Neuer Roman von Antje Rávic Strubel: Verführung und Verwandlung
Gender ist ein Spektrum - Begehren auch: Antje Rávic Strubels eleganter Episodenroman „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ ist das bisher queerste Buch der Potsdamer Autorin.
René hat eine Schwäche für den Norden. Riesige Seen, unberührte Weite, tiefe Wälder. Das alles fasziniert die in Berlin lebende Journalistin, die in Neuruppin aufgewachsen ist. Auch ihre Erfinderin Antje Rávic Strubel hat eine Schwäche für den Norden. Genauer gesagt für Schweden, wo sie viel Zeit verbracht und große Teile ihrer letzten beiden Romane angesiedelt hat.
Dort beginnt auch ihr Episodenroman „In den Wäldern des menschlichen Herzens“. Der Schauplatz des Eröffnungskapitels ist ein Sommercamp in der Region Dalsland, wo René mit ihrer etwas älteren Geliebten Katja zum zweiten Mal Urlaub macht. Wie im Jahr zuvor schlafen sie in der ersten Nacht im Tipi miteinander. In Renés Erinnerung unterscheiden sich diese beiden Nächte „in nichts, abgesehen von kleinen Auslassungen, wie sie auftraten, wenn man an etwas zweimal dachte. Aber auch dann waren es immer noch Bilder, die man exakt übereinander legen konnte.“
Durch einen sanften Perspektivwechsel wird klar, dass Katja diese Nächte mit ganz anderen Bildern verbindet. Denn für sie hat sich schon das erste Mal wie ein Missverständnis angefühlt, bei dem sie jede Bewegung der anderen in ihrem Kopf umdeutete. Und weil sie keine weiteren Kopien dieser falschen Bilder mehr anfertigen will, redet sie endlich mit René. Sie spricht von fehlendem Spaß, aber es geht um mehr: ihr Körperbild, ihre Genderidentität. Strubel deutet das in dieser Episode nur an, um es erst ganz am Ende ihres so fein wie klug gewebten Erzählgeflechts zur Gewissheit werden zu lassen. Die Figur der Katja sorgt für die erzählerischen Rahmenpunkte der Geschichten. René hingegen taucht in dem folgenden Reigen immer wieder auf.
Die Dauerspannung mündet immer wieder in Sexszenen
Jedes Kapitel skizziert mehr oder weniger intime Zweier- oder Dreierkonstellationen anhand von schlaglichtartigen Schlüsselszenen, die abgesehen von zwei Ausnahmen alle außerhalb von Städten und jenseits der Wohnorte der Figuren spielen. Sie sind alle Fremde, Besucherinnen, bestenfalls saisonal Ansässige in Landschaften zwischen Kalifornien, Lappland und Hiddensee. Dass sie sich außerhalb ihres Alltags befinden, der genau wie ihre Vergangenheit nur nebensatzweise aufblitzt, erzeugt eine flirrende, leicht abenteuerliche Stimmung. Sie prägt das gesamte Buch und hält es in einer Dauerspannung, die immer wieder in Sexszenen mündet.
Dass diese keineswegs mit Genuss und Erfüllung gleichzusetzen sind, ist ab der Tipi-Nummer im ersten Kapitel klar. Vielmehr wird ein Spektrum körperlicher Begegnungen aufgefächert, das von einer Umarmung im Schlaf über einen Parkplatzquickie bis zu einer übergriffigen Situation am sommerlichen Seeufer reicht.
Antje Rávic Strubels Sprache ist dabei auf verführerische Weise lakonisch-unkitschig, etwa wenn sie die erste Nacht von René mit der Amerikanerin Emily beschreibt: „René fing ihre Hände ab. Sie hielt die Handgelenke fest, drückte sie gegen die Wand, und Emily hatte den fremden Körper in ganzer Länge auf ihrer nackten Haut. Die Schatten unter dem Kinn. Die pulsierende Ader am Hals. Der Blick wie aufgebrochen.“
Fluidität und Grenzüberschreitungen sind ein Leitthema
Emily stammt aus einer wohlhabenden kalifornischen Familie, der sie sich eines Tages abrupt entzieht. Weil sie niemandem sagt, was sie vorhat, stürzt sie auch ihre Kindheitsfreundin Faye in Verzweiflung. Beiläufig ergibt es sich anschließend in den elegant durch die Erzählzeitebenen pendelnden Episoden, dass beide – ohne voneinander zu wissen – nach Deutschland gelangen und Verhältnisse mit deutschen Frauen haben. Die Amerikanerinnen stehen für Offenheit, ihre sexuelle Orientierung scheint nicht festgelegt zu sein.
Fluidität und Grenzüberschreitungen sind überhaupt ein Leitthema des Romans. Am auffälligsten manifestiert es sich in dem amerikanischen Charakter Leigh. Ein junger Typ, der mit Emily studiert und von dem man erst nach einer ganzen Weile erfährt, dass er im Körper einer Frau steckt. Emily ist fasziniert von ihm und lernt ihn auf einer Forschungsreise besser kennen. Freimütig erzählt er ihr von seinem Dildo – „ein schönes Exemplar, dass gut zu mir passte. Das war nicht die Hauptsache. Das war nur die Ergänzung.“
Antje Rávic Strubel hat schon früher Geschichten mit homosexuellen und wenig genderrollenkonformen Charakteren geschrieben. Doch geht sie diesmal noch ein Stück weiter: Heterosexualität spielt quasi keine Rolle – ebenso wenig wie Nicht-Trans-Männer. „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ ist das bisher queerste Buch der 1974 geborenen Potsdamerin, wobei sie diesen Begriff genau wie das übrige LGBTI-Vokabular fast völlig ausspart. Und wenn doch mal jemand wie Leigh in Sachen Toiletten rhetorisch fragt, „wozu ein auch in der Tierwelt verbreitetes Bedürfnis wie das Erledigen der Notdurft überhaupt mit einem kulturellen Geschlechtercode beschildert werden muss“, wirkt das wie ein augenzwinkernder Gruß an Thomas Meinecke, der einen solchen Satz auch in „Tomboy“ geschrieben haben könnte.
Der Begehrenskosmos ist elegant erzählt
Das Bestechende von „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ ist die Eleganz, mit der Strubel von diesem Identitäts- und Begehrenskosmos erzählt. Dass sie es vor dem Hintergrund eindrucksvoll beschriebener Wüsten, Wälder und Gewässer tut, hat weniger eine metaphorische Qualität – der Buchtitel führt da auf die falsche Fährte, und auch das immer wieder auftauchende Motiv des Mondes als Repräsentant des weiblichen Prinzips hat eher dekorative Funktion. Es ist vielmehr so, dass Strubel Queerness als zur Landschaft gehörig konstituiert, als selbstverständlichen Teil der Natur. „Man braucht Geduld mit der Natur, auch mit der menschlichen“, heißt es einmal.
Zur spielerischen Vielschichtigkeit des Romans gehört auch, dass Antje Rávic Strubel der Figur der René einige Alter- Ego-hafte Züge gegeben hat. Die Beschreibung von Renés Physiognomie und ihre Liebe zu einer als Übersetzerin tätigen Amerikanerin kann man als solche Anspielungen lesen. Hübsch auch, dass die Journalistin an einem Nord-Europa-Reiseführer mit fiktiven Elementen schreibt („Ich erschließe mir die uferlose Tiefe jenseits der Kartographie“), was an Strubels „Gebrauchsanweisung für Schweden“ denken lässt.
„In den Wäldern des menschlichen Herzens“ spielt vieles an, lässt hier etwas aufscheinen, um dort wieder darauf zurückzukommen. Einige Fäden bleiben dabei am Ende lose liegen, doch so nah beieinander, dass man sie in der Fantasie selber weiterspinnen kann. Starker Effekt eines starken Buches.
Antje Rávic Strubel: In den Wäldern des menschlichen Herzens. S. Fischer Verlag, Frankfurt/ Main 2016. 269 Seiten, 19,99 €.
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