Ex-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger: Als Avantgardist gegen Homophobie
Anfang 2014 machte Thomas Hitzlsperger öffentlich, dass er schwul ist. Bisher ist kein deutscher Profifußballer seinem Beispiel gefolgt. Auch deshalb kämpft der frühere Nationalspieler weiter.
Ein Hotel im Kölner Messeviertel, früher Abend, der Speisesaal ist leer. Macht nichts, sagt Thomas Hitzlsperger und freut sich über ein bisschen Ruhe, davon hält der Alltag nicht so viel bereit. Zum Gespräch kommt er zwischen zwei Fernsehterminen. Tagsüber absolviert er ein Praktikum bei einer Produktionsgesellschaft, abends will er Champions League gucken, „mit ein paar Freunden, muss auch mal sein“. Das Privatleben leidet ein wenig, seitdem er in der Öffentlichkeit zunehmend mehr als Avantgardist gegen Homophobie im Fußball wahrgenommen wird denn als früherer Nationalspieler.
Männer lieben Männer - schwer für den Fußball
Hitzlsperger ist diesen Weg ganz bewusst gegangen. Erst mit seinem Coming-out im Januar 2014, transportiert über ein Interview mit der „Zeit“, mit dem jetzt schon legendären Satz: „Ich äußere mich zu meiner Homosexualität.“ Später dann als begehrter Interviewpartner und Gast bei Podiumsdiskussionen, wann immer es um dieses letzte Tabu einer Sportart geht, von dem keiner so richtig erklären kann, warum es immer noch ein Tabu ist. In einer Zeit schwuler Politiker und Kulturschaffender tut sich der Fußball schwer mit der Vorstellung, dass auch unter seinen Hauptdarstellern Männer sind, die Männer lieben.
Hitzlsperger versucht seine Popularität zu nutzen
Vor ein paar Wochen hat Hitzlsperger seinen 33. Geburtstag gefeiert. Kurze Haare, Zweieinhalbtagebart, durchtrainierter Körper – er sieht genauso aus wie zu seiner aktiven Zeit, und die ist seit zweieinhalb Jahren vorbei. Er bestellt eine große Flasche Mineralwasser. Früher, als er noch Tore schoss und Flanken schlug, hat Hitzlsperger sich kaum Gedanken gemacht über die Zeit danach. Vielleicht ein bisschen durch die Welt reisen, wie das andere Ex-Profis machen.
Das mit dem Reisen ist tatsächlich so gekommen, nur anders als geplant: Im Ruhestand pendelt er zwischen einer Pressekonferenz in Berlin, der schwul-lesbischen EM in Hamburg oder den Euro Games in Stockholm. „Ist alles ein bisschen viel geworden, ich kann beim besten Willen nicht alle Anfragen beantworten und alle Einladungen annehmen“, sagt er. „Aber natürlich versuche ich, meine Popularität für die Sache einzusetzen.“
Über sein Coming-out diskutierten die Stammtische
Gerade erst ist Thomas Hitzlsperger mit dem Ethikpreis des katholischen Sportverbandes DJK ausgezeichnet worden, für sein Engagement im Kampf gegen Homophobie im Allgemeinen und seinen sensiblen Umgang mit dieser Thematik im Besonderen. Als erster deutscher Spieler auf höchstem Niveau hat Hitzlsperger offen über seine Homosexualität geredet. Er versteht sich als Botschafter der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld und deren Forschungsprojekt „Fußball für Vielfalt“, all das in Zusammenarbeit mit der Universität Vechta. „Das sind seriöse Partner“, sagt er. „Mir ist es sehr wichtig, dass mein Engagement wissenschaftlich begleitet wird.“ Bei der Stiftung sind sie sich des Werts ihres neuen Mitstreiters sehr wohl bewusst. „Thomas Hitzlsperger hat sehr viel bewirkt“, sagt der Vorstand Jörg Litwinschuh. „Über sein Coming-out wurde wirklich am hinterletzten Stammtisch der Republik diskutiert.“
Niemand mag zu seiner Homosexualität stehen
Homosexualität und Fußball, das ist auch im dritten Jahrtausend ein Kräfteparallelogramm aus politisch korrekten Sonntagsbotschaften und Versteckspiel. Kein Spieler, Trainer oder Manager, der noch alle Sinne beisammen hat, wird einen auch nur ansatzweise schwulenfeindlichen Satz formulieren. Aber genauso mag auch niemand offen zu seiner Homosexualität stehen. Muss er ja auch nicht. Sexualität ist die privateste aller Privatangelegenheiten und geht die Öffentlichkeit nichts an. Das ist einerseits richtig, andererseits Kern des Problems.
Ein Fußballspieler, der seine sexuelle Identität versteckt und mit der latenten Furcht vor Enttarnung lebt, obwohl es doch weder moralisch und juristisch etwas zu enttarnen gibt – so ein Fußballspieler kann schwerlich den Kopf frei haben, um auf seinem höchsten Niveau zu spielen. Im Umkehrschluss müsste also jeder Arbeitgeber am uneingeschränkten Wohlbefinden seiner Angestellten interessiert sein, auf dass diese ihre gesamte Kraft zur Mehrung von Wohlstand und Punktekonto investieren können. Dazu gehört auch ein unbelastetes Leben mit der eigenen Sexualität.
Die Trainer müssen sensibler werden
Was also können die Vereine konkret tun? „Erst einmal einsehen, dass es ein Problem gibt für schwule Fußballspieler“, sagt Thomas Hitzlsperger. „Nur weil man in der Bundesliga keine schwulen Profis kennt, heißt das ja nicht, dass es auch keine gibt.“ Wichtig etwa sei, bei der Trainerausbildung darauf zu achten, „dass beim kleinsten Anlass klargemacht wird: Homophobie hat bei uns keinen Platz! Ich habe mich da nicht bei allen meinen Trainern immer wohlgefühlt.“
Kurzer Aufruhr im Speisesaal. Zehn, zwölf Fußballfans ordern Bier, aber weil es im Speisesaal keinen Fernseher gibt, verziehen sie sich in die Lobby. Keiner erkennt den früheren Nationalspieler. Nach seinem Coming-out ist er öfter schon in Bundesligastadien gewesen. Hat man ihn anders angesehen, anders mit ihm geredet? „Ist mir nicht aufgefallen.“
Der Fußball ist überfordert
Der Fußball war leicht überfordert mit der ihm aufgedrückten Debatte. Es gab die vorhersehbaren Sonntagsreden und Verbeugungen. Wolfgang Niersbach, der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, empfand es als „völlig übertrieben, dass neben der Syrien-Krise oder Ägypten das Outing von Thomas Topthema im Heute-Journal oder in den Tagesthemen war“. Gemeinsam mit seinem Kollegen Reinhard Rauball von der Deutschen Fußball-Liga (Jahresumsatz: 2,14 Milliarden Euro) ließ Niersbach der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld einen Scheck über 20 000 Euro zukommen. Andere mäkelten, Hitzlsperger sei erst nach dem Ende seiner Karriere an die Öffentlichkeit gegangen, was dieser bis heute nicht nachvollziehen kann. „Da darf ich ja wohl fragen: Wo sind denn die vielen anderen Ex-Profis, die sich geoutet haben? Tut mir leid, ich kenne keinen einzigen!“ Und wer glaubt ernsthaft, dass Hitzlsperger in 52 Jahren Bundesliga der einzige schwule Profi war?
Wie würde das Publikum reagieren, wenn ein aktiver Spieler sich outet?
Viele Klubs arbeiten heute mit Psychologen zusammen, aber in einer derart sensiblen Angelegenheit vertraut kein Profi einem, der in erster Linie die Interessen des Klubs vertritt. Schwierige Sache, sagt Hitzlsperger und dass er auch nie den Kontakt zu einem Psychologen gesucht habe. Oft seien es auch die Berater, die ihren Schützlingen von einem Coming-out abraten würden, weil sie negative Folgen für deren Marktwert befürchteten.
Der Kellner kommt und fragt, ob es nicht vielleicht doch ein Bier sein dürfe. „Lassen Sie mal, Wasser ist schon okay“, sagt Hitzlsperger. Er steht nicht mehr im täglichen Training und zum Fußball kommt er eher selten, „zu viel zu tun. Also, wo waren wir doch gleich?“ Der Fußballfan, das unbekannte und unberechenbare Wesen … Hitzlsperger schüttelt den Kopf. Aus Besuchen bei schwulen Fanklubs hat er mitgenommen, „dass sich einiges in der Szene tut. Es wird in der Kurve einen Selbstregulierungsprozess geben.“ Vorbildlich nennt er die Arbeit der üblichen Verdächtigen, Klubs wie St. Pauli und FSV Frankfurt. Alle 36 Vereine der Ersten und Zweiten Liga unterhalten CSR-Abteilungen. CSR steht für Corporate Social Responsibility – unternehmerische Gesellschaftsverantwortung, die über die gesetzlichen Forderungen hinausgeht. Und immer häufiger sieht man in deutschen Stadion Transparente wie dieses, das mal bei Heimspielen von Hertha BSC durch den Wind flatterte: „Ein schwuler Ball fliegt genauso gut.“
Toleranz muss an der Basis erarbeitet werden
Alles Symptome, die für ein stetiges Wachstum von Verantwortung und Toleranz stehen. Doch einen offen schwul lebenden Profi hat es in der Bundesliga noch nicht gegeben, so dass bei der entscheidenden Frage jede Vergleichsgröße fehlt: Wie reagiert das Publikum in so einem Fall? Hitzlsperger sagt, Verständnis und Toleranz müssten an der Basis erarbeitet werden, gern auch im kleinen Kreis. Er diskutiert in Schulen oder Vereinen, und wenn es die Zeit erlaubt, trifft er sich auch mal mit Heranwachsenden zum Plausch in einem Schwulen-Café. Das ist ein etwas anderer Ansatz, als ihn etwa der große Fußball beim weltweiten Kampf gegen den Rassismus verfolgt. Mit groß angelegten Kampagnen, die selten ihre Adressaten finden. Wenn bei Welt- oder Europameisterschaften vor Spielbeginn die Kapitäne beider Mannschaften von PR-Strategen formulierte Manifeste ablesen, ist das für viele Zuschauer das Signal, neues Bier zu holen.
Die wirksamste Antidiskriminierungskampagne kam von Boateng
Die wirksamste Antidiskriminierungskampagne war Folge einer spontanen Eingebung des Schalkers Kevin-Prince Boateng. Vor zwei Jahren, als er noch in Mailand spielte und das Gegröle im Publikum damit quittierte, den Ball auf die Tribüne zu schießen und mit den Kollegen im Gefolge den Platz zu verlassen. Boatengs Happening hat den Rassisten im Stadion mehr Schaden zugefügt als alle gut gemeinten Kampagnen zusammen.
Nun muss sich ein schwarzer Profi nicht erst zu dem bekennen, was ein mutmaßlicher Dumpfbeutel im Publikum als Makel empfindet. Ein schwuler Profi müsste sich erst offenbaren und dann den Ball auf die Tribüne dreschen, wenn dort gepfiffen oder gejohlt wird. In diesem Sinne hat sich Thomas Hitzlsperger neulich im Magazin „Männer“ geäußert: „Das größte Problem während der Karriere dürfte die unglaubliche Aufmerksamkeit sein, die ein Outing erregen würde. Ich hatte Zeit dafür, alles zu planen und damit umzugehen. Ein aktiver Spieler hat diese Zeit nicht. Der muss am nächsten Wochenende wieder gewinnen. Diese Aufmerksamkeit schreckt sicher einige Spieler ab. Aber einer muss da jetzt mal durch.“
"Einer muss da jetzt mal durch"
Viele haben sich auf diesen letzten Satz gestürzt, und wer ihm Böses will, der könnte Parallelen ziehen zu Rosa von Praunheims Zwangsouting prominenter Homosexueller in den frühen Neunzigern. Hitzlsperger hebt die Hände – bloß nicht!, er verlange überhaupt nichts, „ich weiß ja nicht, wie es sich anfühlt, dann im Stadion zu stehen“. Und doch wäre es eine schöne Bestätigung seiner Arbeit, wenn denn mal einer aus sich herausgehen würde. „Vielleicht hat sich ja längst einer in seiner Mannschaft geoutet, und wir alle wissen es nur nicht, weil es eben in der Mannschaft bleibt.“
Außerhalb der Familie vertraute sich Hitzlsperger keinem an
Der Fußballprofi Thomas Hitzlsperger hat sich außerhalb der Familie niemandem anvertraut, „und ich war mir immer völlig sicher, dass niemand in meinen Klubs etwas ahnte oder merkte oder wusste“. Dann aber ist er vor ein paar Monaten nach England gereist, in seine alte Fußballheimat, wo er früher für Aston Villa, West Ham United und den FC Everton spielte. In einer Buchhandlung sah er die Autobiografie seines früheren Teamkollegen Leon Osman, „ich hab sie gleich gekauft, wollte einfach mal sehen, ob er auch was über mich geschrieben hat“. Zu seiner Überraschung las Hitzlsperger, dass viele Kollegen in Everton über seine Homosexualität spekuliert hätten. „Keiner von uns hat es Thomas übel genommen, dass er nie etwas gesagt hat“, schreibt Osman. „Das war seine Privatsache, und natürlich wäre sie ein Thema im Stadion gewesen. Keiner will während eines Spiels Gesänge gegen sich hören.“
Nach einer guten Stunde ist das Mineralwasser ausgetrunken. „Alle Fragen beantwortet?“ Thomas Hitzlsperger steht auf, die Kumpels warten, gleich beginnt die Champions-League-Übertragung. „Es ist noch reichlich zu tun“, sagt er zum Abschied. Und: „Passen Sie mal auf, in fünf Jahren setzen wir uns wieder hier zusammen, und dann schauen wir mal zurück auf das, was alles in dieser Zeit passiert ist.“ Sein Gesichtsausdruck sagt: Thomas Hitzlsperger freut sich nicht nur auf dieses Gespräch im Frühjahr 2020.
Dieser Text ist auf dem QueerSpiegel, dem neuen queeren Blog des Tagesspiegels, erschienen, den Sie hier finden. Themenanregungen und Kritik gern im Kommentarbereich etwas weiter unten auf dieser Seite oder per Email an: queer@tagesspiegel.de. Twittern Sie mit unter dem Hashtag #Queerspiegel – zum Twitterfeed zum Queerspiegel geht es hier.