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Keine Ruhepause. Zuletzt brannte das halbfertige Einkaufszentrum, das einst eine irakisch-britische Stararchitektin entworfen hatte.
© Anwar Amro/AFP

Beirut brennt: Warum die Wut der Menschen auf den libanesischen Staat wächst

Immer wieder gehen Häuser in der libanesischen Hauptstadt in Flammen auf. Oft ist die Feuerwehr nicht in der Lage zu helfen.

Der Ingenieur im ersten Stock des Gebäudes, das am Morgen noch gebrannt hat, gibt sich keine Mühe, seine Fassungslosigkeit zu verbergen. Er zieht die Maske von seinem Gesicht und ruft: „Der Grund für dieses Feuer? Ein Fluch! Ein Fluch liegt auf diesem Land, spätestens seit diesem Jahr!“

Am Dienstagmorgen war in Libanons Hauptstadt mal wieder ein Brand ausgebrochen. Dieses Mal traf es das halbfertige Einkaufszentrum, das einst die verstorbene irakisch-britische Stararchitektin Zahar Hadid entworfen hatte. Ein Riesen-Iglu mit Wabenfassade im nach dem Bürgerkrieg wiederaufgebauten Downtown-Distrikt. Ein futuristisches Ungetüm, das in Beirut jeder kennt. Syrische Arbeiter waren auf der Nordostseite mit Reparaturarbeiten beschäftigt, die nach den Zerstörungen der Explosion vom 4. August noch andauern, als plötzlich aus einem der oberen Stockwerke in einem anderen Gebäudeteil dichter Rauch quoll und Flammen die Fassade hochleckten.

„Es ist komisch. Wir wissen es auch nicht“, erklärten einige der Männer wenige Stunden später, angesprochen auf den Grund des Feuers, nachdem der Brand längst gelöscht war. Der Fernsehsender MTV hatte zuvor vermeldet, dass es erneut ein Schweißunfall gewesen sei, der den Hadid-Bau entzündete.

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Falls das stimmt, wäre es das vierte Mal binnen sechs Wochen gewesen, dass solche Arbeiten ein kleines oder großes Inferno verursachten. Am 4. August hatten angeblich Schweißer in einer Lagerhalle im Hafen aus Versehen Feuerwerkskörper entzündet, die danach eine gewaltige Ladung von schätzungsweise 2750 Tonnen Ammoniumnitrat zur Detonation brachten.

Die größte Explosion in der Landesgeschichte tötete mindestens 181 Menschen und machte rund 300 000 Bewohner der Hauptstadt obdachlos. Noch unter dem Eindruck dieses Traumas mussten die Beirutis mit ansehen, wie in der vergangenen Woche zunächst ein großer Haufen Unrat im zerstörten Teil des Hafens brannte und zwei Tage später ein erneuter Brand weite Teile der Lagerhallen und deren Inhalte vernichtete.

Die Apokalypse ist für die Bewohner zum Alltag geworden

Das letzte Feuer fraß sich durch Vorräte von Kochöl und ein Reifenlager, bis es schließlich einen Bereich erreichte, in dem nach der Explosion eingetroffene Hilfsgüter gelagert waren. Über der verwüsteten Stadt stand am vergangenen Mittwoch eine tiefschwarze Rauchwolke, die Luft stank nach verbranntem Gummi, später ging ein alles verschmutzender Ascheregen auf Beirut nieder. Die Apokalypse ist für die Bewohner der Stadt zum Alltag geworden. Kein Wunder, dass viele mit Zynismus auf die ständigen Horrornachrichten reagieren. Eine junge Reporterin twitterte: „Wir brauchen alle einen Crashkurs im Schweißen!“ Andere Libanesen posteten scherzend Fotos von Flammenwerfern, die man in diesem Land offenbar für solche Arbeiten verwendet.

Mahmud Ghazaeyel, ein Aktivist, der sich mit Verschwörungstheorien befasst und laufend Social Media beobachtet, sagt: „Im Libanon kann man nie genau wissen, wieso so etwas passiert. Die Lage ist einfach komplett undurchsichtig.“ Selbst nach der Explosionskatastrophe vom 4. August hat der eingesetzte Oberermittler noch keinen Bericht oder auch nur eine einzige Seite vorläufiger Ergebnisse vorgelegt. Wo die Bevölkerung so im Dunkeln gelassen wird, schießen die Verschwörungstheorien ins Kraut. Ghazaeyel: „In diesen geht es meistens darum, dass diese Feuer Beweise vernichten sollen oder dass die Israelis die Explosion ausgelöst haben.“

Die öffentlichen Dienste sind kaputtgespart

Mona Harb, Stadtplanungsprofessorin an der American University of Beirut, sieht einen anderen Zusammenhang: „Die immer weiter kollabierende Infrastruktur der Stadt.“ Nicht nur das Elektrizitätssystem ist völlig marode, auch die Wasserversorgung ist für eine Millionenstadt wie Beirut komplett unangemessen. Das Leitungswasser ist für den menschlichen Verzehr ungeeignet, oft sind die kaputten Leitungen unter der Stadt nur sechs Stunden am Tag überhaupt gefüllt; ein Hydrantensystem kann es in dieser Lage gar nicht geben.

Hinzu kommt, dass die öffentlichen Dienste kaputtgespart und dadurch sowohl qualitativ als auch quantitativ unterversorgt sind. Schuld daran ist das Konfessionssystem, in dem der Staat zwischen den religiösen Gruppen und Parteien als Beutegut aufgeteilt wird und Dienstleistungen für die Versorgung oder den Schutz der größeren Allgemeinheit sträflich vernachlässigt werden.

George Abu Mussa ist einer der Männer, die das ausbaden müssen. Er ist Operationsleiter beim Zivilschutz, der Behörde, die – zu einem Großteil auf den Einsatz von Freiwilligen bauend – den Brandschutz zu verantworten hat. Im ganzen Land, das rund sechs Millionen Einwohner hat, beschäftigt diese Difaa Madani gerade einmal 600 Festangestellte. „Wir bräuchten aber mindestens 4000“, sagt Abu Mussa. Außerdem benötigten seine Kollegen mal wieder neue Fahrzeuge. Die letzten ungebrauchten Anschaffungen stammen aus dem Jahr 2001.

Am heutigen Mittwoch werden dem Zivilschutz acht Krankenwagen übergeben, die die Münchner Organisation Orienthelfer mithilfe der Europäischen Union in den Libanon eingeflogen hat. Auch der FC Bayern hatte dafür nach der Explosion spontan 200 000 Euro gespendet. Die Fahrzeugspende könnte beim nächsten Feuer zumindest den Brandopfern helfen.

Thore Schröder

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