Heilige Stadt ohne Pilger: Stille auf Jerusalems Straßen an Corona-Weihnachten
Die Weihnachtsgäste bleiben dieses Jahr weg. Das stellt die christliche Gemeinschaft Jerusalems vor große Probleme. Denn eine wichtige Einnahmequelle bricht weg.
Gespenstisch still ist es im christlichen Viertel der Altstadt Jerusalems. Die engen Gassen, durch die sich sonst Reisende aus aller Welt drängen, liegen verlassen da. Souvenirläden, die zu dieser Jahreszeit sonst Kreuze aus Olivenholz und blinkende Plastikchristbäume anbieten, verbergen sich hinter grauen Metalltoren. Nur ein paar geflochtene Weihnachtssterne, über die leeren Straßen gespannt, erinnern daran, dass Heiligabend vor der Tür steht.
Seit Israel im Frühjahr seine Grenzen geschlossen hat, um die Covid-19-Pandemie einzudämmen, gelangen keine Touristen mehr ins Land. „Hinter jeder verschlossenen Ladentür verbirgt sich das Schicksal einer Familie“, sagt Joachim Lenz, Probst der evangelischen Erlöserkirche in Jerusalem. „Das ist hochdramatisch, ganz anders als in unserem gut ausgebauten Sozialsystem in Deutschland.“
Lenz selbst hatte wenig Zeit, sich in der Ausnahmesituation zurechtzufinden: Er trat sein Amt erst im Sommer an, als die Pandemie in Israel und den Palästinensergebieten längst wütete. Seitdem müssen er und seine Mitarbeiter auf ständig neue Regeln reagieren.
Derzeit dürfen sich nach den israelischen Bestimmungen nur zehn Personen gemeinsam in Innenräumen aufhalten. Deshalb finden Gottesdienste und soziale Veranstaltungen der Erlöserkirche im Freien statt, wo Versammlungen von zwanzig Menschen erlaubt sind. Für die Weihnachtsmesse plant Lenz, die äußeren Ränge im ersten Stock des Gebäudes mitzunutzen, sodass vierzig Menschen teilnehmen können.
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Zu normalen Zeiten besuchten 200 bis 400 Menschen den Gottesdienst, berichtet Lenz. Doch bei den meisten von ihnen handelte es sich um Touristen, Pilger, Austauschstudenten und Freiwillige. Ohne sie ist die Gemeinde auf wenige Dutzend geschrumpft, in der Regel Deutsche, die für einige Jahre in Israel leben. Ihnen versucht Lenz trotz allem ein Gefühl von Gemeinschaft zu vermitteln: So lud er Familien zum Laternenbasteln ein, veranstaltete einen Nachmittag mit Glühwein und ein improvisiertes Krippenspiel. „Wir versuchen, ein bisschen deutsches Heimatgefühl zu vermitteln“, erklärt er, „und auch mal etwas Leichtes, Heiteres anzubieten.“
Mit dem Tourismus ist eine wichtige Einnahmequelle weggebrochen
Es sind nicht nur organisatorische und spirituelle Herausforderungen, die die Kirchen im Heiligen Land in diesem außergewöhnlichen Jahr zu bewältigen haben. Mit dem Tourismus ist auch eine wichtige Einnahmequelle weggebrochen. Die Erlöserkirche etwa betreibt ein Gästehaus, das sonst die Gemeindearbeit finanziert. Seit März ist es geschlossen, die Angestellten mussten gehen. Einige von ihnen leben im Westjordanland unter der Palästinensischen Autonomiebehörde und erhalten, anders als Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft, kein Kurzarbeitergeld. Die Kirche unterstützt sie deshalb aus eigener Tasche. Dafür muss sie Reserven anzapfen, die eigentlich für Umbauarbeiten gedacht waren.
Den katholischen Einrichtungen vom Deutschen Verein vom Heiligen Lande (DVHL) geht es ähnlich. „Wir stehen vor einer der größten Herausforderungen unserer Geschichte“, sagt Georg Röwekamp, der den Verein bis vor Kurzem in Jerusalem vertrat und nun dessen Liegestätten am See Genezareth leitet. Auch der DVHL unterstützt entlassene Mitarbeiter weiter, obwohl die sonst so wichtigen Einnahmen aus den Gästehäusern versiegt sind. „Eigentlich bräuchten wir mehr Geld als sonst“, stellt Röwekamp fest, „haben aber weniger.“
Knapp 500 Meter von der Erlöserkirche in Jerusalem entfernt stehen die katholische Salvatorkirche und das angeschlossene franziskanische Kloster. Pfarrer Amjad Sabbara empfängt in seinem Büro, einem großzügigen Raum mit polierten Holzmöbeln und einem Kreuz an der Wand. Der 54-Jährige, der Jeans und Wollpullover unter dem braunen Talar trägt, hat schon einiges erlebt. Er diente etwa in Bethlehem während der Zweiten Intifada. „Jede Krise bringt einen näher zu Gott“, sagt er ruhig. Doch die Corona-Pandemie stellt auch ihn vor neue Herausforderungen.
Rund 3500 Christen aus Jerusalem und umliegenden arabisch-palästinensischen Dörfern gehören seiner Gemeinde an. „Viele haben finanzielle und familiäre Probleme“, berichtet er. „Vor allem die Männer sind es nicht gewohnt, den ganzen Tag zu Hause zu sitzen.“ Er telefoniert, hält Andachten über Zoom und empfängt Menschen, die seinen Rat suchen. Um bedürftigen Mitgliedern zu helfen, hat die Kirche einen Wohltätigkeitsfonds eingerichtet; zu Weihnachten will sie Geschenke und Gutscheine an die Ärmsten verteilen lassen. „Wir versuchen, ein wenig Hoffnung zu geben.“
Manche Anwohner beweisen inmitten der Krise jedoch robusten Optimismus. Nahe dem New Gate, einem der westlichen Zugänge zur Jerusalemer Altstadt, strahlt zwischen düsteren Metalltoren warmes Licht aus dem Schaufenster einer kleinen Bäckerei, der „Patisserie Abu Seir“. Drinnen steht ein üppig geschmückter Christbaum, die Kaffeemaschine trägt Weihnachtsmütze und neben der Kasse liegen weiß gepuderte Christstollen aus.
Es gibt Tee, Lichterketten und Stollen nach deutschem Rezept
„Deutsches Rezept!“, sagt die junge Frau hinter der Theke und grinst verschmitzt. Sie heißt Sarah Abu Seir, ist 22 Jahre alt und hat die katholische Schmidt-Schule des DVHL in Ost-Jerusalem besucht. Während sie die Kunden bedient, arbeitet ihre Schwester in der Küche, ihr Vater backt und ihre Mutter kümmert sich um die Finanzen. Ein Familiengeschäft, wie es typisch ist für die palästinensische Gesellschaft.
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Erst im Juni hat die Bäckerei eröffnet. „Wir dachten, in dieser Zeit brauchen die Leute einen Ort, an dem sie sich wohlfühlen können“, sagt Sarah Abu Seir lächelnd, während sie Kaffee an zwei Kunden ausschenkt, junge Männer aus der Nachbarschaft.
Auch die Familie Abu Seir hoffe, dass die Touristen, die Pilger bald zurückkehren ins Heilige Land, fügt die junge Frau hinzu. Aber egal, wie lange es bis dahin dauern mag, die Bäckerei soll offen bleiben und den Nachbarn einen warmen, freundlichen Zufluchtsort bieten, mit Tee, Lichterketten und Stollen nach deutschem Rezept. Damit es im christlichen Viertel der Altstadt selbst in düsteren Zeiten nie ganz dunkel wird.