Kritik: Gestrandet vor Gotland
Mit antiker Wucht: Antje Rávic Strubel erzählt in ihrem Roman „Sturz der Tage in die Nacht“ von den langen Schatten der DDR
Wie betörend sind hier Licht und Wind, das raue Gras, die Wellenkämme und die kantigen Felsen. Antje Rávic Strubels neuer Roman „Sturz der Tage in die Nacht“ spielt auf einer schwedischen Insel vor Gotland. Dieses aus der Welt gefallene Reich gehört den Lummen, die zu Zehntausenden in den Felsen brüten und deren Geschrei die Insel beherrscht. So schrill ist der Lärm in der Nähe ihrer Kolonie, dass die Ohren davon taub werden und der Mensch meint, von völliger Stille umgeben zu sein – eine höchst folgenreiche Sinnestäuschung.
Erik, der vor dem Studium noch ein bisschen durch die Welt stromern will, landet hier ganz zufällig. Er wäre mit der Nachmittagsfähre wieder abgefahren, hätte ihn am Pier nicht einen winzigen Moment lang Inez berührt. Eine schöne Frau, schmal, durchtrainiert, mit hellem Haar und markantem Gesicht. Sie leitet die ornithologische Station und schreibt an ihrer Doktorarbeit.
Warum sie das erst mit vierzig tut, fragt Erik sie erst Wochen später, am Ende eines ebenso ekstatischen wie verzweifelten Sommers, der wie nebenbei eine Tragödie antiken Ausmaßes enthüllt: stoisch, unabwendbar, ohne Schreie und sich aufschaukelndem Lärm, nur dem gleichmäßigen „Anrollen und Abfließen des Meeres“ nachlauschend.
Schwebend leicht, die ersten unschuldigen Momente umkreisend, erzählt die 1974 in Potsdam geborene Autorin die sonderbare Liebesgeschichte zwischen dem schlaksigen, naiven Jungen und der verschlossenen Inez. Immer wieder setzt Strubel neu an und spinnt ein von Kapitel zu Kapitel dichter werdendes Netz aus Erinnerungen und Mutmaßungen, Beobachtungen und Träumen.
Man fühlt sich an Alain Resnais’ magisch-surrealen Film „Letztes Jahr in Marienbad“ nach dem Drehbuch von Alain Robbe-Grillet erinnert, der eine andauernde Gegenwart schafft, indem er alle Zeitebenen vermischt und damit aufhebt: ein Spiegelkabinett der unendlichen Wiederholungen und zugleich ein Bild der Sehnsucht nach jenem Glückspunkt, der vor allem Wissen lag.
Die rätselhafte und unendlich verführerische Kindfrau – ihre Seelenverwandte Siri kennen wir aus Strubels vorigem Roman „Kältere Schichten der Luft“ – hat mehr als ein Trauma zu verbergen. Wie Erik ist sie in der DDR aufgewachsen, einer Diktatur, in der man lernte, den eigenen Gefühlen zu misstrauen und seine Schwächen als Angriffspunkte zu fürchten. Diese Welt steckt den beiden noch in den Nervenbahnen, nur war Erik erst fünf, als die Mauer fiel, Inez entscheidende 16 Jahre älter.
Wie die „Kälteren Schichten“ erzählt auch dieser Roman von Gestrandeten, die sich einreden, die Flucht vor der Vergangenheit sei geglückt und jetzt endlich seien sie frei, unkontrollierbar und Herren ihrer selbst. Die Insel ist ein prekärer Schauplatz, ein Ort, der den Einzelnen mit aller Macht auf sich selbst zurückwirft und sich zugleich der Realität entzieht, weil er durchdrungen ist von den Gesetzen einer anderen, dem Menschen fremden Welt, für die die Flugkünste der Vögel stehen, „wie sie sich dem Wind anvertrauten, sich hineinlegten in seine Auftriebe, wie sie sich reglos höher tragen ließen, die Flügel leicht nach innen gewölbt, bis eine Unterströmung sie ergriff und ihre Körper beschleunigte und sie die Führung wieder übernahmen, sich mit schnellen Flügelschlägen wegdrückten aus dem Sog des Windes und fast senkrecht hinunterstürzten, aufklatschten auf dem Meer.“ Eine Meisterin feinster, sinnlicher Beobachtungen ist hier am Werk, ein Talent, das auch diesem Buch seine besonderen Qualitäten verleiht.
Eine der stärksten und schrecklichsten Szenen ist die minutiöse Schilderung eines Grillabends in einer gammligen Datsche am Rand von Greifswald. Die damals 16-jährige Inez, schwanger und tieftraurig, registriert überwach die schnell wechselnden Timbres der Stimmen, hört Gier und Verachtung, Brutalität und Trauer, und an diesem Abend verliert sie jeden Lebensmut.
Genauso panisch reagiert sie 25 Jahre später, als Rainer Feldberg, der Datschen-Besitzer, diese Vergangenheit auf die Insel einschleppt. Der erfahrene Stasi-Mann ist nach wie vor seiner haltung treu und eine beklemmend glaubwürdige Romanfigur: Viele Gespräche mit ehemaligen MfS-Leuten sind in sie eingegangen, verrät die Autorin in einem Interview. Doch der weitere DDR-Hintergrund – Inez’ Eltern etwa oder der Vater ihres Kindes – bleibt klischeehaft.
Eine Schwäche, die das ganze Handlungsgerüst des Romans knirschen lässt und ihm die Balance nimmt zwischen der wie in Trance erlebten Insel mit ihrem nie verlöschenden, so klaren wie flirrenden nordischen Licht, und der zerstörerischen Realität in der DDR. Nur ein Bild prägt sich noch ein: der Vater von Erik als kleines, braungebranntes Männlein in einer riesigen Baggerschaufel. Er starb beim Bau einer russischen Erdöltrasse, und Erik verachtet dieses Männchen zutiefst.
Hier nimmt eine klassische Ödipus-Geschichte ihren Anfang. Der Leser ahnt, dass Erik der Sohn von Inez ist, auch wenn das erst am Ende des Romans ausgesprochen wird. Der Intrigant und Besserwisser Feldberg, der damals Eriks Adoption in die Wege leitete, wirkt wie eine ironische Verkörperung der menschenverschlingenden Sphinx, wenn er Erik lauernd nach seinen erotischen Sehnsüchten fragt. „Angriffsfront Intimleben“ nennt er das.
Eine Schiffsbegegnung, eine unbewusste inzestuöse Beziehung: Ihr Roman sei keinesfalls ein Gegenentwurf zu „Homo Faber“, erklärt die Autorin, und doch kann man ihn, wie den Frisch-Roman, als ein provokantes Stück Arbeit am Mythos lesen. Denn Inez und Erik leben ihre unbekümmerte Liebe weiter, auch nachdem sie alles wissen. Weder fühlen sie sich schuldig, noch fürchten sie um ihr rationales Weltbild, sondern beharren auf der Erkenntnis- und Zauberkraft absoluter Gegenwart. „Wir haben alles“, antwortet Inez auf die schockierte Frage einer Reporterin, was sie denn gehabt hätten miteinander.
Antje Rávic Strubel: Sturz der Tage in die Nacht. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2011. 420 S., 19,95 €.
Nicole Henneberg
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