Martina Navratilova wird 60: Die mit der Angst spielt
Es war schwer für Martina Navratilova, zur besten Tennisspielerin der Welt zu werden - auch wegen der Vorurteile, die ihr wegen ihres Lesbischseins entgegenschlugen. Jetzt wird sie 60.
Vor sechs Jahren erfährt Martina Navratilova, dass sie Krebs hat. Guten Krebs. „Was ist das“, fragt sie, „guter Krebs?“ „Keine Chemo“, sagt die Ärztin, die auch ihre Freundin ist, „nur Bestrahlung.“ Sie hat den Knoten in der Brust ertastet. Die Wahrscheinlichkeit, dass er zurückkommt, liegt bei fünf Prozent.
Navratilova ist verstört, fürchtet sich vor sich selbst. Bisher hat sie die Angst immer besiegt, sie mutig ausgelacht. Sie macht einen Pilotenschein, weil sie Flugangst hat. Sie hängt sich einen Python um den Hals, um die Angst vor Schlangen zu überwinden. Sie fürchtet tiefe Gewässer und geht im offenen Meer tauchen.
„Wenn was Schlimmes passiert“, sagt sie, „suche ich nach Lösungen.“ Aber ihr Körper will plötzlich nicht mehr. Ein Körper, der sie reich gemacht hat. Über 23 Millionen Dollar hat er ihr mit Tennis eingebracht. Sie konnte sich ein Leben lang auf ihn verlassen. Nun trägt sie etwas in sich, das nicht da sein sollte. Die Behandlung geht ihr oft nicht schnell genug. Nach dem letzten Termin gibt sie eine große Party. Heute gilt sie als geheilt.
Sie ist damals 53 und will jetzt Dinge machen, die sie zu lange aufgeschoben hat. Geld hat sie ja genug. Sie steckt sich Nadeln in die Weltkarte. In Orte, wo sie noch nicht war. Alaska. Madagaskar. Galapagos. Sansibar. Kilimandscharo. „Jetzt beginnt mein zweites Leben“, sagt sie. Was Menschen eben so sagen, die es sich leisten können.
Als Kind hielt man sie für bekloppt
Ihr erstes beginnt vor fast 60 Jahren in Rewnitz, einem Kaff bei Prag. Als Kind kennt sie jeder, sie läuft mit einem Rucksack voller Ziegelsteine herum. Hüpft, rennt, klettert auf Mauern, um starke Beine zu kriegen. Prügelt stundenlang Tennisbälle gegen die Wand ihres Hauses an der Prazka Ulice.
Die Leute schütteln den Kopf, ach, wieder die Bekloppte, tuscheln sie, diese Martinka. In der Hand hält sie den abgesägten Holzschläger ihrer Großmutter Agnes, der böhmischen Meisterin von 1935. Martina verehrt sie über alles.
Der Tennisplatz liegt direkt hinterm Haus. Ihre Eltern spielen dort, sooft sie können. Sie lassen sich scheiden, als ihre Tochter drei ist. Ein paar Jahre später bringt sich der Vater um. „Papa ist weg“, sagt man ihr, niemand trocknet ihre Tränen. Der Wind bläst rau in Rewnitz. Irgendwann legt sich Mirek, der Trainer des Vereins, zu ihrer Mutter ins Bett.
Mirek entdeckt das große Talent der kleinen Martina. Scheucht sie mit fünf über den Platz, jeden Tag nach der Schule, mit acht nimmt sie an ihrem ersten Turnier teil. Ein Jahr später schickt Mirek sie nach Prag, er kann ihr nichts mehr beibringen. Sie fährt die 24 Kilometer mit dem Zug in die Stadt. Manchmal darf sie auf Mireks alter Kiste sitzen. Er zurrt sie mit Paketband am Motorrad fest, damit sie nicht runterfällt. Mutter Jana soll es nicht wissen.
Amerika, "ein Paradies zum Kotzen"
Martina Navratilova ist mit 16 die beste Spielerin der Tschechoslowakei. Die Schläge kommen wie im Schlaf, sie drischt die Bälle übers Netz, knallhart. Kaum einer hält sie für ein Mädchen. Sie fährt Ski im Riesengebirge, rauft sich mit den Jungs aus der Nachbarschaft im Fußball und Eishockey. Kurze Haare, Männerhosen, Holzfällerhemd. Sie steigt auf Bäume, schraubt an Mopeds. Martina entspricht nicht dem Frauenbild ihrer Heimat.
Sie fällt der Staatssicherheit auf, wird ständig vom Verband gegängelt. Der profitiert von ihrem Können, nur elf Dollar Tagessatz vom Preisgeld darf sie behalten. 1968 steht sie mit offenem Mund auf dem Platz, als neben ihr russische Panzer nach Prag einrollen. Sie hasst den Großen Bruder aus Moskau. Kommunisten enteignen das Haus ihrer Mutter. Sie weiß nicht, wohin mit ihrer Wut. Steckt sie in die Wucht ihrer Schläge.
Das Land wehrt sich. Doch der Kalte Krieg ist stärker als der Prager Frühling. Der Alltag erstarrt immer weiter, sie weiß, sie muss ins Ausland, um besser zu werden. 1973 ist sie zum ersten Mal auf einer Turnierserie in den USA. Sie staunt, genießt das süße Leben. Schaufelt alles in sich hinein, was sie nicht kennt. Taucht in eine Welt aus Junk Food und Eisbechern ein. „Ein Paradies zum Kotzen“, heißt es in einer ihrer Biografien. Es ist, als hätte man sie in Disneyland freigelassen.
Irgendwann wiegt sie 75 Kilo, bei 173 Zentimetern Körpergröße. Es würgt sie beim Blick in den Spiegel, der Kapitalismus steht ihr bis zum Hals. Sie hungert, setzt sich bekleidet in die Sauna. Spielt sich dünn, bevor sie nach Hause fliegt. „Mit der cholerischen Energie ihres Willens“, wie der Schriftsteller Wolf Wondratschek später über sie schreibt.
Zwei Jahre danach bleibt sie für immer in den USA. Ein schwerer Schritt für eine junge Frau, die gerade mal 18 ist. Am 6. September 1975 stellt sie einen Antrag auf politisches Asyl. Es sollte fünf Jahre dauern, bis er genehmigt wird. Solange ist sie staatenlos, man traut ihr nicht. Der Eiserne Vorhang wirft seinen Schatten bis nach Amerika. Sie erhält Morddrohungen, aus Angst legt sie sich einen Revolver zu.
Mit jedem Sieg wird sie mehr gehasst
Im Mai 1978 gewinnt sie zum ersten Mal Wimbledon. Besiegt Chris Evert in drei Sätzen, mit der sie bereits im Doppel zwei Jahre vorher erfolgreich war. Mirek hat es schon immer gewusst, kann es in Rewnitz am Radio hören. Seine Martina, die Königin von England! In ihrer Karriere wird Navratilova 20 Titel auf dem heiligen Rasen holen. Nur Billie Jean King schafft es genauso oft.
Chris Evert gegen Martina Navratilova. Die nächsten Jahre sind geprägt vom Zweikampf dieser beiden Frauen. Gut gegen Böse. Die Schöne gegen das Biest. Die Zuschauer buhen, wenn die aus dem Osten das Stadion betritt. Navratilova spielt das Spiel der launischen Diva mit. Grimmiger Blick, patzige Gesten. Statt eines Rockes trägt sie kurze Hosen.
Sie spielt kein Tennis. Sie zieht ständig in den Krieg. Reißt einem Fotografen die Kamera aus der Hand, trampelt sie kaputt. Brüllt, zielt mit dem Schläger auf den Schiedsrichter, als wolle sie ihn erschießen. Während die Evert mit dem Publikum flirtet. „Come on“, hört Navratilova jemanden rufen, „wir wollen, dass eine richtige Frau gewinnt.“ Mit jedem Sieg wird sie mehr gehasst.
New York, London, Paris, Berlin, Melbourne. Navratilova wird 1978 Erste der Weltrangliste. Insgesamt ist sie das 331 Wochen lang. Sie siegt für ihr Konto, für ihr Ego, in die Herzen der Amerikaner siegt sie sich nicht. Sie spielt weiter die Rolle des bösen Mädchens. Wettert später gegen die Politik von George Bush, den ersten Irakkrieg, Tierquälerei.
Das Jahr 1981 verändert alles
In einer Talkshow bei CCN sagt sie, bei ihrer Flucht habe sie ein Land, das Meinungsäußerung unterdrückt, gegen ein anderes eingetauscht. „Dann gehen Sie doch wieder zurück“, sagt der Moderator. Aber da hat sie es sich im Kapitalismus schon längst bequem gemacht.
Ihr Haus im texanischen Fort Worth ist so groß, dass man sich darin verlaufen kann. Badezimmer aus Marmor, Spiegel an der Decke, eine Rutsche führt vom ersten Stock in den Garten. Sie liebt protzige Schlitten. In ihrer Garage stehen ein Pontiac, Toyota, BMW, Mercedes, Porsche und zwei Rolls Royce.
Das Jahr 1981 verändert alles. Sie gibt dem Journalisten Steve Goldstein von „Daily News“ ein Interview. Zuerst geht es nur um ihre Rückhand, ihre schlechte Laune, alles wie immer, denkt sie noch. Dann will der Reporter über die Schriftstellerin Rita Mae Brown reden, er wisse da was. Navratilova gesteht ihm, dass sie eine Affäre mit der Starschreiberin hat. Goldstein verspricht ihr Stillschweigen. Am nächsten Tag steht es auf der ersten Seite seiner Zeitung.
Amerika jault auf, es ist viel zu prüde für Homosexualität. Sie wird gnadenlos von der Presse gejagt. Die scheint nur darauf gewartet zu haben, richtig auf sie einzuschlagen. Navratilova muss durch einen Sumpf schmutziger Geschichten, der bis heute nicht trocken gelegt worden ist. Jeder schreibt, was er will. Irgendwann gibt sie auf, sich dagegen zu wehren.
Eine Geschichte geht so: Rita Mae Brown soll sie mit einem Revolver bedroht haben, als Martina angeblich mit einer Basketballspielerin fremdgeht. Nach der Trennung verfasst Brown „Die Tennisspielerin“, einen Roman über Lesben, Lust und Laster. Alle Anspielungen im Buch sind gewollt, es herrscht Rachsucht statt Recherche.
"Ich wurde nicht als Lesbe geboren"
Kurz danach verliebt sich Navratilova in die ehemalige Schönheitskönigin Judy Nelson, die für sie ihren Mann und zwei Kinder verlässt. Die Beziehung hält bis 1991, das gerichtliche Ende wird live im Fernsehen übertragen. Es geht um fünf Millionen Dollar Abfindung und zwei Dutzend Katzen.
Auch Nelson schreibt. In „Love Match“ berichtet sie von ihrem Sex. „Wenn ich sie streichelte“, schreibt sie, „wurde ihr harter Körper ganz weich.“ Heute ist Navratilova mit Julia Lemigova verheiratet. Ein russisches Model, 16 Jahre jünger als sie.
„Ich wurde nicht als Lesbe geboren“, sagt sie dem „Spiegel“. Aber die Liebe zu Männern erscheint ihr brutal, feindselig fast. Sie siegt weiter, es bleibt immer auch ein Kampf der Geschlechter. Als der HIV-positive Basketballstar Magic Johnson gesteht, mit Hunderten von Frauen geschlafen zu haben, beklagt sie sich: „Eine Frau würde man jetzt Hure nennen und die Sponsoren ließen sie fallen wie eine heiße Kartoffel.“
Nach dem Rücktritt von Evert heißt Navratilovas neue, ständige Gegnerin Steffi Graf. Nicht nur in Wimbledon liefern sie sich heiße Gefechte. „Ich mag sie“, sagt Navratilova, aber sie glaubt, dass Graf ein wenig schüchtern ist. Das schüchterne Mädchen fegt sie regelmäßig vom Platz. Dem „Stern“ gesteht Navratilova, dass sie der Deutschen ein Bündel Briefe geschrieben hat, doch sie bekommt keine Antwort.
Ein normales Leben, wie geht das?
Zehn Jahre nach ihrer Flucht steht sie wieder in Prag auf dem Platz. Der Empfang ist kühl, aber freundlich. Sie ist mit dem US-Team beim Federation-Cup, im Endspiel schlagen sie die Tschechoslowakei mit drei zu null. Die Zuschauer klatschen, als sie bei der Siegesrede von Weinkrämpfen geschüttelt wird. Für einen Abstecher nach Rewnitz verspricht man ihr freies Geleit.
Mit 37 Jahren hat sie keine Lust mehr, gegen kleine gelbe Bälle zu prügeln. Der Körper ist müde, sie ist satt. Was soll nach über 1300 Siegen im Einzel auch noch kommen? Sie möchte ein normales Leben führen. Aber sie weiß nicht, wie ein normales Leben geht.
Sie wirft Bälle mit Farbe gegen eine Leinwand, verkauft es als Kunst. Lernt Kisuaheli, reitet auf ihrem Pferd, das Grand Slam heißt. Flitzt im Sturm beim Eishockey herum, ihre Mannschaft nennt sich Motherpucker. Füttert Hündchen „Killer Dog“ mit Tafelspitz. Hunde! Sie ist verrückt nach Hunden. Jetzt hat sie viel Zeit dafür. Sie langweilt sich, hockt stundenlang im Cafe, bringt den Krimi „Spiel, Satz und Tod“ heraus. Er erzählt vom mörderischen Leistungsdruck auf dem Tennisplatz. Der Täter landet in der Tiefkühltruhe. Das Buch verkauft sich kaum, wird schlecht besprochen.
Es kommt, wie es kommen muss. Sie ist 43, als sie wieder in die kurze Hose schlüpft. Der Rücktritt vom Rücktritt.
Plötzlich kommt der Krebs, einfach so
Viele schütteln ungläubig den Kopf, doch die Navratilova hat ein ehrgeiziges Ziel. Sie will noch einmal in Wimbledon gewinnen, um mit ihrem Vorbild Billie Jean King gleichzuziehen. „Der Besuch der alten Dame“ spotten die Zeitungen, wenn sie gegen Mädchen mit Zahnspangen antritt, deren Mutter sie sein könnte. Sie genießt ihre Auftritte, wirkt befreiter als früher. Zum ersten Mal scheint ihr das verdammte Tennis Spaß zu machen. Manchmal lächelt sie sogar.
Dann endlich hat sie in England so häufig gewonnen wie Billie Jean King. Ein letzter Sieg im Mixed. Ihr Partner Leander Paes schwärmt, dass sie ihn mit ihrer Lust am Spiel zu einem kleinen Jungen gemacht hat. Navratilova ist 17 Jahre älter als er.
Am 9. September 2006 legt sie den Schläger in New York nach einem Sieg im Doppel endgültig aus der Hand. Fünf Wochen, bevor sie 50 wird. Sie lächelt ihre Angst weg. Die Angst vorm Aufhören. Die Angst vor einem Fall ins tiefe Loch. Der Schmerz im linken Knie macht es ihr leicht.
Navratilova lebt danach ihr Leben, sie hat es endlich gelernt. Ohne Asche am Ellenbogen, ohne Fahrer zum Hotel. Ohne roten Teppich. Ohne grünen Platz. Ohne Satz, Spiel und Sieg. Bis plötzlich der Krebs kommt, einfach so. Da ist sie wieder auf dem Titel der Klatschblätter. Doch diesmal öffnet sie sich, versteckt sich nicht. Will nicht wieder die Gefangene ihrer eigenen Ansprüche werden. Will nur keinen Krebs mehr.
„Ich bin ein Champion“, sagt sie. Und Sieger haben keine Angst zu scheitern.
Der Text ist in der gedruckten Ausgabe in unserer Sonntagsbeilage erschienen. Mehr LGBTI-Themen finden Sie auf dem Queerspiegel, dem queeren Blog des Tagesspiegels. Folgen Sie dem Sonntag und dem Queerspiegel auf Twitter:
Michael Schophaus