe mich beispielsweise auch schon als kleiner Junge als Frau verkleidet. Mittlerweile geht es mir vor allem darum, die Gesellschaft mit meinem Geschlechterwechsel ein bisschen zu verunsichern. Das macht Freude“, sagt sie.
Euphorisch beginnen Christopher und ich unser Projekt. Schnell wird uns aber klar, dass Drag, gerade beim ersten Mal, vor allem viel Zeit bedeutet: Wir finden unsere Namen, streifen durch Afro Shops in Mitte und Neukölln auf der Suche nach der richtigen Perücke, kaufen Schaumstoff, für die weiblichen Rundungen, und verbringen gefühlte Stunden vor den Kosmetikregalen der Drogeriegeschäfte.
Zusätzlich brauchen wir Strumpfhosen, einen Klebestift für unsere Augenbrauen (ja, wirklich!), Klamotten und natürlich Schuhe. Die und ein viel zu knappes Kleid leihe ich mir bei meiner Freundin. Mein Mitbewohner kauft sein Zeug im Netz oder in der Stadt. Unsere Ausgaben liegen letztlich zwischen 100 und 200 Euro pro Person.
Der Spaß kostet Zeit und Geld
Am Abend selber das Gleiche: Zeitaufwand. Gegen 16 Uhr beginnen wir mit Schminken und Schaumstoffschnitzen. Letzteres hilft meiner äußerst schmächtig gewachsenen Hüfte, stereotype und völlig überzogene Weiblichkeit zu simulieren. Für jede Art der Gesichtsbemalung bin ich selber absolut unbrauchbar, weshalb mein Mitbewohner uns beide schminkt.
Fast zwei Wochen lang hat er sich in jeder freien Minute durch die Videoanleitungen berühmter Drags geglotzt. Für die fantastischen Ergebnisse auf unseren Gesichtern steht er fast acht Stunden vor dem Badezimmerspiegel. Über fünf Stunden lang für sein Gesicht, zweieinhalb Stunden für meins. Da war er schon in Übung.
Neben anderen Produkten, von denen ich bis zu diesem Abend keinen Schimmer hatte, kommt da auch der Klebestift zum Einsatz. Mit ihm betten wir die Härchen der Augenbrauen in eine glatte Schicht aus weißer Masse. Unter den unzähligen Puder und Make-up-Schichten verschwinden sie dann und können deutlich höher wieder neu aufgemalt werden. Leider hält der Kleber nicht gleich bei mir, sodass wir mit Nagellack nachbessern. Das klappt gut.
Ich betrachte mich, samt all dieser Chemikalien im Gesicht, etwas verwirrt im Spiegel. Dann nur noch die Hinternerweiterung unter den Strumpfhosen an die richtige Stelle rücken, Body und Kleid drüber, künstliche Nägel aufkleben, falsche Brüste ausstopfen und Perücke auf den Kopf.
Kunst, die die Wahrnehmung verwirrt
Wieder vor dem Spiegel versuche ich zu verstehen, wer da so neckisch mit den langen Wimpern klimpert. Meine auf weibliche Reize gepolten Triebe schlagen an. Meine Vernunft beharrt zunächst stoisch auf dem Wissen, dass das ja ich bin, kapituliert aber angesichts der Erkenntnis, dass ich mich als Frau wohl ganz süß finde. Das wiederum löst enormes Befremden aus. Im Nachhinein muss ich sagen: Selten hat irgendeine Art von Kunst meine Wahrnehmung so stark verwirrt.
„Drag kombiniert die unterschiedlichsten Kunstformen – Malerei beim Make-up, Mode, oft auch Tanz, Gesang und Performance – und ist dadurch für viele ein Ausdruck künstlerischer Freiheit“, erklärt mir später die junge Dragqueen Victoria Bacon. Den meisten gehe es darum, sich selbst und die eigene Kreativität auszuleben, sich frei zu fühlen. Deshalb passe auch der in Deutschland verbreitete Stempel nicht, dass Drag nur als Frauen verkleidete schwule Männer sind – mit viel Haar, starker, bunter Schminke, kurzem Glitzer-Fummel und hohen Schuhen.
„Es geht nicht nur darum, eine Frau oder einen Mann darzustellen, sondern manchmal sind es auch Mysterie oder Sci-Fi-Wesen“, meint Bacon. Und: Drag sei nicht nur etwas für homosexuelle Männer. „Frauen sind als Drag-Kings unterwegs, und trans Personen wie auch eine riesige non-binary-Szene partizipieren in der Kunst des Drags.“ Non-binary, das heißt, dass man Menschen nicht nur den Kategorien Frau und Mann zuordnet. Auch hetero Drags wie mich gebe es natürlich, persönlich kennt Victoria Bacon aber keine, Jurassica Parka zumindest eine. Sie schätzt, dass bei Drag-Queens auf hundert homosexuelle Männer vermutlich ein heterosexueller kommt. Die Szene akzeptiere sie genauso, sind sich beide einig.
Um mich selber an mich zu gewöhnen, brauche ich ein paar Momente im Antlitz meines Spiegelbilds. Nach ein paar geknipsten Fotos und geschlürften Sektchen verlassen wir schließlich nachts gegen halb zwei die Wohnung.
Der heißeste Catwalk Kreuzbergs
Kreuzberg hat wohl nie einen heißeren Catwalk gesehen, als jenen, den wir bis zur „Roses“ Bar über das Kopfsteinpflaster mit wackelnden Beinchen hinlegen. Anders kann ich mir nicht erklären, warum diese Gruppe junger Männer uns in den nächsten Kiosk folgt, nachdem sie uns auf der anderen Straßenseite erspäht hat. Als Hetero ist mir das nie passiert.
Im „Roses“, einer queeren Bar an der Oranienstraße mit trashigem Plüsch-Charme, waren wir auch schon als Männer ein paar Mal. Wegen der ungezwungen lockeren Stimmung, den unschlagbaren Longdrink-Preisen, und weil sie bei uns um die Ecke liegt. Die Shot-Runde aufs Haus habe ich als Hetero übrigens auch nie genießen dürfen – genauso wie den freien Eintritt in den Club, während unsere Damenbegleitung, die ohne Penis, den vollen Preis bezahlen muss.
Dass ich dort als Hetero-Drag auf einmal Teil einer Minderheit bin, wird mir klar, als ich auf der Tanzfläche mit einem Mädchen knutsche. Diana berichtet mir später, dass einige der Umstehenden darauf sehr irritiert reagieren. Sie nehmen Abstand, werfen sich vielsagende Blicke zu. Und tatsächlich muss es merkwürdig wirken, wenn eine Drag, von der man annimmt, dass in ihr ein schwuler Mann steckt, eine Frau küsst.
Hinterhältige Anfeindungen gegen die vermeintliche Sexualität
Noch stärker wird mir meine Rolle aber klar, als wir nach dem Feiern in den nächsten Pizza Imbiss wackeln. Vor uns stehen zwei Jungs, die uns zunehmend demütigen. „Scheiß Schwule“, murmeln sie sich zu, drehen sich angewidert zu uns um. Ihr „eklig“ bezieht sich wohl auch nicht auf die Pizza – die übrigens eine Wohltat war. Es ist das erste Mal, dass ich in der Öffentlichkeit diese Art der Verurteilung erlebe, denn wer beleidigt schon in unserem Kulturkreis einen Hetero-Mann wegen seiner Sexualität?
Die Verurteilung findet auf zwei Ebenen statt: Sie sprechen mir, aufgrund meines Äußeren, eine falsche Sexualität zu. Und sie beleidigen sie, unabhängig davon, ob richtig oder falsch. Es geht sie aber schlicht nichts an. Das Hinterhältige der Anfeindung ist die Art, wie sie passiert.
Sie verhalten sich so passiv wie möglich. Niemand um uns herum bekommt etwas mit, doch sie sprechen gerade so laut, dass sie sicher sein können, von uns gehört zu werden. Eine Kontermöglichkeit bietet sich nicht, die Anfeindung setzt sich fest und treibt mich die folgenden Tage um. Ich hatte immer großes Verständnis für Menschen, die homo- und transfeindliche Diskriminierung anprangern. Richtig nachvollziehen lässt sie sich wohl erst, wenn man sie selbst erlebt hat.
Gegen sieben Uhr morgens stehe ich unter der Dusche, mit schmerzenden Füßen, aber froh um jede abgelegte Strumpfhose. Die Klumpen aus Farbe, Haarspray, Nagellack und Kleber, die ich mir vom Gesicht reibe, verstopfen den Abfluss. Rosie verschwindet wieder, und mir wird klar, dass Drag auch Auszeit von sich selbst bedeutet – die Freiheit, eine Figur zu kreieren, die sonst zurückgehaltene Charaktereigenschaften von mir in den Vordergrund rückt, die auf andere wirkt, wie ich es nicht kenne, die auch auf offener Straße beleidigt wird. Und die mich zu einem weltoffeneren Menschen macht.
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Rosie Badt
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