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Präsident Barack Obama will den Angehörigen und den Einwohnern von Newtown nach dem schrecklichen Blutbad an einer Grundschule Beistand leisten. Am Sonntag reiste er in die Kleinstadt zu einer Gedenkfeier.
© dapd

Die Reportage: Newtown nach dem Schulmassaker: Gefangen im Alptraum

Newtown in Connecticut galt als Zufluchtsort für gestresste Städter und wohlhabende Familien. Doch seit dem Amoklauf des Adam Lanza ist nichts mehr wie zuvor. Nun sucht man nach Trost, wo es keine Antworten gibt. Sogar der Reverend des Ortes sagt: „Beten alleine reicht nicht.“ Über eine Kleinstadt in Amerika, die ihre Gewissheiten verloren hat.

Newtown im Dezember. Ein sonniger, aber kalter Morgen. Kahle Bäume recken sich in den blauen Winterhimmel, der Frost schwindet nur langsam. Vor den Kirchen stehen Krippen aus Holz, am Feuerwehrhaus lehnen Dutzende Tannenbäume. Doch niemand holt sie. Die Weihnachtsstimmung ist zerstört, seit am Vortag der 20-jährige Adam Lanza insgesamt 28 Menschen regelrecht exekutiert hat, einschließlich sich selbst.

Ein Dorf erlebt seinen schlimmsten Albtraum. Wie schon Littleton, Colorado, nach dem Columbine-Massaker wird Newtown, Connecticut, nie mehr ein gemütliches Städtchen sein. Wie schon Virginia Tech wird Sandy Hook Elementary nie mehr nur eine Schule sein, sondern für immer ein Symbol für sinnlose Gewalt, für den Waffenwahn der Amerikaner und für eine Tragödie, die schwer in Worte zu fassen ist.

Soweit man heute weiß, und die Ermittler vor Ort setzten erst allmählich das gesamte Bild des Tages aus Puzzlestücken zusammen, begann der Amoklauf von Adam Lanza in der Yogananda Street. Es ist eine gute Adresse. Die obere Mittelschicht wohnt hier in adretten Fertighäusern, die in den USA als McMansions verspottet werden, weil ein Haus dem anderen gleicht wie ein Burger dem nächsten. Massenware mit Pool und gepflegtem Rasen. Mit Schaukel und Rutschbahn im Garten, damit die Kinder nicht auf die Straße rennen. Adam Lanza bewohnte hier mit seiner Mutter ein Haus, das Platz bot.

An diesem ersten Tag nach der Tragödie ist es ruhig in der Nachbarschaft. Man bleibt zu Hause, die Gardinen zugezogen. Len Strocchia scheint das nicht auszuhalten, steht vor seinem Haus, will ein wenig frische Luft schnappen. Seit fünf Jahren lebt er hier, kam mit seiner Familie aus Long Island, um die Ruhe außerhalb New Yorks zu genießen. „Man hat uns mit offenen Armen empfangen und erst einmal eine Tour durch den ganzen Ort gegeben“, sagt er. „Die Schulen gehören zu den besten im Bundesstaat. Deshalb sind wir hierher gekommen.“

Ähnlich geht es Jeannie Pasacreta. Die Psychologin mit eigener Praxis in Newtown ist auf dem Weg zum provisorisch eingerichteten Trauerzentrum in der Turnhalle. Sie will mit Angehörigen reden und sich bemühen, dem Unbegreiflichen seine Düsternis zu nehmen. Dabei hat sie selbst noch lange nicht verarbeitet, was passiert ist. Sie ist vor einigen Jahren aus Philadelphia nach Connecticut gezogen – der Sicherheit wegen. „In Philadelphia waren meine Kinder auf einer Privatschule“, sagt sie, „weil die öffentlichen Schulen zu gefährlich waren.“ Nun wird Mrs Pasacreta von ihrem ältesten Sohn begleitet. Der ging mit Adam Lanza in die Abschlussklasse, hielt ihn für einen Einzelgänger, der fast immer Schwarz trug, keine Freunde hatte. Näher kannte man sich nicht. Lanzas Mutter Nancy haben beide nie erlebt.

Mit ihr hat die Tragödie wohl ihren Anfang genommen. Die Polizei fand Nancy Lanzas Leiche in ihrem Haus, ihr Sohn hatte ihr ins Gesicht geschossen, über das Motiv herrscht weitgehend Unklarheit. Nach neuesten Erkenntnissen der Polizei soll Adam Lanza Tage zuvor vergeblich versucht haben, sich ein Gewehr in einem Geschäft zu besorgen. Er hätte 14 Tage warten und eine Überprüfung seiner Person über sich ergehen lassen müssen. Das wollte er nicht. Ob er es eilig hatte, weil er in einen Streit mit vier Angestellten der Grundschule verwickelt worden war, ist ungeklärt. Aber der junge Mann könnte seine Mutter, eine leidenschaftliche Freizeitschützin und stolze Besitzerin einer ansehnlichen Waffensammlung, getötet haben, um das Haus schwer bewaffnet verlassen zu können.

Ein ehemaliger Klassenkamerad bezeichnet den Mörder Adam Lanza als "Genie".

„Nancy war eine gute Freundin“, sagt Louise Tambascio, die 70-jährige Wirtin im Restaurant My Place. Adam habe sie nur flüchtig gekannt. Er habe an Asperger gelitten, einer Art von Autismus, die normalerweise nicht mit Gewaltbereitschaft verbunden ist. Adam sei „schwierig im Umgang“ gewesen, aber intelligent. Das sagen alle. „Man konnte sofort sehen, dass er ein Genie war“, meint Alex Israel, die mit Adam in dieselbe Klasse ging. Und Marsha Moskowitz, die Adam Lanza jahrelang im Schulbus fuhr, bezeichnet ihn als „nett und sehr höflich“.

Wie ein netter, höflicher Junge plötzlich ausrasten und eines der schlimmsten Massaker in der US-Geschichte anrichten kann, wird Ermittler und Psychologen noch lange beschäftigen. Ein Highschoollehrer von Adam wird in den Medien mit der Bemerkung zitiert, dass der Junge kein Gefühl für Schmerzen gehabt habe. Dass er im Sportunterricht vorsichtiger als andere behandelt werden musste, damit er sich nicht unabsichtlich selbst verletzte, denn er selbst schien das nicht verhindern zu können. Auch soll er, so werden Nachbarn zitiert, zuweilen schwere Phasen gehabt und auf Außenstehende befremdlich gewirkt haben. Wohl deshalb arbeitete die Mutter nicht, sondern kümmerte sich vornehmlich um den jüngeren ihrer zwei Söhne. Ihre Ehe mit Peter Lanza, einem Finanzmanager, war 2008 zu seinem Leidwesen, wie es heißt, geschieden worden.

Zu Lanzas Arsenal gehörte auch ein halb automatisches „Bushmaster“-Sturmgewehr. Mit dem soll er sich Zugang zur Schule verschafft und dann in zwei Klassenräumen 20 Kinder, alle sechs und sieben Jahre alt, regelrecht hingerichtet haben. Polizeichef Paul Vance bemüht sich um professionelle Emotionslosigkeit, als er der Presse erklärt, dass alle Kinder von mehreren Projektilen getroffen wurden. Manche wurden regelrecht zersiebt, mit bis zu elf Kugeln.

Unter den Toten ist Emilie, die sechsjährige Tochter von Robert Parker. Der tritt am Samstag für einen bewegenden Auftritt vor die Kameras. „Meine Tochter wäre die Erste gewesen, die ihre Unterstützung die habe spüren lassen, die sie gebraucht hätten. Denn so ist sie gewesen“, sagt Parker von Verzweiflung gepackt. Es ist der Versuch, dem eigenen Kind gerecht zu werden, indem er dessen Andenken bewahrt, aber auch, es nicht in der nüchternen Opferstatistik untergehen zu lassen.

In Newtown sucht man nach Trost, wo es keine Antworten gibt. Und wie schwer das ist, zeigt sich am Sonntagnachmittag. Die katholische Kirche Saint Rose of Lima hatte seit Freitagnachmittag rund um die Uhr geöffnet, schon am Freitagabend einen Gottesdienst für die Opfer gehalten. Nun, am dritten Advent, war das Haus erneut voll. Doch wenige Stunden vor der Ankunft von Präsident Barack Obama in Newtown muss die Kirche geräumt werden – es hat eine Bedrohung durch einen Anrufer gegeben. Danach läuten unablässig die Kirchenglocken.

Auch die kleine St. John Episcopal Church steht offen, eine von zwei Kirchen im Weiler Sandy Hook. Der steinerne Bau steht hier seit mehr als hundert Jahren, nur ein paar hundert Meter von der Schule entfernt. Jeden Sonntag zählt man nicht mehr als ein Dutzend Gläubige, doch in den Stunden nach dem Amoklauf ist St. John ein Anlaufpunkt. Reverend Mark Moore hat unzähligen Trauernden das Gleiche gesagt: Dass es in der Welt Gut und Böse gibt. Dass man sich als Christ vom Bösen abwenden und dem Guten zuwenden müsse. Dass Gott immer gut ist.

Vor allem ist Gott allgegenwärtig an diesem Wochenende in Newtown. Nicht nur in den Kirchen, sondern auch auf unzähligen Plakaten, die in den vergangenen Stunden entstanden sind. „Gott segne die Opfer“ steht da und „Betet für Newport“. Im religiösen Amerika sind solche Slogans nicht ungewöhnlich, aber auch nicht unbedingt hilfreich. Nach einem Amoklauf zu beten ist eine recht oberflächliche Art, mit der Krise umzugehen. Das gibt auch Reverend Moore zu. „Beten alleine reicht nicht“, sagt der Pfarrer. „Das wäre zu oberflächlich.“ Er hofft, dass sich seine Gemeinde engagiert und tatkräftig hilft.

Etwa so wie J. R. Shine, der Stunden nach der Tragödie „Santas for Sandy Hook“ gegründet hat, einen Unterstützerkreis. Jetzt sitzt er mit einer Gruppe von Highschoolfreunden vor einem Diner in der Ortsmitte, alle haben Nikolausmützen auf und sammeln Spenden für die Opfer. „Wir sind alle hier zur Schule gegangen“, sagt Shine. „Wir waren in Sandy Hook Elementary. Das ist unsere Kindheit. Wir wollten sofort helfen.“

Es kommen auch viele, die vorher noch nie in Sandy Hook waren. Unter ihnen ist Anthony Poscano, ein 26-jähriger Florist aus Oakville. Er hat einen Trauerkranz geflochten mit 20 kleinen, weißen Teddybären – einer für jedes Kind, das bei dem Amoklauf ums Leben kam. „Es hat mir das Herz gebrochen“, sagt Anthony mit zitternder Stimme. Dann lässt er sich von Polizisten zur Schule leiten, um den Kranz abzulegen.

"Wir müssen endlich die Waffengesetze verschärfen"

Auch Barry Stein aus dem Millionärsdorf Greenwich bringt Blumen für die Opfer. Ein schnelles Gedenken reicht ihm nicht. Er will, dass Amerika aus seinen Tragödien endlich lernt. „Wir müssen endlich die Waffengesetze verschärfen“, schimpft er. „Es gibt keinen Grund, warum irgendjemand ein Maschinengewehr besitzen sollte. So ein Gerät hat nur einen Sinn: Massenmord.“ Stein will, dass die Amerikaner aktiv werden, die Waffenlobby aushebeln, ihren Abgeordneten schreiben und neue Gesetze fordern.

Eine persönliche Nachricht habe er für Wayne LaPierre, den Vorsitzenden der amerikanischen Schusswaffenvereinigung NRA, sagt Stein. „Ich will ihn fragen: Was soll ich am Montagmorgen tun, wenn ich meine Kinder in die Schule schicken soll? Ich will mit meinen Kindern nicht Russisch Roulette spielen.“ Erste Äußerungen der NRA nach der Tragödie treiben Menschen wie Barry Stein zur Weißglut. „Die sagen, wenn die Lehrer Waffen gehabt hätten, hätte man das Ganze verhindern können... Noch mehr Waffen? Ist das nicht vollkommen lächerlich?“

Auch Len Strocchia hofft, dass Sandy Hook mehr ist als nur die soundsovielste Katastrophe ohne Folgen. Dass Sandy Hook eine Wende bringt. „Präsident Obama hat strengere Waffengesetze wieder einmal nicht gefordert, sondern nur vage darauf hingedeutet“, ärgert sich Strocchia. „Er muss endlich eine Gesetzesvorlage einbringen.“

In den letzten beiden Jahren hat Amerika eine schockierende Reihe von Schießereien erlebt: das Attentat auf die Abgeordnete Gabby Giffords in Arizona, den Amoklauf in einem Kino in Colorado, den Überfall auf einen Sikh-Tempel in Milwaukee, einen Schusswechsel vor einem Kino in New York City, ein Todesopfer in einer High School in Baltimore, zuletzt Dauerfeuer in einem Einkaufszentrum in Oregon, das nur deshalb vergleichsweise glimpflich ausging, weil die Waffe des Attentäters klemmte.

Und jetzt eben Sandy Hook mit 26 Toten in einer Grundschule. Len Strocchia hofft, dass die Katastrophe endlich die Politik erreicht. Allzu laut will er das aber nicht sagen. „Politik ist ein sehr heikles Thema“, sagt er keine vier Wochen nach der Präsidentschaftswahl. „Die Gegend hier ist gut gemischt, halb republikanisch, halb demokratisch – und man will es sich ja nicht mit dem Nachbarn verderben.“

So bleibt der Streit um die Waffengesetze vor allem ein Thema der Medien. Die diskutieren auf allen Kanälen, schalten dazwischen immer wieder in den sonst so beschaulichen Ort. Der erlebt einen Verkehrsinfarkt. Autos quälen sich langsam durch den kleinen Ortskern, dessen Läden hinter den Übertragungswagen kaum zu sehen. Zwischen "The Toy Tree" und der Karateschule beamt ein Wagen von American Satellite Uplink die Reportagen aus Sandy Hook in die ganze Welt. NBC hat sich vor der „Sandy Hook Hair Co.“ eingerichtet, dem lokalen Friseur. Wer nicht auf die Hauptstraße passt steht auf dem Parkplatz der Methodisten. CNN hat sich hier samt Wohnmobil eingerichtet. Man stellt sich auf mehrere Tage in Newtown ein, auf weitere Details aus den Ermittlungen, den Besuch von Barack Obama, die Beerdigungen von zwanzig kleinen Kindern, die kein Weihnachten mehr erleben.

Und auf den ein oder anderen Hoffnungsstrahl, den man auch gerne sendet. Denn Amerika lässt sich auch in düsteren Zeiten nicht unterkriegen. Reverend Moore erklärt in der Kirche St. John, dass Weihnachten für ihn nicht ausfällt, sondern intensiver wird, weil Weihnachten für den Eintritt des Guten in eine böse Welt steht. Und andere sagen, dass Newtown die Tragödie überstehen wird. „Wir werden wohl nie vergessen was hier passiert ist“, sagen Passanten. „Aber wir werden die Krise überwinden und die Gemeinschaft wird vielleicht sogar näher zusammenwachsen.“

Lars Halter

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