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Die Kirchenbänke im Berliner Dom sind an Heiligabend dicht besetzt am Freitag.
© Marcel Mettelsiefen dpa/lbn

Einmal im Jahr in die Kirche: Wir sind die Weihnachtschristen

Wie viele andere Menschen geht unsere Autorin genau einmal im Jahr in die Kirche: Heiligabend. Und fragt sich: Muss ich deshalb ein schlechtes Gewissen haben? Ein Essay.

Ein Essay von Ann-Kathrin Hipp

Alle Jahre wieder kommt die Weihnachtschristin in mir raus. Dann krame ich das in Gold eingebundene, verstaubte Gebet- und Gesangbuch aus, das mir meine Uroma vor einer gefühlten Ewigkeit zur Kommunion geschenkt hat und eile gemeinsam mit meinen Eltern in die Dorfkirche, um noch einen der begehrten Sitzplätze zu ergattern.

Meist ist es für uns das einzige Mal im Jahr, dass wir den Gottesdienst besuchen. Papa, der früher Messdiener war, Mama, die vor ein paar Monaten aus der katholischen Kirche ausgetreten ist und ich, gefühlsmäßig irgendwo dazwischen. Die Messe an Heiligabend ist Teil unserer Tradition. Ich hinterfrage sie genauso wenig, wie Omas Plätzchen in der Adventszeit, unseren Tannenbaum mit den roten Glaskugeln oder das Racletteessen vor der Bescherung. Das alles gehört einfach dazu.

Dieses Gehört-Dazu-Gefühl herrscht nicht nur in unserer Familie. Dass die Gotteshäuser pünktlich zum Heiligen Abend gefüllt sind, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Jeder Fünfte wird auch in diesem Jahr hierzulande wieder einen Gottesdienst besuchen. So lautet das Ergebnis einer Insa-Umfrage. Vor dem Berliner Dom stehen dann Absperrgitter, um die Massen sicher in die Kirche zu schleusen und auf dem Land versammelt sich das ganze Dorf zum Gottesdienst. „Die meisten Leute feiern, weil die meisten Leute Weihnachten feiern“, hatte Kurt Tucholsky gesagt. In gewisser Weise hatte er wohl Recht.

Eine Grundlage des christlichen Glaubens ist, dass Gott überall ist und es für ihn kein Haus braucht. So ist es also vollkommen unwichtig, wie oft man in einen Gottesdienst geht. Wichtig ist, wie man sein Leben gestaltet, den Umgang mit dem Nächsten, mit den Schwachen der Gesellschaft und wie stark man versucht, innerhalb der 10 Gebote zu leben.

schreibt NutzerIn A.v.Lepsius

Das menschliche Bedürfnis nach Ritualen

Das Fest erfüllt das menschliche Bedürfnis nach Gemeinschaft und Ritualen. Viele suchen die Alle-Jahre-wieder-Stimmung, die Weihnachtslieder, die Krippe und den geschmückten Tannenbaum. Sie quetschen sich dann auf die sonst so leeren Kirchenbänke, falten fromm ihre Hände und singen „Christ, der Retter ist da“ – um direkt danach ihre einjährige Kirchenabstinenz bis zum nächsten Heiligabend anzutreten. Man hat es ja schließlich immer so gemacht.

Haben wir auch. Seitdem ich denken kann. Anders als zu Kindheitstagen klopft mittlerweile allerdings das schlechte Gewissen an, wenn ich an Heiligabend auf der hölzernen Kirchenbank sitze. Ob ich wohl gerade einem der wenigen Stammgäste den Platz wegnehme? Vielleicht doch lieber aufstehen? Stehplatz, ganz hinten. Da gehört man doch hin, als untreues Vereinsmitglied, als Einmal-im-Jahr-Kirchgänger. Andererseits: Ich bin mit der Kirche aufgewachsen und durch den christlichen Glauben sozialisiert worden. Ich bin getauft, zur Kommunion gegangen, gefirmt und zahle die Kirchensteuer. Ich war auf einer Journalistenschule, die christlich-ethische Leitlinien vertritt. Ich bin eine gläubige Christin.

Glaube ich jedenfalls.

Ziemlich oft zweifle ich aber auch.

Ich ärgere mich über die katholische Kirche als Institution. Ich ärgere mich darüber, dass Frauen keine Priester werden können, dass Priester im Zölibat leben müssen und dass es noch immer kein Amtsträger schafft, zu sagen, dass natürlich auch Homosexuelle Menschen und Christen mit gleichen Rechten sind. Abgesehen davon lässt sich mein aufgeklärtes Ich nicht unbedingt mit dem vereinbaren, was in der Bibel steht: Gott hat die Welt nun mal nicht an sieben Tagen erschaffen, eine Jungfrau kann kein Baby bekommen und wie soll jemand gleichzeitig Vater, Sohn und Heiliger Geist sein? Im wahren Sinne des Wortes schenkt wohl kaum einer der Bibel seinen Glauben, doch selbst über die Auslegung der Texte streiten Theologen. Für mich bleiben es deshalb Erzählungen. Literarische Stücke, die ich nicht genau zu interpretieren weiß, aber deren Kern doch seine Spuren hinterlässt.

Religiosität bleibt eine vage Vorstellung

Denn so sehr mich viele Glaubenslehren nicht überzeugen, so sehr verinnerliche ich die mir über das Christentum vermittelten Werte Nächstenliebe, Solidarität und Menschlichkeit. Und so sehr mir mein rationales Ich sagt, dass die Bibelgeschichten nur Märchen sind und Gott nicht existiert, so sehr kann ich nicht glauben, dass da einfach nichts ist.

Wir wissen nicht, ob es Gott gibt. Aber dass es ihn nicht gibt, wissen wir doch genauso wenig.

Und so schicke ich doch hin und wieder ein Stoßgebet Richtung Himmel, will glauben, dass es mehr gibt als nur das Leben vor dem Tod und zünde während meiner Reisen in Kirchen und Kapellen allerorts eine Kerze für meinen verstorbenen Opa an. Obwohl ich rein rational weiß, dass es ihn nicht mehr gibt und auch ein kleines Licht nichts mehr für ihn tun kann, gibt es doch einen Teil in mir, der darauf hofft.

„Für die Mehrheit derer, die überhaupt noch irgendwas mit dem Christentum anfangen können, ist Religiosität eine vage, unkonkrete Vorstellung“, sagt Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. In der heutigen Gesellschaft entbehre die Religiosität zunehmend konkreter Inhalte, der Glaube sei individualisiert. Dadurch gebe es Differenzen zwischen dem, was religiöse Eliten und Institutionen lehrten und dem, was die Menschen glaubten.

Wahrscheinlich, so Pollack, würden sogenannte Weihnachtschristen nicht darauf beharren, gläubige Christen zu sein. Gleichwohl würden sie ziemlich sicher sagen, dass es im Leben mehr gibt, als sie greifen können.

Religion setzt da an, wo Erklärungen fehlen. Insgeheim hegt wohl auch der modernste Mensch eine Sehnsucht nach etwas, das die Erklärungsmöglichkeiten im Diesseits überschreitet. Sind wir nicht alle auf der Suche nach irgendwas? Auf der Suche nach etwas mehr? Der Wunsch nach Höherem ist selbst den aufgeklärten Gesellschaften nicht auszutreiben. „Glaube ist Liebe zum Unsichtbaren“, hatte Goethe über die Sehnsucht nach Gott im Zeitalter der Vernunft gesagt. „Glaube ist Vertrauen auf das Unmögliche und Unwahrscheinliche.“ Vielleicht erklärt sich allein dadurch das Überleben der Religion in unserer heutigen Zeit: Glaube als der Lückenfüller, als das Mehr, das dort anfängt, wo unser Sein endet.

Die Weihnachtsgeschichte als Utopie

Weihnachten, sagt Pollack, biete den Menschen die Gelegenheit, diesem Mehr zumindest einmal im Jahr einen Raum zu geben. Wäre die Geschichte, um die sich das Fest dreht, eine sinnlose, so seine Erklärung, würden sich die Menschen nicht so angezogen fühlen.

Doch ist sie nun mal nicht sinnlos, diese Geschichte. Sie ist eine Utopie und enthält eine Botschaft, die auf ihre Weise ganz und gar wunderbar ist. Der Retter der Welt ist ein hilfloses Baby, geboren in einem Stall zwischen Ochs und Esel. Er ist kein Kaiser oder Krieger, hat weder Geld, noch Macht, aber er verspricht Heil und verkündet Liebe. Seine eigentliche Größe besteht in seiner Menschlichkeit. „Fürchtet euch nicht“ und „Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“, heißt es in der Weihnachtsgeschichte im Lukasevangelium.

Sie wird damit zur Friedensgeschichte und Weihnachten zur Antithese von Hass und Gewalt. An Weihnachten, so lautet auch mein Credo, sollte man sich vertragen und die Ambivalenzen des Lebens ausblenden. Nicht ihre historische Richtigkeit macht die Weihnachtsgeschichte würdig, sie immer wieder zu hören, sondern das, was sie transportiert. Mit ihr kehrt die Hoffnung auf das Gute in die Herzen der Menschen zurück.

Es ist ein kleines Wunder, alle Jahre wieder. Eins, das man nicht erklären kann, das man vielleicht aber auch nicht erklären muss.

Werteorientiert, gläubig, oder gläubiger Christ?

Die Kirchenbänke im Berliner Dom sind an Heiligabend dicht besetzt am Freitag.
Die Kirchenbänke im Berliner Dom sind an Heiligabend dicht besetzt am Freitag.
© Marcel Mettelsiefen dpa/lbn

Wahrscheinlich ist die Weihnachtsgeschichte die schönste Geschichte, die man in der Bibel finden kann. Doch das Buch der Bücher ist voll von Erzählungen, in denen gerettet, geheilt und von den Toten auferweckt wird. Voll von Hoffnungsgeschichten. Im Neuen Testament bleibt Jesus der Held. Er geht ohne Angst durchs Leben, kümmert sich um Kranke und Ausgestoßene, vermehrt Fische und Brot damit keiner hungern muss und pfeift auf Vorurteile. „Jede Art von Leiden und jede Art von Gebrechen unter dem Volk“ wird geheilt, schreibt Matthäus in seinem Evangelium über den Retter der Welt.

Und wenn man an Weihnachten seine Geburt feiert, hofft man dann nicht, dass solche Geschichten real werden? Hat man dann nicht das Gefühl, egal ob man Jesus nun für Gottes Sohn hält oder nicht, dass es mehr solcher Menschen bräuchte?

Zumindest habe ich das. Dann sitze ich im Weihnachtsgottesdienst und denke darüber nach, wie es wohl wäre, wenn die Welt plötzlich zu einem heilen und perfekten Ort wird. Nächstenliebe ist dann real. Jeder begegnet jedem vorurteilsfrei. Es ist egal, woher man kommt und egal, wohin man geht. Wichtig ist nur, wer man ist und jeder kann sein, wer er sein möchte. Hass und Krieg gibt es nicht mehr. Essen kann man vermehren, damit es alle satt macht. Und Liebe und Freundschaft sind die wahre Währung.

Es braucht nicht die Diktatoren dieser Welt, es reicht allein der Blick auf mein eigenes Verhalten, um festzustellen, wie weit eine solche Utopie von der Realität entfernt ist. Um festzustellen, dass die Ideale in der Theorie wunderbar, praktisch aber schwer umzusetzen sind. Nicht nur im Jahr 2017.

Das Klischee des alten Pfarrers vor der alten Gemeinde

Mein Leben zählt 24 Jahre. Die Zahl meiner Gottesdienstbesuche liegt durchaus höher. Es gab mehr als nur das Weihnachtsprozedere. Aber gerade in unserer Gemeinde war dieses Mehr für junge Menschen sehr spärlich ausgelegt. Ich wurde nie von meinen Eltern gezwungen in die Kirche zu gehen, aber hin und wieder hat es sich ergeben. Da stand der alte Pfarrer vor einer alten Gemeinde und hat Dinge erzählt, die ich nicht verstanden habe. Und die alte Gemeinde sang noch unverständlichere Lieder auf Latein.

Ich bin aufgestanden, habe mich hingesetzt und bin auf die Knie gegangen, weil es dazu gehört. Ich habe den Herrn um Erbarmen gebeten, Gott gedankt und Christus gelobt, ohne zu wissen wofür eigentlich. Die zwei Gottesdienstmomente, die ich damals schon mochte und die ich bis heute mag, waren die Fürbitten und der Friedensgruß. Das war logisch und simpel. Das war wie die Weihnachtsgeschichte.

Natürlich gibt es auch gute Gottesdienste und junge Menschen, die sich in der Kirche engagieren. Menschen denen es gelingt, die christliche Botschaft an unsere heutige Zeit anzupassen. Ich habe es jedes Mal genossen, wenn ich ihnen begegnet bin. Aber ich habe nicht explizit nach ihnen gesucht und tue es auch heute nicht. Wahrscheinlich, weil mir reicht, wie es ist.

Ich fühle mich mit der Kirche verbunden, bin nicht eins mit ihr, aber kann auch nicht ganz loslassen. Muss ich da wirklich entscheiden, ob ich nun werteorientiert, gläubig, ein gläubiger Christ oder ein guter gläubiger Christ bin? Kann ich nicht einfach den Glauben an das Gute mit einem vagen Glauben an Gott und meiner katholischen Sozialisierung verbinden und dadurch Christ sein? Kann ich nicht nur einmal im Jahr in die Kirche gehen?

Kirche muss wieder mehr Stall als Palast werden

Sicher gibt es Dogmatiker, die nein sagen und mich an meine katholischen Pflichten erinnern würden. An den sonntäglichen Gottesdienst, an die Gemeindearbeit und an mein Glaubensbekenntnis. Der neue Pfarrer meiner einstigen Heimatgemeinde in Stromberg im Hunsrück zählt nicht zu ihnen. Er zieht andere Schlüsse. Die Kirche erlebe zurzeit einen riesigen Umbruch, in dem es wichtig sei, nicht an Dingen festzuhalten, sagt Augustinus Jünemann. Sie dürfe nicht weiter „Mater et magistra“ sein, Mutter und Lehrmeisterin, sondern müsse Dienstleisterin werden und vom Einzelnen her denken. Sie müsse als Begleiter am Wegrand stehen und auch dann da sein, wenn sie erst nach 50 Jahren gebraucht werde. Mit einer solchen Entwicklung würde die Kirche insgesamt vielleicht kleiner, hätte weniger Macht und weniger Tamtam. Aber sie würde wieder ehrlicher, sagt er, wieder mehr Stall als Palast.

Bis dahin bleibt der Gottesdienst an Weihnachten wohl mein kleinster gemeinsamer Nenner mit der Kirche.

Das Gebet- und Gesangsbuch meiner Uroma ist nicht mehr aktuell. Es gibt ein neues: gleiche Lieder, andere Seitenzahlen. Ich benutze das alte trotzdem. Dann muss man die Texte eben suchen. Mama singt sowieso nicht mit und Papa kennt die Lieder auswendig. Mit voller Inbrunst und schiefen Tönen singt er „Es ist ein Ros entsprungen“, während der Rest unserer kleinen Familie in sich hinein grinst. Es ist schön. Auch, weil es immer schon so war.

Weihnachten, das ist neben all den Gedanken über Gott und den Glauben immer eine Reise zurück in die Kindheit. Zurück zur Heimat, zur Familie und zur Geborgenheit. Ich verlasse die Kirche mit einem molligen Gefühl im Bauch. Mit einem Gefühl, von dem ich mir wünsche, dass es bleibt und trägt.

Vielleicht sogar bis zum nächsten Jahr.

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