Deutschland drumherum (10): Prostitutions-Hölle in Cheb
Tagesspiegel-Autor Helmut Schümann reist durch Tschechien und berichtet auf tagesspiegel.de über seine Erfahrungen. In seinem zehnten Beitrag reist er nach Cheb und erzählt von der Prostitutions-Hölle im tschechischen Grenzgebiet.
Vom lauschigen Kadan bin ich nach Cheb gelaufen, oder Eger, wie hier aber keiner sagt, warum auch? Ich bin erst gelaufen, die Hexe im Kreuz hat längst klein bei gegeben und sich getrollt, dann ein Stück mit dem Regionalzug gefahren, ich wollte die böse böhmische Hexe nicht provozieren. Ich bin aber nur eine Strecke von 1,48 Euro gefahren, wie hier aber keiner sagt, hier zahlt man 37 Kronen.
Nach Cheb bin ich gereist, weil Cheb verrufen ist, ach, verrufen ist viel zu harmlos für den Ruf von Cheb. Cheb ist verschrieen als das Armageddon, als das Jüngste Gericht, nur ohne Fegefeuer, von Cheb aus geht es nicht mehr in die Hölle, Cheb ist in manchen Teilen die Hölle, die letzten Tage der Menschheit. Man kennt die Bilder, ich kenne die Bilder von Horden deutscher Freier, die gleich hinter der Grenze über junge Mädchen herfallen, die sich in Kolonne an den Ausfallstraßen prostituieren. Herr S., der mich schon einmal anschrieb und abmahnte, weil der abfallende Putz in dieser Region nur Ausdruck sei von der Unlust der nach dem Krieg zwangsumgesiedelten Bevölkerung (auch noch in der dritten Generation), hier in Böhmen zu leben, Herr S., der Deutscher ist und seit langem in Tschechien lebt aber meint, dass das alles übertrieben sei und das Problem der Prostitution im tschechischen Grenzgebiet mit dem Bau der Autobahn zwischen Dresden und Prag praktisch nicht mehr existent sei. Wer anderes behaupte, schrieb mir Herr S., wie zum Beispiel die deutsche Organisation KARO, sei Gutmensch, der von deutschen und Eu-Geldern lebe und - „sorry“ - zu faul sei, einer anderen Arbeit nachzugehen.
„Laufen Sie einfach durch die Gassen“, hatte Cathrin Schauer, Gründerin von KARO e. V., am Telefon gesagt, „Sie werden es überall sehen.“ Ich bin an diesem Tag, es war der Montagabend, durch die Gassen gelaufen, ein Stück die Evropa, die Hauptdurchgangsstraße durch Cheb, entlang, rechts und links abgezweigt, und, was soll ich sagen von diesem Spaziergang durch das Innenstadtviertel? Herr S. hat recht. Das Nachtleben von, sagen wir Paderborn, dürfte sündiger und verruchter sein.
Am nächsten Tag treffe ich Cathrin Schauer und Michael Heide, einem weiteren Mitarbeiter von KARO, ein Verein, der sich seit 1994 mit dem Problem der Prostitution im Grenzbereich beschäftigt. Problem, würde möglicherweise Herr S. sagen, welches Problem? Die Mädels machen es doch freiwillig, verdienen gutes Geld und haben wahrscheinlich auch noch Spaß daran. Cathrin Schauer und Michael Heide berichten aus der nun fast zwanzig Jahren Erfahrung von KARO Was jetzt folgt, ist für Kinder und Jugendliche nicht geeignet, aber auch nicht für Erwachsene. Wer zart oder einfühlsam veranlagt ist, sollte den folgenden Abschnitt überspringen.
Schauer und Heide erzählen von Sommercamps, die sie veranstalten und bei denen Kinder zu ihnen kommen, die abends am Lagerfeuer erst stockend, dann Vertrauen fassend, von Dingen erzählen, die man nicht hören will. Von elfjährigen Mädchen, die Körperteile angefasst haben und in sich reinstecken ließen, die nicht in ein elfjähriges Mädchen gehören. Sie gehören in keinen Menschen, auch später nicht, der das nicht will oder es nur macht, weil Geld dafür bezahlt wird, Euro, weil deutsche Freier sich nicht die Mühe machen, ihr Geld erst in Kronen umzutauschen. Lausig wenige Euro.
Es sind auch Mädchen dabei, die die elf Jahre noch nicht erreicht haben. Schauer und Weide berichten von dokumentierten Fällen, in denen Mütter Babys durch Autofenster mit deutschem Kennzeichen gehalten haben. Und sie wieder entgegennahmen nach Vollzug. Von einem kleinen Jungen, der erstmals mit drei Jahren als fröhliches Kind zu ihnen ins Sommercamp kam und mit fünf Jahren den Kot nicht mehr halten konnte. Ein Camaro mit deutschen Kennzeichen fährt nun schon das fünfte Mal um die Ecke, darin ein junge Mann, so oft kann man sich in Cheb nicht verfahren. Möglicherweise sucht er etwas.
Was man nicht sieht, ist nicht.
Schauer und Heide erzählen von Frauen, die etwas über zwanzig sind, zwei Kinder haben, die im Heim leben, und von ihnen seit zehn Jahren irgendwie betreut werden, von Frauen, die nackt und im Wald ausgesetzt wurden und von Frauen, die einfach mal so aus einem fahrenden Auto gestoßen werden. Sie haben so einen Fall vor einigen Wochen erlebt, und als die herbeigerufenen Sanitäter kamen, sagten die nur, dass diese Frau eine stadtbekannte Alkoholikerin sei, und sind weitergefahren.
Sie erzählen von Crystal, der mörderischen Droge, und von Anschlagzahlen. Anschlagzahlen, so haben sie auf einem Freierstammtisch erfahren, den sie ausgerichtet haben, um die andere Seite der Medaille an den Tisch zu bringen, sind Anschlagzahlen. Ein 23-jähriger hat das erläutert, nachdem er sich eins, zwei, drei Viagra eingeschmissen hatte. Ob er das mit 23 Jahren schon brauche, hatte Michael Heide, ein Mann wie ein Baum, ihn gefragt. Nein natürlich nicht, aber er und seine Kumpels hätten eine Wette laufen, zahlen für eine Stunde, und wer die meisten Anschläge hat, hat gewonnen. Die Frau? „Ich hab für eine Stunde bezahlt, also hat sie auch eine Stunde bereit zu sein. Für eine Stunde brauche ich Kondition“, hat der 23-jährige gesagt.
Und am Ende sagten Schauer und Heide, dass dies hier ein rechtsfreier Raum sei, man den aber nicht mehr sehe, nicht wegen der Autobahn zwischen Dresden und Prag, sondern wegen der Möglichkeiten der modernen Technik, die es auch noch den ärmsten der Armen erlaube, sich Internet zu leisten und sich dort und nicht mehr auf der Straße anzubieten.
Was man nicht sieht, ist nicht, Herr S.?
Cathrin Schauer und Michael Heide laden mich in ihr Auto. Auch dieser Absatz ist nicht geeignet für Kinder und Jugendliche und auch nicht für Erwachsene. Wir fahren ein paar Meter raus aus der Stadt, es sind nur wenige hundert Meter. Auf der linken Straßenseite parkt eine Auto in einem Feldweg, etwa zehn Meter vom Straßenrand entfernt, es ist ein Auto mit deutschem Kennzeichen. Auf der Fahrerseite sitzt ein Mann, er hat den linken Arm lässig aus dem Fenster gelehnt. Auf dem Beifahrerseite sitzt niemand, nur taucht im schnelle Rhythmus eine Hinterkopf auf. Ein paar Meter weiter stehen links und rechts der Straße junge Mädchen, vielleicht sind es auch dem Alter nach schon Frauen. Weide hält an, Cathrin Schauer begrüßt die Mädchen, die sind erfreut, nehmen die Kondome entgegen, wechseln ein paar Worte mit ihr, die Bitte um ein Foto mit der Sozialarbeiterin und ihr mit Rückansicht beantwortet sie, in dem sie sich umdreht. Was hat sie schon zu verlieren?
Wir fahren weiter. Zurück durch die Stadt, einen Straßenzug weiter, als mich meine Füße am Vorabend getragen haben. Rechts und links an den Straßenecken stehen Frauen, Mädchen, junge Mädchen, verbrauchte Mädchen, Schauer und Heide kennen sie alle. Die Mädchen grüßen, lächeln dabei. Es sind, auch wenn das jetzt sexistisch klingt, hässliche Mädchen, sehr hässliche Mädchen. Von der Droge entstellte Mädchen. An einer Ecke steht ein schwangeres Mädchen. „Sie müsste nächste Woche niederkommen“, sagt Cathrin Schauer.
Ein paar Meter weiter steht eine junge Frau, verzerrt ist ihr Körper, verzerrt ihr Gesicht. „Da kann ich jetzt nicht halten“, sagt Heide, die Besatzung eines Polizeiautos überprüft zehn Meter hinter dem verzerrtem Mädchen den Anhänger eines Schrotthändlers, „wenn ich dort jetzt halte, bekomme ich ein Strafmandat, da dürfen nur Freier mit deutschem Kennzeichen halten.“ Ein Auto mit deutschem Kennzeichen hält. Das verzerrte, drogenabhängige Mädchen beugt sich durchs Fenster, steigt ein, die Polizei überprüft den Schrotthändler.
Die beiden Sozialarbeiter wollen mir noch etwas zeigen. Sie biegen um die Ecke. Auf der rechten Straßenseite stehen vier. Fünf unbewohnte Häuser. Es gibt keine Türen, keine Fenster. Ruinen. „Hier haben noch im Winter 2012 Menschen gelebt“, sagt Heide. „Solche“, sagt Schauer, „die ihre Babys durch Autofenster mit deutschen Kennzeichen reichen und sie nach Vollzug wieder entgegen nehmen.“
Und wie ist das Verhältnis der Bewohner von Cheb zu den Deutschen ein paar Kilometer weiter westlich. „Als Touristen sind sie willkommen“, sagt Cathrin Schauer. „Es mag eine kühne These sein“, sagt Michael Heide, „aber die Freier der vergangenen zwei Jahrzehnte haben mehr Spuren hinterlassen in dieser Region als die Vergangenheit.“
Auf dem Marktplatz von Eger, oder Cheb, wie man hier sagt, zwei- dreihundert Meter von den Straßen entfernt, in denen ich gerade war, herrscht gute Stimmung. Es ist kühl, aber ein paar Straßencafés haben noch auf. Man spricht deutsch.
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