Im Kino: „Das Land der Heiligen“: Kalabrien und die Frauen
Kalabrien ist erzkatholisch und fest in der Umklammerung der ’Ndrangheta. Regisseur Fernando Muraca zeigt „Das Land der Heiligen“ in seinem gleichnamigen Mafiadrama aus weiblicher Perspektive.
Die kalabrische ’Ndrangheta gilt als mächtigste Mafia in Europa. Jährlich erwirtschaftet sie über 50 Milliarden Euro mit Drogenhandel, Menschenschmuggel und Müllgeschäften. Die Organisation agiert weltweit, aber ihr Reich liegt in einem rauen Teil Süditaliens, der auch „Land der Heiligen“ genannt wird.
Mit den Heiligen sind die katholischen Schutzpatrone gemeint, aber genauso die Mitglieder der ’Ndranghetisti. Die Herrschaft der Familienclans durchzieht alle Sphären der kalabrischen Gesellschaft, ihre Macht fußt auf dem Schweigen der Bevölkerung – und auf dem der Mafiosi. Wer redet, verrät seine Blutsverwandten.
Dieses Schweigekartell versucht die furchtlose Einzelkämpferin Vittoria in Fernando Muracas „Das Land der Heiligen“ zu brechen. Mit ihrem Idealismus und ihrem militanten Nichtrauchen wirkt die Staatsanwältin aus dem Norden Italiens (Valeria Solarino), die ihre morgendlichen Joggingrunden am vermüllten Strand dreht, in dieser von Gewalt und Männern regierten Welt wie eine Außerirdische. Anders die Schwestern Caterina (Lorenza Indovina) und Assunta (Daniela Marra): Aus Kalabrien stammend, sind ihre Plätze in der Gesellschaft vorgezeichnet. Caterina wurde mit dem örtlichen ’Ndrangheta- Chef verheiratet, Assunta, nach dem Tod ihres Mannes, mit dessen Bruder Nando (Francesco Colella).
Die Staatsanwältin macht Druck auf die Eltern
Als auch Nando verhaftet wird, steht Assunta mit ihren beiden Söhnen allein da. Und Vittoria sieht ihre Chance, Assunta zum Reden zu bringen. Sie setzt die Kinder als Druckmittel ein: Will sie ihre Söhne etwa hinter Gittern oder tot sehen, erpresst sie Assunta. Was für eine Mutter überlasse die Zukunft ihres Sohnes der Mafia? Vittoria erwirkt sogar beim Jugendamt, dass Assunta und Caterina das Sorgerecht für die Kinder entzogen wird.
Fernando Muraca lotet in seinem Debütfilm den Spielraum der Frauen in der kalabrischen Gesellschaft aus. Hätten sie es nicht in der Hand, einen Mentalitätswandel anzustiften und damit die Macht der ’Ndrangheta über die Familien zu brechen? Statt zu urteilen, beschreibt er den Konflikt dreier gegensätzlicher Frauencharaktere. Die machtbewusste Caterina bereitet ihren Sohn darauf vor, in die Fußstapfen des Chefs zu treten. Die bedrängte Assunta verteidigt ihre Kinder wie eine Löwin. Und die kinderlose Staatsanwältin, auf ihre Art ebenfalls eine Mutterfigur, versucht die Jungen vor dem sicheren Tod zu bewahren. Vor allem Daniela Marra überzeugt in der Rolle Assuntas, einer Gejagten mit merkwürdig herbem Glanz im Blick.
Die Außenperspektive als Anstoß zur Veränderung
In den Auseinandersetzungen mit ihr können sich die weniger nuancierten Charaktere entfalten. Einmal schreit Assunta der emanzipierten Vittoria ins Gesicht: „Ihre Visage gefällt mir nicht, was sie tun gefällt mir nicht. Sie haben nichts über Kalabrien verstanden.“ In der Reaktion der Staatsanwältin spiegeln sich Scham, Trotz und Mitleid. Der kurze Dialog drückt das ganze Paradox des Films aus: Wie leicht eine archaische Kultur von außen kritisiert werden kann, und wie notwendig gleichzeitig diese Außenperspektive als Anstoß zu Veränderung ist.
Vielleicht besteht genau darin das Problem des Films. Regisseur Muraca hebt die Handlungsmöglichkeiten der Frauen hervor, schreckt aber davor zurück, ihnen zu viel Verantwortung für Verhältnisse zu geben, deren Opfer sie auch sind. An diesem Punkt bricht „Das Land der Heiligen“, nach gerade mal 80 Minuten, unvermittelt ab. Viel zu früh. Es ist selten genug, dass die weibliche Perspektive auf die Mafia so einfühlsam beschrieben wird.
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Carolin Haentjes