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 Das Obdach verloren. Diese Menschen campieren in Kumalpur, einem Ort nahe der Hauptstadt Kathmandu, auf der Straße.
© dpa
Update

4000 Tote nach dem Erdbeben in Nepal: Zerstörung überall - Millionen warten auf Hilfe

Die Hilfswelle für die vom Erdbeben in Nepal Betroffenen rollt langsam an - es fehlt an Nahrung, an Wasser und an Medizin. Und niemand weiß, wie es in den Regionen außerhalb von Kathmandu aussieht

Nach dem verheerenden Erdbeben in Nepal warten Millionen Menschen verzweifelt auf Hilfe. Die Zahl der Toten stieg bis zum Montagnachmittag auf mehr als 4000. Tausende Menschen flohen aus der Hauptstadt Kathmandu. Mit Hubschraubern wurden erste Bergsteiger gerettet, die bei der Besteigung des Mount Everest weder vor noch zurück konnten. Viele Touristen wollen nur noch weg.

Die Hilfswelle rollt an, aber langsam. Nepal verfügt nur über einen internationalen Flughafen in der Hauptstadt Kathmandu. Dessen Kapazität würde für die Hilfsflüge selbst dann nicht ausreichen, wenn er nicht immer wieder wegen der Nachbeben stundenlang geschlossen werden müsste. Viele Straßen sind durch von den Beben ausgelöste Erdrutsche verschüttet und unbefahrbar. „So lange ist Kathmandu, dieses riesige Tal, im Prinzip eine Mausefalle, die von außen nur schwer zu versorgen ist“, beklagte der Nepal-Länderkoordinator von Caritas International, Peter Seidel, im ZDF-Morgenmagazin. Martin Keßler, Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe, berichtete, zudem seien die Kommunikationssysteme in Nepal überlastet. „Es wird Tage dauern, bis alle Verletzten geborgen und alle betroffenen Regionen erreicht sind, um das gesamte Ausmaß der Katastrophe abzuschätzen“, sagte er.

Verzweifelt bat die Regierung erneut um schnelle Hilfe. „Wir brauchen Zelte, Trockennahrung, Decken, Matratzen und Arzneien.“ Auch fehlten Hubschrauber, um zu den Eingeschlossenen zu gelangen. Nepal selbst verfügt über lediglich sechs Hubschrauber. Indien hat weitere Helikopter ins Nachbarland geschickt. Aber bisher war es wegen der schlechten Informationslage und starken Regens nicht möglich, aus der Luft Hilfsgüter in den Gebieten abzuwerfen, die bisher nicht erreicht worden sind.

Einige Hubschrauber sind im Einsatz, um Bergsteiger aus höheren Lagern am Mount Everest zu retten. Das hat der Bergsteiger Reinhold Messner im Radiosender hr-Info scharf kritisiert. „Im Kathmandutal und in den Schluchten drumherum ist eine viel größere Katastrophe passiert“, sagte er. Die Bergsteiger benötigten natürlich auch Hilfe, allerdings nicht vorrangig. „Es ist zynisch, dass man um die Bergsteiger am Mount Everest, die sich für bis zu 100 000 Dollar diese Besteigung kaufen können, einen solchen Hype macht.“

14 Staaten der Europäischen Union haben Hilfe angekündigt. Das Deutsche Rote Kreuz hat am Montag einen ersten Hilfsflug mit 60 Tonnen Material nach Kathmandu geschickt. Darunter ist auch eine Trinkwasseraufbereitungsanlage des Technischen Hilfswerks, das bereits am Wochenende ein Team losgeschickt hatte. Auch die Ärzte ohne Grenzen versuchen, schnell Helfer zu schicken.

Ernst Rauch von der Georisikoforschung des Rückversicherungskonzerns Munich Re sagte dem Tagesspiegel vor Kurzem mit Blick auf Vanuatu, das von einem Zyklon zerstört worden war, dass der Schaden für die Volkswirtschaft „intensiv und dauerhaft“ sei. Die Erfahrung zeige, dass sich „arme Staaten von solchen Naturkatastrophen nur sehr langsam wieder erholen“ könnten. Das gilt auch für Nepal.

Diese Statuen fielen in Patan dem Erdbeben zum Opfer.
Diese Statuen fielen in Patan dem Erdbeben zum Opfer.
© imago/Xinhua

In Kathmandu reichen die Verbrennungsstätten für die Toten nicht aus

Rauchwolken steigen über Kathmandu in den Himmel. Unten am heiligen Fluss Bagmati, am Pashupatinath-Tempel vor den Toren der Stadt, drängen sich hunderte Menschen. In langen Schlangen warten sie auf einen Platz, um ihre Toten zu verbrennen, wie es hinduistische Rituale vorschreiben. Doch die Verbrennungsstätten reichen nicht aus für all die Toten, die das Land zu beweinen hat.

Drei Tage nach dem schlimmsten Erdbeben seit 81 Jahren in Nepal wird immer deutlicher sichtbar, wie groß das Ausmaß der Katastrophe ist. Fast die Hälfte der Hauptstadt ist zerstört. Und noch weiß niemand, wie es in den Regionen rund um Lamjung aussieht, wo das Epizentrum des Bebens lag. Viele Bergdörfer sind nur aus der Luft oder in tagelangen Gewaltmärschen zu erreichen. Experten befürchten noch viel mehr Tote. „Erste Informationen sprechen von totaler Zerstörung“, sagt Jeremy Konyndyk vom amerikanischen Hilfswerk USAID.

Am Flughafen von Kalkutta bereiten sich indische Rettungskräfte auf den Abflug ins nepalesische Katastrophengebiet vor.
Am Flughafen von Kalkutta bereiten sich indische Rettungskräfte auf den Abflug ins nepalesische Katastrophengebiet vor.
© AFP

Weil der Flughafen überlastet ist, wurde die Maschine eines deutschen Ärzteteams der Hilfsorganisation Humedica nach Neu-Delhi umgeleitet. Dort warten die Helfer darauf, doch noch nach Kathmandu zu kommen. Die Zeit drängt. Millionen Menschen warten ohne Essen und Wasser auf Hilfe. Mindestens eine Million Kinder sind nach Angaben von Unicef von der Katastrophe betroffen. Unicef-Sprecherin Rupa Joshi beschrieb ihre Lage so: „Meine Familie ist erschüttert. Bei uns leben fünf Generationen unter einem Dach, von meiner 100 Jahre alten Großmutter bis zu meiner 16 Monate alten Enkelin. Die Nachbeben lassen uns nicht schlafen.“ Tausende Menschen fliehen aus der Hauptstadt Kathmandu. Andere campieren im Freien, viele haben nicht mehr als eine Decke, um sich gegen Kälte und Regen zu schützen. Selbst Präsident Ram Baran Yadav schläft in einem Zelt, weil seine Residenz von Rissen durchzogen ist. Experten warnen vor dem Ausbruch von Seuchen.

Wer überlebt hat, erfasst das Ausmaß der Katastrophe nur langsam. „Wir versuchten, ein Auto zu organisieren. Die Fahrt durch die Stadt war gespenstisch, die Fahrer sind verängstigt“, berichtet Barbara Zilly, die für die Deutsche Welthungerhilfe in Kathmandu arbeitet. „Wir haben aber Angst vor weiteren Nachbeben. Immerhin haben wir einen Innenhof, in dem wir uns aufhalten können. Ich weiß nicht, ob die Geschäfte morgen öffnen.“

Die Botschaften versuchen ihre Staatsbürger zu lokalisieren

Fieberhaft versuchen Botschaften, ihre Staatsbürger, die als Touristen in dem Land sind, zu lokalisieren. Urlauber berichten von komplettem Chaos. Am Flughafen versuchen Hunderte, einen Flug zu ergattern. „Wir haben alle Angst. Es gibt nichts zu essen. Wir haben seit dem Beben nichts mehr gegessen“, sagt die Kanadierin Pierre-Anne Dube. Dutzende Deutsche haben ihr Quartier auf dem Gelände der deutschen Botschaft in Nepal aufgeschlagen. Wie ein Sprecher des Auswärtigen Amtes am Montag berichtete, schlafen aktuell etwa 50 Menschen – Deutsche und einige Angehörige anderer Nationen – auf dem Botschaftsgelände. Viele können kaum Kontakt mit der Heimat aufnehmen. Internet und Stromnetz sind weitgehend zusammengebrochen, so dass jeder, dessen Handy noch ein wenig Akkuzeit besitzt, nur spärlich Kurznachrichten verschickt. Berliner, deren Verwandte gerade in Nepal sind, posten die Informationen über soziale Netzwerke. Eine junge Frau aus Zehlendorf schreibt auf Facebook über ihre Schwester: „Es geht ihr gut! Sie ist 150 Kilometer vom Epizentrum des Erdbebens entfernt in Hetauda. Dort hatten sie auch schlimme Nachbeben, aber sind alle wohlauf. Wir sind so erleichtert!“

Andere Ausländer, die sich in Nepal aufhalten, packen mit an. „Als ich hörte, dass die Krankenhäuser Freiwillige brauchen, habe ich mich sofort gemeldet“, erzählt die 28-jährige Heli Camarinha aus Portugal. Retter graben mit bloßen Händen in den Ruinen nach Überlebenden. Viele sind am Ende ihrer Kräfte. Ebenso wie Ärzte und Schwestern, die in den Hospitälern den nicht enden wollenden Strom der Verletzten versorgen. Patienten liegen auf Matratzen auf den Straßen. „Wir stehen alle kurz vor dem Zusammenbruch“, sagte Laxmi Prasad Dhakal vom Innenministerium.

Sarah Blin arbeitet für Handicap International. Die Organisation hat bereits Ärzte vor Ort, die komplizierte Wirbelsäulenverletzungen oder offene Wunden versorgen. Allerdings geht ihnen langsam das Verbandszeug aus. „Wir brauchen dringend Hilfe, um Spezialisten und Material ins Land zu bekommen“, schrieb sie dem Tagesspiegel.

Auch am Mount Everest geht das Bangen weiter. Dort sitzen hunderte Bergsteiger fest. Etwa 400 sollen ausländische Kletterer sein, die sich für 20 000 bis 50 000 Euro ihren Traum erfüllen wollten, den höchsten Berg der Welt zu bezwingen. Der Trip geriet zum Albtraum. Das Beben löste eine Lawine aus, die Teile des Basiscamps verwüstete, in dem sich 1000 Menschen aufgehalten haben sollen. Mindestens 19 Menschen starben, andere werden noch vermisst. Auch in den höheren Camps sind 100 Kletterer gefangen. Am Montag begannen Hubschrauber, die Festsitzenden von dort aus ins Basislager zu fliegen. Für die Piloten ist das wegen der dünnen Luft ein gefährliches Unterfangen.

Immer mehr Menschen drängen in die Städte - die Bebauung wird dort immer enger

Nepal ist der am dichtesten besiedelte Bergstaat der Welt und gilt als Hochrisikogebiet, weil dort die eurasische und die indische Kontinentalplatte aufeinandertreffen. Seit Jahren fordern Experten, zumindest Schulen und Krankenhäuser erdbebensicher umzubauen. „Erdbeben töten keine Menschen, unsichere Gebäude töten“, schrieb die Zeitung „Nepali Times“ schon 2014. Weil immer mehr Menschen vom Land in die Städte drängen, wird dort die Bebauung immer enger. Pfusch am Bau ist Alltag. Experten sind überrascht, wie viele neuere Gebäude nun doch dem Beben trotzten, während vor allem die historischen Bauten in der Altstadt zusammenstürzten. Obwohl seit Jahrzehnten unzählige Hilfsorganisationen im Land aktiv sind, gehört Nepal mit seinen 26 Millionen Einwohnern weiter zu den ärmsten Ländern Südasiens. Auch politisch ist die Lage instabil. Seit das Volk 2006 mit Massenprotesten den König entmachtete, lähmen politische Machtkämpfe die Regierung. Bis heute war das Parlament nicht in der Lage, eine neue Verfassung zu verabschieden.

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