Interview mit Lann Hornscheidt: „Lasst uns Gender verabschieden“
Die Kategorie Geschlecht vertieft ungleiche Machtverhältnisse, findet Lann Hornscheidt. Deshalb sollten wir uns von ihr lösen. Ein Gespräch.
Lann Hornscheidt kam 1965 im Ruhrgebiet zur Welt und wuchs in einem nichtakademischen Umfeld auf. 1991 Promotion in Anglistik an der Universität Kiel, 2004 Habilitation in skandinavistischer Linguistik an der Humboldt-Universität Berlin und dort später Professur für Gender Studies und Sprachanalyse am Zentrum für Transdisziplinäre Geschlechterstudien.
Aufsehen erregte Hornscheidt im Jahr 2014 mit der Bitte, nicht mehr mit gegenderten Begriffen angesprochen zu werden, sondern stattdessen als Professx. Zwei Jahre später legte Hornscheidt die Professur nieder und schreibt seither Bücher, gibt Workshops, hält Vorträge und betreibt einen Verlag. 2018 erschien das Buch „Zu Lieben. Lieben als politisches Handeln“. Gerade ist zusammen mit Lio Oppenländer „Exit Gender. Gender loslassen und strukturelle Gewalt benennen: eigene Wahrnehmung und soziale Realität verändern“ herausgekommen (beide bei w_orten & meer).
Lann Hornscheidt, seit diesem Jahr existiert ein dritter Geschlechtseintrag, die Kategorie „divers“. Damit erkennt der Staat an, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Ihnen geht das allerdings nicht weit genug, Sie schlagen mit Lio Oppenländer in Ihrem Buch „Exit Gender“ vor, sich ganz von Gender zu verabschieden. Wieso?
Dass es das Gesetz gibt, ist gut, auch wenn es sehr restriktiv angelegt ist. Menschen brauchen ja eine medizinische Indikation, um zum dritten Geschlecht zu zählen. In der Öffentlichkeit wird es allerdings mehr so wahrgenommen, dass „divers“ Menschen meint, die sich selbst nicht als Frauen oder Männer verstehen.
Das ist eine begrüßenswerte Wahrnehmung. „Exit Gender“ hat jedoch eine andere Perspektive, denn solange wir weiter an Geschlechterkategorien festhalten – egal wie viele es sind –, kann die damit zusammenhängende Diskriminierung nicht grundlegend überwunden werden.
Weshalb nicht?
Weil immer weiter die Kategorie aufgerufen wird, weil die Vergleiche weitergehen, weil neue Unterkategorien und damit neue Ausschlüsse geschaffen werden. Letztlich wird so die soziale Kategorie Geschlecht zementiert. Deshalb finden wir, dass wir uns ganz von ihr verabschieden und stattdessen über strukturelle Diskriminierung sprechen sollten, die wir Genderismus und nicht Sexismus nennen.
Was ist der Unterschied?
Genderismus umfasst alle genderbezogenen Diskriminierungen. Schon jetzt fühlen sich viele Leute nicht mehr von den Bezeichnungen Frau, Mann oder divers angesprochen. Wenn wir, statt ständig diese Norm aufzurufen, anfangen, über Diskriminierungsformen zu reden, können wir wegkommen von vielen Problematiken.
Wie etwa beim Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, nach dem Menschen klagen können, die aufgrund von Geschlecht oder „Rasse“ diskriminiert werden. Zu Recht gab es Diskussionen, um den Begriff „Rasse“. Das könnte vermieden werden, indem gesagt wird: Klagen können alle, die von Rassismus, Antisemitismus oder Genderismus betroffen sind.
Aber braucht man diese Begriffe nicht, um überhaupt für seine Interessen eintreten zu können? Hannah Arendt hat gesagt: Wenn man als Jude angegriffen ist, muss man sich als Jude verteidigen.
Das ist ja das Paradox. Ich muss mich in irgendeiner Form mit „der Anrufung“, wie Judith Butler sagen würde, identifizieren, um überhaupt dagegen vorgehen zu können. In einer Selbstbenennung wie Lesbe oder Dyke ist die Diskriminierung miteingeschrieben. Es gäbe diese Begriffe nicht, wenn es die homo- und frauenfeindliche Diskriminierung nicht gäbe. Ohne sie aber könnten wir uns als Menschen wahrnehmen.
Es wäre doch auch möglich zu sagen: Ich handle feministisch oder antirassistisch, und es müsste dann keine zeitübergreifend gültige Identität sein. Dadurch könnten wir unser Handeln immer wieder neu von Situation zu Situation darauf hin befragen, ob es diskriminierungskritisch ist. Denn keine Person ist grundsätzlich antirassistisch oder feministisch.
Jüdisch aber vielleicht schon. Und auch die Genderperformance sehen viele Menschen als einen wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit. Trans Personen haben ebenfalls ein sehr starkes Empfinden von Gender. Wollen Sie denen absprechen, eine Transition zu machen, weil sie damit wieder die Genderkategorien aufrufen?
Ich würde keiner Person etwas absprechen oder vorschreiben, sondern einfach nur selber einen anderen Ansatz verfolgen. Ich habe alle Kategorien von Frau, Lesbe, Dyke, Trans Dyke, Trans* einmal durchprobiert und hatte mit allen ein Unwohlsein. Denn jede Kategorie schafft auch Normen und Ausschlüsse. Heute verstehe ich mich weder als weiblich noch als männlich. Mir ist es wichtig, dass mich andere als Menschen wahrnehmen und nicht sofort gendern. Im Reflektieren dieses Bedürfnisses habe ich bemerkt, dass ich das auch die ganze Zeit mit anderen gemacht habe – sie gendere. Da habe ich beschlossen, zunächst bei mir zu beginnen.
Der Frauenanteil in den deutschen Parlamenten sinkt, es gibt weiter ungleiche Bezahlung – wir sind weit von Gleichstellung entfernt. Müsste man sich nicht erstmal um einen Ausgleich kümmern, bevor man Gender grundlegend infrage stellt?
Es ist eine große Herausforderung, Gender als Identität aufzugeben, weil sich die Kategorien so verselbstständigt haben, dass sie natürlich und unauflösbar wirken. Häufig kann es strategisch wichtig sein, sich auf sie zu beziehen – beispielsweise wenn es einen eher engen traditionellen Rahmen für Gleichstellungsarbeit gibt.
Unser Ansatz ist an solchen Punkten begleitend gedacht. Und im Übrigen nicht als Utopie. Lio, ich und viele Personen in unserem Umfeld leben das Verlassen von Gender.
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Wie sieht das im Alltag aus?
Wir versuchen, weder uns noch andere zu gendern, auch nicht das Verhalten von Menschen oder Dingen. Fahrräder zum Beispiel: Soll es neben Damen- und Herrenrädern jetzt noch Divers-Räder geben und wie sehen die dann aus?
Stattdessen gucken wir, wo Gender wirklich eine Rolle spielt und wo nur soziale Vorstellungen in Gender hineinprojiziert werden. Die sind für alle Menschen äußerst anstrengend, vor allem, weil sie sehr stark verinnerlicht sind und als natürlich angenommen werden.
Sie bezeichnen die Unterteilung in zwei Geschlechter als gewaltvollen Prozess. Worin besteht die Gewalt?
Dass sich Menschen in ihrem Verhalten und in ihren ästhetischen Vorstellungen ununterbrochen an einer Norm messen müssen. Ständig fragen wir uns, ob wir zu emotional, zu langsam oder nicht schlank genug sind. Frauen fragen sich, ob sie sexualisierte und häusliche Gewalt, die sie erleben, selbst verschulden – das nenne ich internalisierte Diskriminierung. Vor allem die Normen für Frauen sind ein starkes Korsett von Erwartungen, zu denen etwa gehört, dass sie immer noch den Großteil der häuslichen und pflegenden Tätigkeiten ausüben, schlechter bezahlt werden und das okay finden.
Wenn wir jedoch begreifen, dass bereits die Kategorie Gender Teil einer diskriminierenden Struktur ist, die zur Übernahme von Rollenvorstellungen und Erwartungen an uns und andere führt, und wir anfangen, das loszulassen, können wir Situationen und Handlungen noch mal ganz neu bewerten. Es geht darum, den Blick zu verändern.
Durch #MeToo hat sich in den letzten beiden Jahren doch schon einiges verändert. Sexualisierte Gewalt wird viel stärker thematisiert und sanktioniert.
Das ist gut und wichtig. Doch trotzdem führen all diese Bemühungen nicht zu einer fundamentalen Verbesserung. Immer noch gibt es immense Lohn- und Statusunterschiede, immer noch bringt jeden vierten Tag ein Mann seine Frau oder Freundin um. Warum ist das kein Skandal?
Ich glaube, dass die bisherige politische Arbeit dazu führt, Missstände etwas einzudämmen und zu befrieden. Die Struktur und die Machtverhältnisse bleiben dabei aber unangetastet
Sprache und sprachliches Handeln sind ein wichtiger Punkt in Ihrem Buch. Derzeit sieht man ja den Genderstern bei Formulierungen wie Sänger*innen oder Läufer*innen immer häufiger. Ihnen scheint das aber nicht weit genug zu gehen.
Der Genderstern ist eine wichtige Übergangsform. Doch Sprachveränderungen werden noch weiter gehen. Ich hoffe, wir werden neutrale Formen finden, die alle Menschen meinen. Eine Möglichkeit ist etwa, zu sagen, eine Person, die singt, oder eine Person, die läuft. Das würde uns auch vom Ballast der Gender-Identität in solchen Fällen befreien. Dinge über Verben zu benennen, kann zu einer ganz anderen Wahrnehmung führen.
Eine Idee aus Ihrem Buch ist, ein X zu benutzen. Ein Beispielsatz: „Dex Radfahrex hat exs Rad zur Reparatur gebracht. Ex wollte einex Freundx mit der Möglichkeit einer Radtour überraschen.“ Verstehen Sie, dass das vielen zu kompliziert erscheint?
Dass Leute darüber stolpern und es ungewohnt finden, liegt auch dran, dass die Gendernormen in unseren Köpfen so starr sind. Dabei ist das System mit dem X viel einfacher als das gegenwärtige mit seinen drei Genusformen. Es geht aber nicht darum, überall ein X dranzuhängen oder neuen Regeln einzuführen, sondern darum, uns Sprache wieder anzueignen. Wenn ich sie als etwas einfach so Gegebenes sehe, höre ich auf, sie verantwortungsvoll und reflektiert zu verwenden. Ich möchte dazu ermutigen, wieder selber zu denken und Verantwortung für das eigene sprachliche Handeln zu übernehmen.
Wie sieht es beim Begehren aus? Da spielt Geschlecht ja eine entscheidende Rolle.
Sexualität wird in der Gesellschaft als ein Bereich konstruiert, der ganz authentisch sei. So wird dann beispielsweise gesagt: Ich kann nichts dafür, ich begehre nun mal Männer. Es wird so getan, als sei das ganz natürlich, dabei ist es eine gesellschaftliche Setzung. Auch hier manifestieren sich Reproduktionslogiken und Machtverhältnisse. Mein Vorschlag wäre, sich genauer anzuschauen, was an einer Person tatsächlich begehrenswert gefunden wird. Ob das vielleicht eine bestimmte Form der Ausstrahlung ist und ob diese wirklich etwas mit einer angeblichen Weiblich- oder Männlichkeit zu tun hat.
Nadine Lange