Zeichen gegen das Geschichtsvergessen: Böhmische Dörfer
Auf seiner Reise in und um Deutschland gelangt Tagesspiegel-Autor Helmut Schümann nach Niederböhmen. Einerseits sträubt man sich hier gegen die Modernisierung, andererseits will man die alten Ortsnamen nicht.
Herr S. hat mich angeschrieben. Er lebt seit Jahren in Tschechien, er ist Deutscher und hält mir vor, ich würde Klischees bedienen, wenn ich abfallenden Putz als Zeichen des Verfalls beschriebe. Sinngemäß schreibt Herr S., dass der Putz sehr wohl in den armen Dörfern Nordböhmens von den Wänden falle, aber vor allen Dingen deshalb, weil sich die per Zwang angesiedelte Bevölkerung dort nicht wohlfühle. Das ist ein interessanter Gedanke.
Die heute in dritter Generation dort lebenden Tschechen erinnern sich demnach sozusagen aus dem präpränatalen Bauch heraus an die Schönheit der Heimat der Großväter, sehen den durchaus vorhandenen landschaftlichen Reiz ihrer Geburtsgegend und der ihrer Väter und Mütter, weswegen sie den Griff zu Spachtel und Pinsel verweigern. Dass die Gegend um Teplice, Krupka, Dubi, das ganze Nordböhmen verfällt, hat also keine politischen, wirtschaftlichen oder soziologischen Gründe, sondern Ursachen in postpräpränatalen Traumata. Manchmal erklärt sich die Welt ganz einfach.
Ein anderer schwieriger Punkt ist die doppelte Namensgebung. Wäre es nicht ein Zeichen gegen das Geschichtsvergessen, wird mir geschrieben, wenn ich auch mal die ursprünglichen Namen der polnischen und tschechischen Orte nennen würde? Damit kein Missverständnis aufkommt: Dass die Vertreibung der Deutschen unrecht war, keine Frage (dem ist indes auch etwas vorausgegangen). Dass die Zwangspolinisierung und -tschechisierung auch kein Ruhmesblatt der Historie war, auch keine Frage. Aber wie passt das zusammen? Einerseits will keiner die Häuser streichen im ungeliebten, ehemaligen deutschen Lande, andererseits will man die geliebten tschechischen Ortsnamen nicht? Mitunter ist die Welt doch nicht so einfach.
Wenn man das weiterdenkt und ich weitergehe, komme ich irgendwann ans Dreiländereck von Aachen. Falls da der Blick auf die Nachbargemeinde meiner Heimatstadt fällt, mal sehen, ob ich deren ersten Namen erwähne: Colonia Claudia Ara Agrippinensium.
Helmut Schümann umrundet derzeit Deutschland – manchmal mit dem Bus, manchmal mit dem Regionalzug, aber meistens zu Fuß. Alle Folgen auf www.tagesspiegel.de
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität