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Unter Aufsicht. Der Staat tritt in San Luca eher symbolisch auf – unter Kontrolle hat er die Region nicht.
© Franco Cufari/dpa-pa

Italien: Wie die Mafia die Kleinstadt San Luca beherrscht

Die Kleinstadt San Luca in Kalabrien gilt als unregierbare Hochburg der Ndrangheta. Wie Blei lastet die Mafia über dem Ort und seinen Bewohnern.

Über die Ndrangheta redet man nicht gerne in San Luca. Auch nicht in der kleinen Bar von Maurizio neben der Kirche im alten Dorfzentrum. Wenn man als Fremder das düstere Lokal betritt, werden alle Gespräche unterbrochen und eine bedrückende Stille macht sich breit.

Es sitzen ausschließlich ältere Männer an den billigen Tischen aus weißem und rotem Plastik; die meisten haben eine Flasche Bier vor sich. Als sich der Fremde danach erkundigt, ob man es in San Luca nicht leid sei, dass die Kleinstadt immer im gleichen Atemzug mit der Ndrangheta genannt werde, stehen die Männer wortlos auf und verlassen den Raum. Nur Barmann Maurizio, ein bulliger Mann um die sechzig, steht noch hinter dem Tresen und sagt entschuldigend: „Wissen Sie, wir haben schon genug Probleme hier.“

Tatsächlich wirkt San Luca auf erschreckende Weise arm, verlottert, rückständig. Der Ort mit seinen 4000 Einwohnern liegt malerisch an einem besonnten Abhang des bis zu 2000 Meter hohen Aspromonte-Gebirges an der Südspitze von Kalabrien; vom Dorfplatz sieht man die Orangenplantagen in der Ebene und die Badeorte am Ionischen Meer. Doch in San Luca selber dominieren schäbige, halbfertige Häuser und Betonskelette, die vor Jahrzehnten ohne Baubewilligung begonnen und nie zu Ende gebaut wurden. An Schule und Gemeindehaus blättert der Putz, die wenigen Dorfläden sind armselig und ungepflegt, verwahrloste Hunde und Katzen streunen durch die Gassen. Die älteren Frauen tragen schwarze Röcke und Kopftücher, manche balancieren schwere Lasten auf dem Kopf.

San Luca ist, zusammen mit der Camorra-Hochburg Casal del Principe bei Neapel, für Italiener das Mafia-Dorf schlechthin. 2007 wurde das Bergdorf auch außerhalb Italiens zu einem Begriff: Ein Killerkommando hatte vor zehn Jahren in einer Pizzeria in der Duisburger Innenstadt sechs Menschen erschossen – die Täter und die Opfer stammten aus San Luca. Die tödliche Schießerei war der Höhepunkt einer jahrelangen Fehde zwischen den Clans der Nirta-Strangio-Familie und der Pelle-Vottari-Familie gewesen, die 1991 wegen eines läppischen Eierwurfs während des Karnevals von San Luca begonnen hatte.

Mafia-Dorf schlechthin

Das Blutbad ist inzwischen juristisch aufgearbeitet; die Täter sitzen in Isolationshaft. Doch die Schießerei und die Namen der beteiligten Clans und zahlreicher anderer Ndrangheta-Familien lasten bleiern auf dem Ort. Fast jeder Einwohner hier ist verwandt oder verschwägert mit einem mutmaßlichen Mafioso. Seit März muss sich sogar Priester Don Pino Strangio wegen Zugehörigkeit zur Mafia und zur Freimaurerei vor Gericht verantworten. Auch er möchte nicht über die Ndrangheta reden. Im Juni wurde in San Luca der bisher letzte Clan-Boss des Ortes, Giuseppe Giorgi, verhaftet. Als er von Beamten abgeführt wurde, warteten zahlreiche Einwohner vor seinem Haus, um dem Clan-Oberhaupt aus Ehrerbietung die Hand zu küssen.

Die Behörden von San Luca waren von lokalen Mafia-Clans derart unterwandert, dass die Regierung in Rom 2013 den Gemeinderat auflöste und einen Sonderkommissar einsetzte. Seither konnte halbwegs sichergestellt werden, dass die wenigen öffentlichen Aufträge der Gemeinde ordentlich ausgeschrieben und an „saubere“ Unternehmen vergeben werden. Im April wurde ein neuer Fußballplatz an die wenigen Jugendlichen übergeben – ein symbolträchtiger Akt, zu dem hohe Regierungsvertreter aus Rom, der kalabrische Anti-Mafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri und der Ortsbischof aus der Diözese Locri angereist kamen. „Der neue Fußballplatz ist der Beweis, dass sich der Staat aus San Luca nicht verabschiedet hat“, beteuerte Staatssekretärin Elena Boschi.

Doch letztlich herrscht in San Luca immer noch das Gesetz der Ndrangheta. Das zeigt sich anschaulich, wenn Gemeindewahlen anstehen: 2015, als der Sonderkommissar wieder durch einen ordentlich gewählten Bürgermeister abgelöst werden sollte, meldete sich nur ein einziger Kandidat – und die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger blieb am Wahltag zu Hause, womit die Wahl ungültig war und die Amtszeit des Kommissars verlängert wurde. Anfang 2017 mochte überhaupt niemand mehr Bürgermeister werden: Mehrere hundert Einwohner baten Innenminister Marco Minniti stattdessen in einem Brief, das Mandat des Kommissars doch erneut zu verlängern. „Dass sich keine Bürgerinnen und Bürger mehr finden, die sich in der Gemeindepolitik engagieren, liegt zum einen sicher an der Angst vor der Mafia“, sagt ein Angestellter der Gemeindeverwaltung, der anonym bleiben will. „Doch noch größer ist die Furcht vor der Anti-Mafia.“ Denn wer Gemeinderat werde, komme früher oder später in irgendeiner Form in Kontakt mit den Clans. Gleichzeitig könne man sicher sein, dass das Telefon „vom ersten Arbeitstag an von der Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft abgehört“ werde, man verhaftet und wegen Begünstigung der Mafia für mehrere Jahre ins Gefängnis wandern könne, „obwohl man wahrscheinlich nichts Illegales getan hat“, erzählt der Gemeindeangestellte. So sei es fast unmöglich, noch Kandidaten für politische Ämter zu finden.

Keine Institution ist immun

Verhaftungen von Politikern und Funktionären der übergeordneten Provinz- und Regionalbehörden belegen, dass keine Institution immun ist gegen die Infiltration durch die Ndrangheta. Und wer sich ernsthaft dagegen stemmt, riskiert sein Leben. „Im Grunde werden wir vom Staat uns selbst überlassen, trotz des Einsatzes des Sonderkommissars“, ist man sich in der Gemeindeverwaltung von San Luca einig. Es gebe kaum Infrastruktur, kein Kino, keine Kultur und schon gar keine Arbeitsplätze. „Diejenigen der Jungen, die das können, wandern ins Ausland ab.“ Die Großunternehmen, die der Zentralstaat in Kalabrien in den Siebzigerjahren ansiedelte, sind längst wieder geschlossen – sofern sie überhaupt einmal in Betrieb waren. Die staatlichen Investitionen waren zum größten Teil an die Ndrangheta geflossen. Laut einer Studie kosten die Machenschaften der Mafia die Region Kalabrien durch getürkte Ausschreibungen und Ineffizienz jedes Jahr 1,2 Milliarden Euro. 40 000 Betriebe werden gezwungen, Schutzgelder zu zahlen.

Die Ndrangheta ist inzwischen die gefährlichste und mächtigste Mafia-Organisation Europas; mit Drogen- und Waffenhandel, Prostitution und Glücksspiel, Schutzgelderpressung und Geldwäsche setzt sie jedes Jahr weltweit 60 Milliarden Euro um – fast das Doppelte des Bruttosozialprodukts von Kalabrien. Ihre Gewinne investiert sie nicht in der armen Heimatregion, sondern in Norditalien, Deutschland, der Schweiz, den USA und Australien. Aber ihr „Kopf“ ist in den Bergtälern und Flussläufen des Aspromonte um San Luca geblieben, hier werden die Entscheidungen getroffen.

„Die Macht der Ndrangheta liegt darin begründet, dass viele Kalabrier selber ein gespanntes Verhältnis zum Staat haben; manche sehen in ihm gar den Ursprung allen Übels“, erklärt das die Anthropologin und Anti-Mafia-Aktivistin Chiara Tommasello. Das sei ein „idealer Humus für den Anti-Staat“. Die Mafia sei hier oft die einzige Organisation, die arbeitslosen Jugendlichen Arbeit vermittele – und sei es im Drogenhandel oder bei der Schutzgelderpressung. Andere Hilfen erwarteten viele Kalabrier in dieser gott- und staatsverlassenen Gegend nicht mehr.

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