Erzbischof informiert sich bei Lesben- und Schwulenverband: 95 Fälle von Gewalt gegen homosexuelle Flüchtlinge
Heiner Koch, katholischer Erzbischof von Berlin, hat sich beim Lesben- und Schwulenverband über die Situation homosexueller Flüchtlinge informiert. Und hört erschreckende Zahlen und Geschichten.
Einige der Geschichten, die der hohe Geistliche hörte, waren so erschreckend, "dass es einem den Atem nimmt". Es waren Geschichten über das seelische und körperliche Leid von homo- und transsexuellen Flüchtlingen, die Heiner Koch, Erzbischof des Bistums Berlin, am Donnerstag Nachmittag hörte. Der Erzbischof saß in den Räumen des Lesben- und Schwulenverbands Berlin (LSVD), er hörte zum Beispiel solche Zahlen. Von 1. August bis 31. Dezember 2015 protokollierte der LSVD 95 Fälle von verbaler und körperlicher Gewalt gegenüber homo- und transsexuellen Flüchtlingen, Gewalt aufgrund der sexuellen Orientierung. 72 Mal waren Männer betroffen, 16 Mal transgeschlechtliche Menschen und sieben Mal lesbische Frauen.
Die meisten der Betroffenen, 92 genau, waren zwischen 18 und 30 Jahre alt, die restlichen Drei zwischen 31 und 40 Jahre. In 53 Fällen gab es Beleidigungen, Nötigungen und Drohungen. 13 Mal beklagten die Betroffenen sexuelle Übergriffe, 29 Mal wurde physische Gewalt ausgeübt. Die meisten Gewalttaten ereigneten sich in Flüchtlingsunterkünften.
Der Großteil der Fälle wurde nicht bei der Polizei angezeigt. "Da spielt die Scham eine große Rolle", sagte LSVD-Geschäftsführer Jörg Steinert. Darüber hinaus konstatierte der LSVD seit April 2015 in 19 Fällen verbale Beleidigungen, als ehrenamtliche Mitarbeiter des LSVD Flüchtlinge zu Ämtern begleiteten. Diese Beleidigungen wurden von Sicherheitsmitarbeitern und Sprachmittlern und -mittlerinnen geäußert. Im vergangenen Jahr fanden beim LSVD insgesamt 1453 Beratungen von Flüchtlingen statt. Viele Vorfälle werden aber auch gar nicht erst bekannt. "Die Dunkelziffer ist hoch", sagte Steinert.
Einer dieser betroffenen Flüchtlinge hatte Bischof Koch erst dazu gebracht, sich beim LSVD zu informieren. "Ein Flüchtling hatte mich nach meiner Einführungsmesse angesprochen und erklärt, er würde sich gerne aufgrund seiner sexuellen Orientierung mit mir unterhalten", sagte Koch. Daraufhin entstand die Idee, sich beim LSVD die Gesamtlage erklären zu lassen.
Und diese Gesamtlage brachte Koch sehr ins Nachdenken. "Es waren sehr bedrückende, sehr erschreckende Dinge, die ich erfahren habe", sagte er. Er waren Geschichten von Sachbearbeitern, die Flüchtlinge diskriminieren, von Dolmetschern, die bewusst schlecht übersetzen, von Übergriffen in Heimen. Ein Flüchtling spüre dann schmerzhaft, "dass die Würde des Menschen doch nicht unantastbar ist". Koch erklärte, er werde bei seinem Gesprächen mit Politikern anregen, "dass die solche Dinge zu einem Thema machen". Denn die "Not ist potenziert groß". Die Caritas, die soziale Hilfseinrichtung der katholischen Kirche, die sich sehr um Flüchtlinge kümmert, werde noch mehr als bisher dafür sorgen, "dass diese Gruppe der Flüchtlinge würdig ankommen kann".
Caritas-Direktorin Ulrike Kostka beklagte die Personalnot beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso), das sich um die Unterbringungen von Flüchtlingen kümmert. Da es dem Lageso an zuständigen Sachbearbeitern fehle, könne die Caritas pro Tag nur zehn homo-und transsexuelle Flüchtlinge betreuen. Die Caritas fungiert als eine Art Vermittlung zwischen LSVD und Lageso. "Wir als Caritas könnten mehr Personen betreuen, aber das geht wegen der Situation beim Lageso leider nicht", sagte sie.
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