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Anne Frank auf einem monumentalen Porträt des brasilianischen Street-Art-Künstlers Eduardo Kobra in Amsterdams Norden.
© Hollandse Hoogte/Imago

Tagebuch: Sensationsfund zeigt Anne Franks erste literarischen Schritte

Sie selbst hatte die Seiten in ihrem Tagebuch überklebt. Nun hat ein niederländisches Forscherteam darin unbekannte Texte von Anne Frank entdeckt.

Eine fast unübersehbare Schlange von Touristen steht jeden Tag beim „Anne Frank Haus“ an der Prinsengracht in Amsterdam. Sie wollen sehen, wo das berühmte jüdische Mädchen im Juli 1942 mit seiner Familie untertauchte, bis sie im Jahr 1944 verraten wurde. Vor allem wegen eines kleinen Heftes mit rot-weiß-kariertem Umschlag kommen sie: Annes Tagebuch, das wohl bekannteste aus dem zweiten Weltkrieg. Es liegt unter Glas. Jeden Tag wird eine andere Seite gezeigt.

Aber nicht alle. Auf den Seiten 78 und 79 ist eigentlich nichts Interessantes zu sehen. Anne Frank selbst hat Blätter auf den ursprünglichen Text geklebt: einen Eintrag vom 28. September 1942 – drei Monate nach ihrem Einzug ins Hinterhaus. Bisher war nicht bekannt, was sie hinter den nachträglich eingeklebten Seiten verborgen hatte. Ein Team von Experten hat anhand neuer digitaler Fotobearbeitungstechniken diesen Text rekonstruiert und die sensationelle Entdeckung jetzt bekannt gegeben.

Online-Edition des Tagebuchs erscheint 2019

Es war die Stunde von Literaturwissenschaftler Peter de Bruijn. Er leitet seit 2010 ein Forschungsprojekt des Anne Frank Hauses mit dem „Huygens Institut für niederländische Geschichte“. Das Team bereitet eine Online-Edition des berühmten Tagebuches von Anne Frank vor, die 2019 erscheinen soll. De Bruijn nennt die Entdeckung der zwei neuen Seiten „sehr wichtig“ – auch wenn sie inhaltlich keine wirklich neuen Einblicke über Anne oder das Leben im Hinterhaus geben.

So stehen auf der einen Seite einige Witze. Anne hatte zunächst wohl ein paar Sätze geschrieben, diese jedoch wieder durchgestrichen und schließlich den Rest der Seite mit Witzen wie diesem gefüllt: „Ein Mann kommt abends nach Hause und bemerkt, dass ein anderer Mann bei seiner Frau im Bett gewesen ist. Er sucht im ganzen Haus, öffnet den Kleiderschrank und sieht einen nackten Mann. ,Sie werden mir nicht glauben’, sagt der, ,aber ich warte auf die Tram’.“

Solche Passagen sind in Annes Tagebuch keine Überraschung, erzählt de Bruijn. Anne habe auch an anderen Stellen Witze aufgeschrieben, die sie im Radio hörte. Viel interessanter findet er die andere entdeckte Seite. Hier stellt Anne sich einer fiktiven Person vor, die sie nach sexueller Aufklärung fragt. Anne stelle sich dann vor, was sie dieser Person antworten würde.

Sie erfindet sich einen Kreis von Freundinnen

Nicht der Inhalt, sondern die Form ist hier am interessantesten, sagt de Bruijn. „Anne schreibt öfter über Sexualität und über ihren Körper, und zwar sehr offen und unbefangen. Das tut sie hier genauso. Aber die Art und Weise, wie sie das tut, ist ungewöhnlich. Hier sieht man Annes erste literarische Schritte.“ Schon kurz zuvor habe sie in ihrem Tagebuch einen imaginären Kreis von Freundinnen entwickelt, an die sie Briefe schreiben würde. „Sie erfindet einen literarischen Ton, und das erst drei Monate nachdem sie überhaupt angefangen hat zu schreiben.“ In ihrer späteren Texten kondensiere sie die fiktiven Adressaten zu einer Person: Kitty. Laut de Bruijn ist dies der Moment, in dem sie zum ersten Mal die Realität des Hinterhauses verlässt und in einen imaginären Raum eintritt. Das ermögliche ihr, freier über bestimmte Themen zu schreiben.

Anne Frank sei nicht nur das Mädchen, das untertauchte und trotzdem den Krieg nicht überlebte, sagt de Bruijn. „In ihren Tagebüchern kann man Schritt für Schritt ihre literarische Entwicklung verfolgen, von den ersten ganz unbewussten Anfängen an. Das berührt mich.“

Vermutlich hat sie sich für ihre Einträge geschämt

Was viele nicht wissen, sagt de Bruijn, sei, dass es zwei Versionen der Tagebücher gibt: zum einen das Original, das von Anne als Tagebuch angelegt wurde, zum anderen eine Art Romanversion, die sie selbst aus den Tagebüchern heraus verfasste. „Anne Franks Tagebuch, so wie die meisten es kennen, ist eigentlich eine Mischung zwischen diesen originalen Tagebüchern und ihrer späteren Überarbeitung.“

Diese Überarbeitung könnte auch der Grund sein, warum Anne die beiden jetzt entschlüsselten Seiten einst überklebte. „Sie hat sich dafür geschämt, wie sie als 13-Jährige über das Thema geschrieben hat.“ Trotzdem habe er sich entschieden, den Text zu veröffentlichen. „Wenn man darüber recherchiert, wie jemand Schriftsteller wird, sind die durchgestrichenen Sätze genauso wichtig wie die, die stehengeblieben sind.“ Außerdem habe er sich gegenüber der Öffentlichkeit verpflichtet gefühlt. Das Tagebuch sei so bekannt, dass jeder alles darüber wissen solle.

Mit Handschuhen und einer Pinzette aus Holz

Die Seiten des Tagebuchs sind so zerbrechlich geworden, dass de Bruijn sie während der acht Jahre seiner Forschung nicht ein einziges Mal angefasst hat. Die Recherche erfolgte ausschließlich an digitalen Kopien. „Eines Tages bin ich zum Anne Frank Haus gegangen, um sie im Original zu sehen. Eine professionelle Restauratorin hat das Tagebuch für mich durchgeblättert, mit speziellen Handschuhen und einer Pinzette aus Holz. Als sie zu den beiden zugeklebten Seiten kam, habe ich mich vornübergebeugt. Es gelang mir, einzelne Buchstaben zu erkennen. Aber ohne die digitale Technik wäre es nie möglich gewesen, den ganzen Text zu entschlüsseln."

Anne Frank Zentrum Berlin war vorab informiert

"Für uns war die Nachricht eine kleine Sensation, über die uns im Vorfeld das Anne Frank Haus in Amsterdam informiert hat", sagte Patrick Siegele, Direktor des Anne Frank Zentrums in Berlin über die entdeckten Seiten. Fundstücke wie dieses seien ein "großes Glück" für die Mitarbeiter, insbesondere für die Pädagogen und Historiker des Hauses. Anne Frank stehe auch heute noch symbolisch für das Schicksal der sechs Millionen während der Shoah ermordeten Jüdinnen und Juden. Sie erreiche vor allem junge Menschen. "Sie können sich mit Anne Franks Träumen und Wünschen identifizieren und erhalten über ihre Geschichte auch den Zugang zu gegenwärtigen gesellschaftlichen Themen wie Antisemitismus und Diskriminierung."

Das Anne Frank Zentrum Berlin befindet sich in der Rosenthaler Straße 39 in Berlin-Mitte, www.annefrank.de

Wilfred van de Poll

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